mehr
Alexandria und begannen gegen den sich zurückziehenden Arabi einen förmlichen Feldzug, für den das Parlament 28. Juli einen Kredit bewilligte. Unter Führung von Sir Garnet Wolseley und unter Mitwirkung indischer Truppen unter General Macpherson wurden 13. Sept. die Erdwerke Arabis bei Tel el Kebir erstürmt und sein Heer gänzlich zerstreut; der Pascha floh nach Kairo [* 2] und wurde 15. Sept. gefangen genommen. Im Oktober kehrte die Hauptmasse der englischen Armee unter Wolseley in die Heimat zurück; nur ein Korps von 12,000 Mann blieb in Ägypten. [* 3]
Es konnte nicht fehlen, daß der glänzende Erfolg einer so energischen auswärtigen Politik Gladstones, wie man sie ihm kaum zugetraut hätte, auch die Stellung der Regierung im Innern stärkte. Am 24. Okt. trat das vertagte Parlament zur Herbstsession wieder zusammen. Nachdem in beiden Häusern ein Dankesvotum für die Armee und Flotte sowie ihre Führer beschlossen war, vertagten sich die Lords bis zum 11. Nov.; das Unterhaus begann die Debatten über die Reform der Geschäftsordnung.
Die von Gladstone beantragten Resolutionen, welche den Debattenschluß einführten, strenge Maßregeln gegen die Obstruktionisten trafen und die Einsetzung ständiger Kommissionen des Hauses nach festländischem Muster ermöglichten, wurden trotz des Widerstandes der Konservativen und der Iren mit einigen Abänderungen angenommen, und 2. Dez. konnte nach diesem großen Erfolg der Regierung die außerordentliche Session des Parlaments geschlossen werden.
Bald nach dem Schluß der Session traten in dem Bestand des Ministeriums eine Reihe von Veränderungen ein; Gladstone behielt zwar die Leitung desselben bei, legte aber sein Amt als Schatzkanzler nieder; an seine Stelle trat der bisherige Kriegsminister Childers. Das Portefeuille des Kriegs übernahm der Minister für Indien, Lord Hartington, den wiederum der bisherige Kolonialminister Lord Kimberley ersetzte. Neue Mitglieder des Kabinetts wurden Lord Derby, der am 16. Dez. zu Kimberleys Nachfolger ernannt wurde, und Sir Charles Dilke, der am 27. Dez. das Präsidium des Lokalverwaltungsamtes (Local Government Board) übernahm. Durch diese Ernennungen ward innerhalb der Regierung das Gleichgewicht [* 4] zwischen den beiden aufeinander eifersüchtigen Schattierungen der liberalen Partei ziemlich unverändert erhalten.
Dennoch wurde die Stellung des Ministeriums durch die Ereignisse der beiden Jahre eine immer schwächere. Die Parlamentssession von 1883, die vom 15. Febr. bis 25. Aug. dauerte, verlief zwar nicht ganz so ergebnislos wie die vorangehenden; insbesondere bewährten sich die 1882 eingesetzten permanenten Kommissionen, so daß ein Bankrott- und ein Patentgesetz, Pachterbills für England und Schottland sowie ein Gesetz über die Errichtung von Sekundärbahnen und Vizinalwegen in Irland zu stande kamen.
Aber auf die von der Regierung geplanten, dringend notwendigen Reformen des Strafrechts und der Gerichtsverfassung mußte sie verzichten, und eine empfindliche Niederlage erlitt Gladstone, als eine von ihm eingebrachte Bill, welche den parlamentarischen Eid durch ein einfaches Gelübde ersetzen und somit Bradlaugh den Eintritt ins Unterhaus ermöglichen sollte, 3. Mai mit 292 gegen 284 Stimmen abgelehnt wurde. Auch die irische Frage gestaltete sich nicht günstiger.
