245 die Baugeschichte des großen Tempels von Karnak ein deutliches Bild. Er war von dem Könige Usertesen I. (12. Dynastie)
um 2100 v. Chr. vermutlich an der Stelle eines ältern Tempels für den thebanischen Lokalgott Ammon
[* 3] gegründet worden. Er hatte
nur kleine Dimensionen, Säle aus Kalk- und Sandstein und granitne Thüren; Pfeiler mit sechs glatten
Flächen schmückten sein Inneres. Nachdem noch einzelne Könige der 12. Dynastie an dem Gebäude hatten arbeiten lassen, blieb
es bis zum Beginn der 18. Dynastie in dem alten einfachen Zustande. Da ließ Thutmosis I. vor dem Tempel
[* 4] mehrere neue Räume
anlegen (Kammern, einen Hof,
[* 5] Kapellen und drei Pylonen); jeder seiner Nachfolger ahmte sein Beispiel nach,
so daß der Tempel schon um das Ende der 18. Dynastie alle bis dahin in Ägypten
[* 6] ausgeführten Bauten an Umfang weit übertraf.
Doch die Herrscher der 19. Dynastie gingen noch weiter. Sie erbauten einen Säulensaal und einen Pylonen in noch nie
dagewesenen Größenverhältnissen. Der Säulensaal hatte eine Länge von 50 m bei einer Breite
[* 7] von 100 m, und bestand aus
einem mit 12,23 m hohen Säulen
[* 8] geschmückten Mittelgange und zwei niedrigern Seitenräumen, deren Dach
[* 9] von 122 Säulen getragen
wurde. Zur Anlage eines Hofs und Pylonen, die das Gesamtgebäude abschlössen, kamen die Pharaonen der 19. Dynastie
nicht mehr.
Sie wurden erst mehrere Jahrhunderte später von den Herrschern der 22. Dynastie vollendet. Neue Anbauten wurden noch von
dem Äthiopen Tirhaka und den Ptolemäern in Angriff genommen, aber nicht mehr zum Abschluß gebracht. Im J. 27 wurde ein Teil
des Tempels durch Erdbeben
[* 10] zerstört und das Riesenbauwerk blieb für immer unvollendet. – Unter den
Tempelbauten des neuen Reichs nehmen nächst dem großen Tempel von Karnak die Prachtgebäude von Abydos, Luksor, Gurna und Medinet-Habu,
sowie die Felsenbauten von Abu Simbel (s. Tafel: Ägyptische Kunst II,
[* 2]
Fig. 8), Sebua und Derr die ersten Stellen ein.
Einfach im Grundrisse und deshalb ein gutes Beispiel für die ägypt. Tempelanlagen überhaupt ist das
Heiligtum, das die Könige der 20. Dynastie südlich von Karnak dem GotteChons erbaut haben (s. Tafel: Ägyptische Kunst II,
[* 2]
Fig. 6, 7). Durch ein zwischen zwei Pylonen gelegenes Hauptthor kam man in einen von einer
doppelten Säulenreihe eingefaßten Hof und von diesem durch eine Pforte in einen dreischiffigen Säulensaal. Hinter diesem
liegt das eigentliche «Gotteshaus».
Seinen Mittelpunkt bildet das Allerheiligste, das von rechteckiger Form, an den beiden Schmalseiten offen und von dem übrigen
Gebäude durch einen 3 m breiten Gang
[* 11] getrennt ist; rechts und links von ihm liegen dunkle Gemächer, hinter
ihm eine kleine von vier Säulen getragene Halle,
[* 12] in die sieben andere Zimmer münden. Die Tempel der Ptolemäerzeit weichen
in der Anlage nur wenig von den ältern ab. Hierher gehören u.a. der Tempel von Edfu (s. Tafel: Ägyptische Kunst I,
[* 2]
Fig. 3)
und Dendera, mit den auch sonst vorkommenden Säulen, deren Kapital mit dem Kopf der Göttin Hathor
[* 13] verziert
ist (s. Tafel: Ägyptische Kunst II,
[* 2]
Fig. 3), sowie die malerische Tempelanlage auf der InselPhilä (s. Tafel: Ägyptische Kunst
I,
[* 2]
Fig. 2). Auch im Profanbau (Paläste, Festungsanlagen) hat sich die ägypt. Baukunst
[* 14] bewährt.
Skulptur und Malerei. Die uns aus ägypt. Tempeln und Gräbern erhalten gebliebenen Statuen und Reliefs
waren fast sämtlich bemalt. Nur von Natur gefärbte Steine,
wie Granit, Basalt, Diorit, Serpentin, scheinen bisweilen dem Gesetze
der Polychromie nicht unterworfen gewesen zu sein; dagegen wurden Sandstein, Kalkstein und Holz
[* 15] ausnahmslos farbig behandelt,
und wenn man einmal unbemalten Denkmälern aus diesem Material begegnet, so ist entweder durch Zufall
bei ihnen die Farbe verloren gegangen oder die betreffenden Arbeiten sind unvollendet geblieben. Im allgemeinen sind in Ä.
Bildhauer und Maler ohne einander kaum denkbar.
Die Anfänge der ägypt. Bildhauerei und Zeichenkunst
[* 16] fallen in die vorhistor. Zeit.
In ihr hat sich auch jene eigentümliche Art der Zeichnung entwickelt, die durch alle Zeit hindurch, mit wenigen Ausnahmen,
sich erhalten hat und das an Perspektive gewöhnte Auge
[* 17] bei den ägypt. Reliefs und Malereien so sehr befremdet. Man zeichnet
nämlich die Füße und Beine von der Seite, Brust, Schultern und Hände aber von vorn; den Kopf wiederum
von der Seite, das Auge hingegen von vorn.
Die früher viel vertretene Annahme, daß die Zeichnung des menschlichen Körpers nach bestimmten Proportionsgesetzen, den
sog. Kanones der Proportionen, denen als Einheit der menschliche Fuß zu Grunde lag, vor sich gehen mußte, läßt sich auf
Grund der uns überkommenen Werke nicht erweisen und muß als unhaltbar aufgegeben werden. Die Blütezeit der ägypt.
Skulptur (Rundbildwerke und Reliefs) fällt in das alte Reich und zwar in die fünfte Dynastie. Aus vorhistor.
Zeit ist uns an Statuen nichts erhalten. Vielleicht gehört in diese Epoche der kolossale Sphinx
[* 18] von Giseh
(s. Tafel: Ägyptische Kunst I,
[* 2]
Fig. 1), der bereits zur Zeit des Cheops existiert hat. Er ist aus dem
lebendigen Felsen gehauen und zeigt trotz seiner gegenwärtigen Verstümmelung einen gewaltigen Ausdruck von Kraft
[* 19] und Größe.
Es müssen schon viele Jahrhunderte vergangen sein, bis die Kunst zu diesem Grade von Reife und Vollkommenheit
gelangt ist. Das Hauptgewicht wird im alten Reiche bei den Statuen auf die Wiedergabe des Gesichts gelegt.
Der übrige Körper wird meist konventionell behandelt. Unter den Meisterwerken aus dieser Blüteepoche sind die bekanntesten:
die Statue des auf dem Boden hockenden Schreibers im Louvre und die stehende Statue des sog. Dorfschulzen
(Schech el-Beled) in dem ägypt. Museum in Giseh bei Kairo.
[* 20] (S. Tafel: Ägyptische Kunst III,
[* 2]
Fig. 1.) Die Skulptur des mittlern
Reichs schließt sich eng an die des alten Reichs sowohl in der Behandlung des Materials als auch in Zeichnung und Komposition
an. Doch halten die meisten Werke dieser Epoche einen Vergleich mit den Meisterwerken der frühern Zeit
nicht aus. Zu den bessern Arbeiten dieser Zeit zählt die
[* 2]
Figur eines priesterlichen Beamten, Namens Tetu, im Berliner
[* 21] Museum
(ihr Kopf ist auf Tafel: Ägyptische Kunst II,
[* 2]
Fig. 5 abgebildet), und die sitzende Statuetteeines Mannes, die sich ebenda
befindet (s. Tafel: Ägyptische Kunst II,
[* 2]
Fig. 9). In eine etwas spätere Zeit (13. Dynastie) gehört der schöne
Sphinx aus Rosengranit im Louvre, der aus Tanis stammt (s. Tafel: Ägyptische Kunst III,
[* 2]
Fig. 7). Das neueReich, aus dem uns die
meisten ägypt. Skulpturen, die zum großen Teil dekorativen Zwecken gedient haben, erhalten sind, bedeutet
einen Rückschritt in der Kunst, obgleich es auch in dieser Zeit nicht an hervorragenden Werten fehlt. Gewöhnlich haben
die Künstler auf eine genaue Wiedergabe des Porträts
¶
mehr
ver-246 zichtet und ihre Hauptkraft auf die Darstellung des Kostüms, der Haartracht, des Schmuckes und der weiten, faltigen
Gewänder, die in jener Zeit Mode sind, verwendet. (S. Tafel: Ägyptische Kunst III,
[* 22]
Fig. 17 und auch
[* 22]
Fig. 8, wo auf dem Sargdeckel
der Verstorbene in der Tracht seiner Zeit abgebildet ist.) Nach der 20. Dynastie verfiel die Kunst noch
mehr, bis sie gegen das Ende der äthiop. Dynastie wieder belebt wurde und in der scyth. Periode, in der man wieder auf die
Vorbilder des alten Reichs zurückgriff, eine kräftige Nachblüte feierte.
In den Anfang dieser Periode gehört die in Giseh befindliche Statue der Königin Amenerdas (s. Tafel: Ägyptische Kunst
III,
[* 22]
Fig. 5); in das 4. bis 3. Jahrh. v. Chr. der lebenswahr gehaltene Porträtkopf eines Mannes im Berliner Museum (s. Tafel:
Ägyptische Kunst II,
[* 22]
Fig. 4). Auch für die ägypt. Reliefdarstellungen
fällt die Blüte
[* 23] in das alte Reich, in dem die Künstler namentlich bei der Darstellung der Tiere durch
die richtige Beobachtung der Natur und die Frische der Auffassung Bewundernswertes geleistet haben. – Die Malerei hat sich
nur selten von der Skulptur getrennt. Wo dies geschehen, ist wohl lediglich der Kostenpunkt die Veranlassung gewesen, daß
man sich statt des teuern Reliefs mit der billigern, auf einen Bewurf von Nilschlamm aufgetragenen Malerei
begnügt hat.
In der Zeichnung zeigt die Malerei dieselben Eigentümlichkeiten bei der Wiedergabe des menschlichen Körpers wie das Relief.
(S. Tafel: Altägyptische Malerei; die
[* 22]
Figur links auf dem einem Grabe der 20. Dynastie entstammenden, jetzt im Berliner Museum
befindlichen Stuckbilde ist die Königin Nefretere, die rechts ihr Gemahl Amenophis I.; beide wurden in
späterer Zeit als Ahnen der Könige des neuen Reichs verehrt; zu beiden Seiten Ornamente,
[* 24] gleichfalls aus den Gräbern des
neuen Reichs.) Die Zahl der Farben, über die die ägypt. Maler verfügten, ist ziemlich groß; wir besitzen Paletten aus
der Zeit des neuen Reichs, in denen 14–16 verschiedene Farben vertreten sind.
Die erforderlichen Stoffe lieferte meist die Erde; so bereitete man Weiß aus Gips,
[* 25] der mit Eiweiß oder Honig gemischt wurde,
Gelb aus Ocker oder Schwefelarsenik, Rot aus Ocker oder Zinnober,
[* 26] Blau aus zerriebenem Lapislazuli oder Kupfervitriol, schwarz
aus zerstampften verkohlten Tierknochen. Die Farben wurden in Säckchen aufbewahrt und mit Wasser angelegt,
das mit etwas Tragantgummi versetzt war. Zum Auftragen bediente man sich eines Rohrstengels oder eines mehr oder weniger starken
Haarpinsels.
3) Kunstgewerbe. Nicht minder bewundernswert und großartig, wenn auch weniger allgemein anerkannt sind die Leistungen
der alten Ägypter auf dem Gebiete des Kunsthandwerks. Schon frühzeitig hat der Geschmack am Schönen
und die Liebe zum Luxus alle Gesellschaftsschichten durchdrungen. Der Ägypter liebte es, sowohl in seinem irdischen als
auch in seinem «ewigen» Hause wertvolle Amulette und Kleinodien, sorgfältig gearbeitete Möbel
[* 27] und zierliche Geräte um sich
zu haben.
Was man auch benutzte, sollte, wenn auch nicht aus kostbarem Material, so doch in reinen Formen gearbeitet
sein. Wo man auch ägypt. Gebrauchsgegenständen begegnet, überall muß man den fein ausgeprägten
Geschmack in der Form und Ornamentik bewundern. Die Formen und Ornamente sind entweder der Architektur entlehnt, z. B. Griffe
in Säulenform, Kasten in Gestalt von Tempelfaçaden, oder, wie in der Töpferei, Flechterei und Weberei,
[* 28]
der Technik selbst entsprungen.
Häufig hat das Kunstgewerbe Nachbildungen von Pflanzen und Tieren, und zwar fast immer der für den besondern Zweck geeignetsten
verwendet, indem man entweder dem Gegenstande selbst die Form von Tieren, Pflanzen u. s. w. gab, oder sie
mit Darstellungen aus dem Naturleben verzierte. Es giebt Schälchen in Form von Enten,
[* 29] Gazellen oder Fischen; runde Teller sind
mit Fischen und Lotosblumen verziert; ein Becher
[* 30] aus Fayence
[* 31] zeigt Sumpfvögel und ihr Nest in einem Dickicht, ein Löffelgriff
eine nackte Frau, die Guitarre spielt, an andern Gegenständen befinden sich Elfenbeinarbeiten (s. Tafel:
Ägyptische Kunst III,
[* 22]
Fig. 2–4, 6, 10–16). –
Vgl. Perrot und Chipiez, Geschichte der Kunst im Altertum.
Ä. (deutsch
von Pietschmann, Lpz. 1884); Maspero, Archéologie égyptienne (Par.
1887: deutsch: «Ägypt. Kunstgeschichte», von Steindorff, Lpz. 1889); Catalogue des monuments etinscriptions de l'Égypte antique (Bd. 1, Wien
[* 32] 1893).
4)Schrift. Litteratur. Wissenschaft. Eine vollständig ausgebildete Schrift findet sich schon auf den ältesten erhaltenen
Monumenten, und mit Sicherheit darf man der TraditionGlauben schenken, daß die Schrift schon unter der Regierung des Menes,
also im Beginn histor. Zeit, im Gebrauche war. Über das Schriftsystem s. Hieroglyphen. Die hohe Ausbildung
aller Kulturzweige und Künste, wie sie sich schon in der dritten und vierten Dynastie kundgiebt, berechtigt auch zu der
Annahme, daß sich schon in den ersten Dynastien die Anfänge einer mannigfaltigen Litteratur gebildet hatten, die sich
bald vermehrte und zu Tempelarchiven und Bibliotheken führte.
Über solche Aufzeichnungen sind aber die Ägypter wohl schwerlich hinausgekommen. Ihre chronol. Berechnungen
beruhten auf gewissen astron. Kenntnissen, die sie sich schon frühzeitig angeeignet hatten. Den Ägyptern kam in dieser
Beziehung die Natur selber entgegen. Der wolkenlose Himmel
[* 33] erleichterte die Beobachtung der Gestirne, und das regelmäßige
Eintreten der Nilschwelle gab ihnen den natürlichen Anfang eines festen Jahres. Im Anfang ihrer Geschichte
fiel hiermit ein anderes Phänomen zusammen, der heliakische Aufgang des hellsten Fixsterns Sirius, von den Ägyptern Sothis
genannt.
Dieser Frühaufgang des Sirius trat während des ganzen Zeitraums der ägypt. Geschichte jedes Jahr fast genau
nach 365¼ Tagen wieder ein und gab ihnen daher ein mit dem Julianischen identisches, astronomisch festes
Sternenjahr, nach welchem sie ihr bürgerliches Jahr von 365 Tagen durch die vierjährige Einschaltung eines Tags bequem und
genau regulieren konnten, da sich beide Kalender alle vier Jahre um einen Tag verschoben und nach einer Sothisperiode von 4mal 365 = 1460 Julianischen
oder 1461 ägypt. Civiljahren wieder zu dem gemeinschaftlichen Anfange
zurückkehrten.
Der erste Tag des etwas kürzern wahren tropischen Sonnenjahres und der durchschnittliche Anfang des davon abhängigen Nilschwellens
hatten sich während dieser langen Periode nur um 11 Tage verschoben. Die Ägypter waren es auch, welche den Fixsternhimmel
zuerst in Sterngruppen zerlegten und diese mit Namen von Sternbildern belegten. Sie teilten den Himmelsäquator
in 36 Dekane oder 360 Grade und verzeichneten die allnächtlichen Aufgänge zu jeder der 12 Nachtstunden von 14 zu 14 Tagen das
ganze Jahr hindurch. Mehrere Exemplare solcher Sterntafeln sind noch erhalten. Auch in der Geometrie
¶
mehr
247 hatten sie frühzeitig exakte Kenntnisse, mit deren Hilfe Eratosthenes später seine großen Erdmessungen unternahm. Die
Feldmessung nahm ihren Anfang in Ä., veranlaßt durch die jährlichen Überschwemmungen des Nils, welche die Grenzen
[* 35] der Ländereien
veränderten und verwischten. Eine besondere Pflege haben die Ägypter der Medizin gewidmet und in ihr wohl
auch große praktische Erfolge erzielt, obwohl ihre anatom. Kenntnisse, soweit man sehen kann,
gering waren und sie sich bei der Anwendung der Rezepte nie von dem Aberglauben und dem damit verbundenen Beschwörungswesen
frei gemacht haben. Uns sind mehrere ägyptische mediz. Bücher überkommen; das bekannteste ist das große auf Papyrus geschriebene
Rezeptbuch, das den Namen von Georg Ebers trägt und auch von diesem herausgegeben worden ist. Eine von Joachim besorgte Übersetzung
dieses Papyrus (Berl. 1891) bedarf durchweg der Verbesserung.
Die Ägypter hatten nach der spätern griech. Tradition einen heiligen Codex von 42 heiligen Büchern, die von dem Gott Hermes
[* 36] (d. i. Thoth)
[* 37] selbst herrühren sollten, in welchen alle den Priestern obliegenden Pflichten in Bezug auf
Wissen und Handeln enthalten waren (s. Hermes Trismegistus). Zu der wissenschaftlichen und religiösen kam noch eine ziemlich
umfangreiche prosaische und poet. Profanlitteratur. Ihr gehören die zahlreichen Märchen an, für die die alten Ägypter
ebenso wie ihre modernen Nachkommen eine besondere Vorliebe gehabt haben. (Vgl. Maspero, Les contes populairesde l'Égypte ancienne traduits et commentés, 2. Aufl., Par. 1889.) Von
Heldengedichten ist uns nur eins überkommen, und mehr scheint die ägypt. Litteratur auch
nicht besessen zu haben. Es behandelt die große Schlacht, die Ramses II. den Hethitern bei Kadesch geliefert
hat.
Sein Verfasser ist unbekannt; man hat fälschlich einen gewissen Pentaur (Pentewéret) für den Dichter gehalten; von diesem
rührt aber nur die in einem Schulheft erhaltene Abschrift des Gedichtes her. Von der poet. Litteratur der Ägypter sind noch
Volkslieder, Liebes- und Trinklieder hervorzuheben. Die Form der ägypt.
Gedichte beruht auf dem Parallelismus der Glieder,
[* 38] der auch in der hebr. Poesie vorherrscht. Gelegentlich kommen Ailitterationen
vor; Reime sind dagegen nicht nachweisbar.
Neuere und neueste Geschichte. Bei der Teilung des RömischenReichs 395 n. Chr. fiel Ä. dem Oströmischen oder ByzantinischenReiche zu, dessen Verfall es teilte, bis zur Zeit des Kaisers Heraklius 638 die Araber unter Amru, dem Feldherrn
des Chalifen Omar, das Land eroberten. Die in die Parteien der Kopten
[* 39] oder Jakobiten und der Griechen oder Melchiten gespaltene
Bevölkerung
[* 40] setzte den Eindringlingen kaum Widerstand entgegen. Das Christentum mußte vor dem Islam weichen.
Memphis ebenso wie Alexandria, das bis dahin Sitz der Gelehrsamkeit und Mittelpunkt des Handels gewesen,
wurden erobert. Die Verwaltung des Landes blieb, wie sie zur Römerzeit gewesen war; nur wechselten zum Schaden des Landes die
Statthalter während der etwa 100jährigen Herrschaft der Omajjaden häufig. Unter den Abbasiden gelang es dem StatthalterAchmed
ibn Tulun 868, sich von der Oberherrschaft der Chalifen zu befreien und in Ä. die selbständige Dynastie
der Tuluniden zu gründen.
Als 904 Tuluns Nachkommenschaft erlosch, gründete nach kurzer Zwischenregierung des Chalifen von Bagdad 934 ein Emporkömmling,
Achschid, eine neue Dynastie, der
969 Dschauhar, der Feldherr des ChalifenAl Muizzli din Allah, ein Ende
machte. Letzterer, aus dem Geschlecht der Fatimiden stammend, gründete 970 Kairo und machte es zur Hauptstadt. Der letzte
der Fatimiden, Addad, der den Kreuzfahrern unter Guido von Lusignan eine Million Zechinen zahlen mußte, bat Nureddin, den
mächtigen Herrscher von Aleppo in Syrien, um Beistand.
Unter der zu Hilfe gesandten Armee befand sich Salaheddin oder Saladin, ein Kurde von Geburt, der den kranken
Chalifen Addad 1171 ermordete und Ä. in Besitz nahm. Saladin erklärte sich für unabhängig, gründete (als Sohn Ejjubs) die
Dynastie der Ejiubiden und stellte in Ä. die Glaubenseinheit wieder her. Darauf entriß Saladin den Kreuzfahrern ihre wichtigsten
Besitzungen in Syrien und vereinigte das Land sowie einen TeilMesopotamiens und Arabiens mit seiner Krone.
Nach SaladinsTode 1193 teilten seine drei Söhne das Reich. Einer der Ejiubiden bildete 1230 aus Mingreliern und Abchasen (also
Kaukasiern) eine Miliz, die unter dem Namen der Mamluken (s. d.) für Ä. verhängnisvoll wurde.
Unter der Regierung des El-Melikessalih Ejjub landete Ludwig IX. von Frankreich 1249 an der Nilmündung mit 40000 Kriegern,
eroberte Damiette, wurde aber mit 20000 Christen gefangen und längere Zeit in Mansurah in Haft gehalten. Mit dem Ejjubiden
Turan Schah, der 1250 von dem Anführer der Mamluken ermordet ward, erlosch die Dynastie der Ejjubiden.
Darauf begann die Herrschaft der Mamluken unter selbstgewählten Sultanen, von denen 47 an Zahl in 263 Jahren folgten. In
dieser Zeit litt das Land wiederholt durch Pest und Hungersnot; doch blieb es im BesitzeSyriens. Selim I., Sultan der Osmanen,
der bei Aleppo ein Mamlukenheer vernichtet und Syriens sich bemächtigt hatte, schlug unweit Kairo im Jan. 1517 ein
zweites Heer der Mamluken und machte Ä. zu einer türk. Provinz. Selim übergab die Verwaltung der ägypt. Länder 24 Beis, die
in dem zu Kairo residierenden Scheich el-Beled ihren Vorgesetzten hatten.
Diese Beis erhielten ihre direkten Befehle von einem Regentschaftsrate, der ursprünglich aus den sieben
Chefs der sieben Armeekorps bestand. Dieser Diwan besaß die eigentliche Macht, während der von Konstantinnopel gesandte Pascha
nur ein beaufsichtigendes Mittelglied zwischen beiden Gewalten war und vor allem darüber zu wachen hatte, daß der Tribut
richtig einging. In solcher Stellung konnte kein Pascha zum Usurpator werden. Die Mamluken verstanden indes
sich in ihren Provinzen zu fast souveränen Herren zu machen und den Pascha in Abhängigkeit von sich zu bringen.
Der berühmteste derselben, Ali Bei, empörte sich 1771 gegen die Pforte, schlug sowohl seine Nebenbuhler wie auch die türk.
Truppen und ließ sich durch den Scherif von Mekka zum Großsultan von Ä. und Beherrscher beider Meere
ernennen, ward aber 1773 von seinem General und Günstling AbuDahab ermordet, der sich von der Türkei
[* 41] als Pascha von Ä. bestätigen
ließ. Nach ihm bemächtigten sich Ibrahim Bei und Murad Bei der Herrschaft; jener übernahm die innere Verwaltung,
dieser die Armee; das Recht der schwachen Pforte ward nur nominell durch einen Pascha gewahrt. So kam die Mamlukenherrschaft
wieder auf, die das Volk und die Fremden zugleich bedrückte. Der franz. Konsul Magallon zu Kairo wandte sich bereits 1795 mit
Beschwerden an die Direktorialregierung der Republik, und dieser Schritt scheint zuerst in Frankreich¶
mehr
248 den Gedanken an die Eroberung Ä.s erweckt zu haben, den dann GeneralBonaparte 1798 zur Ausführung brachte. (S. Ägyptische Expedition der Franzosen.)
Nach der Kapitulation der Franzosen im Aug. 1801 suchten unter dem Schutze der Engländer die Mamluken oder Beis, wie sie jetzt
genannt wurden, ihre alte Herrschaft wieder geltend zu machen, aber die Pforte wußte dies durch ihre
Militärmacht zu verhindern. Nach der Ermordung des türk. StatthaltersAli Pascha durch die Beis trat 1804 Khosrew Pascha an
dessen Stelle, wurde aber durch Mehemed Ali (s. d.), damals Befehlshaber eines Albanesenkorps zu Kairo, verdrängt. Dieser hatte
sich Einfluß und Ansehen bei der Bevölkerung verschafft, und die Pforte erhob ihn 1806 zum Pascha und
Statthalter von Ä. Damit begann für das Land eine neue Epoche. Um der Unbotmäßigkeit der Mamlukenbeis ein Ende zu
machen, ließ Mehemed Ali dieselben nach Kairo locken und daselbst verräterischerweise durch seine Albanesen großenteils
niedermetzeln.
Der Pascha ward so unbeschränkter Herr des Landes. Die völlige Niederwerfung der in Arabien immer mächtiger auftretenden
Wahhâbiten (s. d.) gelang seinem Sohne Ibrahim Pascha erst nach mehrjährigen Anstrengungen. Während hierdurch ein TeilArabiens
in seine Gewalt fiel, unterwarf sich Mehemed Ali 1820–22 auch die Länder am obern Nil, Nubien, Sennar,
Kordofan. Um dort seine Herrschaft zu befestigen und sich bei günstiger Gelegenheit von der Pforte unabhängig machen zu können,
schuf er nach europ. Muster eine eigene ägypt. Kriegsmacht, der eine ansehnliche Flotte zur Seite trat. Um
die Mittel für diese gewaltige Machtentfaltung zu gewinnen, förderte der Pascha die materielle Kultur
des Landes durch Maßregeln europ. Civilisation, verfolgte aber zugleich gegen seine Unterthanen das rücksichtsloseste Aussaugungs-
und Bedrückungssystem.
Schon bald nach der Ausrottung der Mamluken hatte er das Grundeigentum sämtlicher Moscheen und frommen Stiftungen (Wakuf) sowie
die Besitzungen sämtlicher Erbpächter oder Multezims eingezogen. Auch brachte er den größern Teil des
Grundes und Bodens in seinen Privatbesitz. (S. oben Landwirtschaft.) Während er Landstraßen anlegte und andere große Bauten
ausführte, und die öffentliche Sicherheit außerordentlich erhöhte, schadete er zugleich durch seine monopolistischen
Maßregeln dem Handel mit Arabien und Ostindien.
[* 43]
Die Lehranstalten, die er durch Ausländer gründete, und die Sendung junger Ägypter zur Ausbildung nach
Europa
[* 44] brachten dem Lande ebensowenig Gewinn, wie die Ausarbeitung eines Civilgesetzbuchs nach franz. Muster, die neue Einteilung desLandes, die Einführung von Provinzial- und Centralversammlungen; alles dies diente vorzugsweise zur Durchführung despotischer
Zwecke oder war auf Täuschung des Auslandes berechnet und kam zumeist nur den franz. Projektmachern, die
den Pascha umschwärmten, zu gute.
Im J. 1824 von der Pforte aufgefordert, sich an der Unterwerfung des aufständischen Griechenland
[* 45] zu beteiligen, sandte Mehemed Ali
seinen Sohn Ibrahim mit bedeutender Macht dorthin ab. Nach Beendigung des Kampfes durch die Vernichtung der türk.
Flotte in der Schlacht von Navarin erhielt der Pascha für seine Dienste
[* 46] die Verwaltung der InselKreta;
nichtsdestoweniger versuchte er der PforteSyrien zu entreißen. Zu diesem Zwecke rückte im Dez. 1831 Ibrahim mit 60000 Ägyptern
in Syrien ein, nahm Akka mit Sturm, schlug
wiederholt das türk. Heer und bemächtigte sich in kurzem der ganzen Provinz.
Infolge der Intervention der Mächte sah er sich jedoch zum Frieden von Kutahia genötigt,
durch den er die Statthalterschaft von Syrien erhielt. Der Sultan, den nur die Not des Augenblicks vermocht hatte in dies Abkommen
zu willigen, griff nach schleunig betriebenen Rüstungen
[* 47] von neuem zu den Waffen, um den verhaßten Vasallen
zu demütigen. Jedoch indessen wurde seine Armee bei Nissib geschlagen und drei Wochen später ging auch seine
Flotte zum Feinde über.
Jetzt schien Mehemed Ali am Ziele seiner Bestrebungen; als England, Rußland, Preußen
[* 48] und Österreich
[* 49] sich zum Schutz
der Pforte verbanden. Die dem Pascha günstige Politik Frankreichs bedrohte Europa mit einem allgemeinen
Kriege, ließ aber, als ein Geschwader der Verbündeten die syr. Küste angriff, den Pascha im Stich, welcher nunmehr seine Truppen
aus Syrien zurückzog und sich dem Sultan unterwarf. Durch einen von den fünf Großmächten garantierten Hatt-i-Scherif vom
der durch Fennan vom zu Gunsten des Paschas modifiziert wurde, ward das Verhältnis des Lehnsstaates
Ä. zur Pforte neu geregelt. Hiernach sollte den männlichen Nachkommen MehemedAlis nach dem Rechte der Erstgeburt die erbliche
Herrschaft über Ä. und die Besitzungen am obern Nil verbleiben. Die Grundgesetze des türk. Reichs sowie
die Verträge der Pforte mit auswärtigen Mächten sollten auch für Ä. ihre Geltung haben, die Verwaltungsgesetze des Landes
sich denen des übrigen Reichs anschließen und das ägypt. Heer auf 18000 Mann herabgesetzt werden.
Von nun an richtete sich die SorgeMehemedAlis einzig auf die Hebung der innern Hilfsquellen des durch die
Kriegsleistungen zerrütteten Landes, um die Mittel für künftige Unternehmungen zu gewinnen. Nur mit Widerwillen verstand
er sich auf Drängen der Pforte 1842 zur Aufhebung des Monopolsystems und zur Herabsetzung der Ausfuhrzölle. Um die Mittel
zur Entwicklung der Bodenproduktion und der Steuerfähigkeit des Landes zu beraten, versammelte er den
schon 1829 geschaffenen und aus den Beamten der Provinzen, Bezirke und Gemeinden zusammengesetzten Centralrat, den er aber sofort
wieder entließ.
Aufgebracht über die elenden Zustände, zog er sich von der Regierung zurück, nahm jedoch im Sommer 1844 die Staatsleitung
wieder auf und beschäftigte sich mit Anlegung eines großen Nildammes und mit Plänen zur Durchstechung
des Isthmus von Sues. Indes verfiel der ruhelose Greis allmählich in Geisteszerrüttung; er starb nachdem er noch
durchgesetzt hatte, daß die Pforte im Juli 1848 seinen ältesten Sohn Ibrahim Pascha (s. d.) als Nachfolger
bestätigte.
Doch Ibrahim starb vor seinem Vater, und Abbas Pascha (s. d.), ein Enkel MehemedAlis, ward von
der Pforte als rechtmäßiger Regent anerkannt. Dieser hob die drückendsten Steuermaßregeln und die Monopole auf, reduzierte
Heer und Flotte und entließ die Fremden aus Haß gegen die europ. Civilisation. Die Pforte befahl ihm im Febr. 1851 die sofortige
Einführung der Tansimat (s. d.), fügte außerdem noch andere Forderungen hinzu, wodurch
Ä. wieder zu einer von der Türkei ganz abhängigen Provinz gemacht werden sollte; doch wußte Abbas Pascha diese Zumutungen
durch Geldspenden an die Pforte zu mildern, ja es gelang ihm sogar, das Recht, die Ägypter zum
¶
mehr
Fron-249 dienst herbeizuziehen und die Todesstrafe zu verfügen, ausdrücklich zugesichert zu erhalten. Als der Krimkrieg
gegen Rußland ausbrach, stellte er der Pforte ein Korps von 15000 Mann sowie die ägypt. Flotte zur Verfügung. Abbas fand seinen
Tod wahrscheinlich durch Meuchelmord. Ihm folgte unter Bestätigung der Pforte Saïd Pascha
(s. d.), ein Sohn MehemedAlis. Dieser, ein europäisch gebildeter Mann, behielt zwar die von seinem Vater eingeführte Landesverwaltung
bei, war aber bemüht, die Lasten des Volks erträglicher zu machen. Er gab den Fellahs das Recht der freien Verfügung über
Anbau und Ernte
[* 51] und verwandelte die Naturalleistung in Geldsteuer. Im März 1857 unternahm er mit 5000 Mann
eine Expedition nach dem Sudan, wo er Leben, Freiheit und Vermögen der Bevölkerung unter seinen Schutz stellte.
Ebenso schaffte er in Ä. die Sklaverei und den Sklavenhandel ab, welche Verordnung freilich selbst heute noch nicht zur vollen
Durchführung gekommen ist. Die von Abbas begonnene Eisenbahn vom Mittelmeere nach Kairo vollendete er
und führte sie weiter nach Sues, welche Strecke übrigens 1868 wieder eingegangen ist. Im Finanzwesen führte er eine Kontrolle
ein; auch trennte er seine persönlichen Ausgaben von den Staatsausgaben. Dem franz. Einflusse vor allem zugänglich, gab Saïd
dem Franzosen Lesseps die Erlaubnis zur Ausführung des Sueskanals, wiewohl die Pforte auf Englands Betrieb
ihre Zustimmung verweigerte.
Saïd Pascha starb ihm folgte in der Regierung sein Neffe Ismaïl Pascha. Dieser suchte zunächst mit Eifer die
Entwicklung des Landbaues (Baumwollkultur) und des HandelsÄ.s zu fördern. In betreff der Sueskanal-Angelegenheit richtete die
Pforte an Frankreich und England eine Note, in der die Fortsetzung des Kanalbaues an folgende Bedingungen geknüpft
wurde: Neutralitätsgarantien für den Kanal;
[* 52] Einstellung der Zwangsarbeit und Rückgabe der weiten Ländereien, die sich die
Compagnie angeeignet und damit der Jurisdiktion Ä.s und der Pforte entzogen hatte.
Nachdem die Verhandlungen zwischen Lesseps und Ismaïl Pascha über diese Punkte gescheitert waren, rief
letzterer die Vermittelung des Kaisers Napoleon III. an, der die Angelegenheit einer Kommission überwies und dann im Aug. 1864 mit
einer Entscheidung hervortrat, welche die Forderungen der Pforte auf Kosten Ä.s erfüllte. Um die großen Geldopfer aufbringen
zu können, berief Ismaïl Pascha im Nov. 1866 eine aus 75 auf 3 Jahre gewählten Volksvertretern bestehende
Versammlung, welche durch ihre Zustimmung der Erhöhung der Steuerlast, der Regelung der Frondienste und Durchführung der
sog. Justizreform, d. h. Beseitigung der Kapitulationen (s. d.),
dem Auslande gegenüber eine nationale Sanktion geben sollte.
Durch große Geldopfer erlangte er im Mai 1866 von der Pforte eine Änderung der Thronfolgeordnung in
dem Sinne, daß statt der bisherigen Seniorats-Erbfolge in Ä. die direkte Linearfolge (vom Vater auf den Sohn) eingeführt
wurde; auch setzte er es 1867 bei der Pforte durch, daß der Herrscher Ä.s nicht mehr bloß Wali, d. i.
Statthalter, sondern Chediv, betitelt wurde. Die fortgesetzten Rüstungen Ismaïl Paschas und dessen Besuche an den europ.
Höfen erregten jedoch bei der Pforte den Argwohn, daß derselbe die vollständige Unabhängigkeit Ä.s von der Türkei anstrebe.
Beeinflußt von den Brüdern Ismaïls, die sich in ihrem Erbfolgerechte beeinträchtigt sahen, verlangte
die Pforte als
Beweis seiner Treue Reduktion seines Heers auf 30000 Mann und Auslieferung sämtlicher Panzerschiffe
[* 53] und Zündnadelgewehre; ferner
wurde ihm untersagt, ohne Zustimmung des Sultans neue Steuern zu erheben oder Anleihen aufzunehmen, und geboten, sich jedes
selbständigen Verkehrs mit dem Auslande zu enthalten. Die feierliche Eröffnung des Sueskanals 16. bis in
Gegenwart vieler europ. Fürsten ließ die Sache vorläufig noch nicht zu einem Bruche kommen.
Durch Vermittelung Englands und Frankreichs kam vielmehr eine Einigung dahin zu stande, daß der Chediv dem Verlangen der
Türkei in Betreff der Reduktion des Heers, der Anleihen, der Steuern und der selbständigen diplomat. Vertretung
nachkommen zu wollen erklärte. Konzessionen, die Ismaïl bald darauf durch abermalige Unterhandlungen Nubar Paschas zu erlangen
suchte, verweigerte die Pforte; auch ließ sie im Mai 1870 erklären, daß die beabsichtigte AnleiheÄ.s keine staatsrechtliche
Gültigkeit haben würde.
Eine Linderung der Beziehungen der Türkei zu Ä. trat jedoch durch den erfolgten Tod des Großwesirs
Aali Pascha ein, der der heftigste Gegner Ismaïls gewesen war. Aalis Nachfolger Mahmud Pascha begünstigte die Pläne Ä.s.
Am setzte es Ismail durch, daß der Sultan dem Entwurf einer neuen Gerichtsverfassung, der von einer 1869 in Kairo
versammelten internationalen Kommission vorgeschlagen war, seine Genehmigung erteilte. Durch große Geldgeschenke und glänzende
Festlichkeiten gelang es ihm, einen neuen Ferman vom Sultan zu erhalten, durch den die frühern Specialfermans ihrem
wesentlichen Inhalte nach zusammengefaßt und bestätigt wurden.
Damit wurde ihm das Recht der Linearsuccession und das erbliche Kaimakamat von Suakin und Massaua
[* 54] nebst
Dependenzen zu teil. Im Fall keine männlichen Nachkommen vorhanden wären, sollte die vicekönigl. Würde nach dem Princip
der Linearerbfolge an den nächsten männlichen Seitenverwandten fallen. Auf männliche Kinder in der weiblichen Descendenz
findet diese Regel keine Anwendung. Bei etwaiger Minderjährigkeit des Nachfolgers kann der Chediv einen
Vormund bestellen, den die türk. Regierung anzuerkennen hat.
Falls keine testamentarische Bestimmung vorhanden ist, soll ein Vormundschaftsrat eingesetzt werden, der aus sämtlichen
Ministern und dem Oberbefehlshaber Ä.s besteht und in dem der Minister des Innern den Vorsitz führt. Der von dem Vormundschaftsrate
zu wählende Vormund bedarf jedoch der Bestätigung der Pforte. Mit dem 18. Jahre tritt für den neuen
Chediv die Großjährigkeit ein. Außerdem enthielt der Ferman noch folgende Zugeständnisse: vollständige Unabhängigkeit
in Bezug auf Verwaltung und Justiz;
das Münzrecht (jedoch mit kaiserl. Namenszug) und die Befugnis, Anleihen aufzunehmen.
Auch in Bezug auf
Vermehrung oder Verminderung der ägypt. Armee sind ihm keine Schranken gezogen. Indes hat der Chediv das Recht der Rangerhöhung
nur bis zum Oberst. Die ägypt. Truppen führen die Fahnen des türk. Reichs. Für diese weitgehenden Rechte und als Beweis,
daß der Chediv die Oberhoheit des Sultans anerkennt, muß derselbe an die Pforte einen jährlichen Tribut
von 150000 Beuteln (3 Mill. M.) zahlen. Dieser Ferman war für die weitere Entwicklung des Landes von hoher Wichtigkeit.
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