Dynamitattentate in London, [* 5] Liverpool, [* 6] Glasgow [* 7] u. a. O. zeigten der englischen Gesellschaft immer aufs neue die entsetzlichen Gefahren, die ihr von einer Bande gewissenloser, zu allem entschlossener Verschwörer bereitet wurden, und gegen die auch das 10. April beschlossene strenge Gesetz über die Fabrikation und den Gebrauch von Sprengstoffen keine ausreichende Sicherheit gewährte. Die Ermordung des Kronzeugen Carey, der in einem Prozeß gegen irische Verschwörer zu gunsten der Regierung ausgesagt hatte, auf einem britischen Dampfer angesichts der Küste Afrikas (30. Juli), wohin man ihn hatte in Sicherheit bringen wollen, zeigte in erschreckender Weise, wie zuverlässig die Organisation dieser Verschwörer war und die fortdauernden, durch keine Strenge zu unterdrückenden Verbrechen in Irland wiesen die öffentliche Meinung wieder und wieder auf diese blutende Wunde im britischen Staatskörper hin. Vor allem aber offenbarte sich die Schwäche der Regierung in ihrer auswärtigen Politik. Nach den energischen Anläufen des Vorjahrs hatte Gladstone zwar begonnen, sich in Ägypten häuslich einzurichten, die französische Mitwirkung an der Finanzkontrolle beseitigt (Januar 1883), durch Lord Dufferin eine konstitutionelle Verfassung ausarbeiten lassen, englische Beamte und Offiziere dem Chedive zur Seite gestellt.
Aber an Klarheit und Energie ermangelte es der britischen Regierung hier durchaus. Indem sie weder von einer definitiven Einverleibung Ägyptens oder der Errichtung einer britischen Schutzherrschaft daselbst noch von der Zurückziehung ihrer Armee aus dem Nilland etwas wissen wollte, machte sie es keiner Partei im Land recht und fand bei keiner europäischen Regierung Unterstützung für ihr Verhalten. Vor allem aber erwuchs ihr aus dem Sudân eine Gefahr, der sie sich nicht gewachsen zeigte. In dieser 1870 in Ägypten einverleibten Provinz Zentralafrikas war schon im J. 1882 eine zugleich religiöse und nationale Bewegung ausgebrochen, an deren Spitze sich der Mahdi (Prophet) Mohammed Achmed stellte.
Dieser Aufstand machte die größten Fortschritte; die ihm entgegengesandte, von englischen Offizieren begleitete und von dem Engländer Hicks Pascha befehligte Armee erlitt eine vernichtende Niederlage, die den Verlust des ganzen Landes südlich vom ersten Katarakt des Nils herbeiführte. Dem gegenüber beschloß die britische Regierung die Räumung des Sudân und die Preisgebung dieses ganzen weiten Gebiets an den religiösen Fanatismus des Mahdi.
Als dieser Entschluß in Großbritannien [* 8] die lebhafteste Entrüstung in weiten Kreisen des Volkes hervorrief, verstand sich Gladstone zwar dazu, im Januar 1884 den General Gordon (s. d.) nach Ägypten zu entsenden, welchen der Chedive zum Generalgouverneur des Sudân ernannte, unterstützte denselben aber mit Geld und Truppen nur in ganz unzulänglicher Weise. So kam es, daß die Dinge sich hier immer ungünstiger entwickelten. Zwar wurde Suakin von den Engländern behauptet; aber ein ägyptisches Korps unter Baker Pascha ward im Februar von den Arabern fast ganz vernichtet, und im April 1884 war Chartum, wo Gordon sich festgesetzt hatte, von den Truppen des Mahdi auf allen Seiten umschlossen.
Nun wurde zwar im Sommer Lord Wolseley abermals nach Ägypten geschickt; aber trotz der immer dringenden Hilferufe Gordons nahmen die ins Werk gesetzten überaus umständlichen Unternehmungen zu seinem Entsatz nur einen sehr langsamen Fortgang, und als endlich die englischen Truppen Ende Januar 1885 bis in die Nähe Chartums vorgedrungen waren, war es zu spät: die Stadt war von den Scharen des Mahdi 26. Jan. unter entsetzlichem Gemetzel eingenommen, Gordon durch Verrat ermordet. Nun erhob sich zwar in England ein Schrei ¶
mehr
der Entrüstung, und Wolseley bereitete einen Rachezug nach Chartum vor, den zu ermöglichen sogar ein kostspieliger Eisenbahnbau [* 10] von Suakin nach Berber begonnen wurde; aber inzwischen traten andre auswärtige Verwickelungen ein, welche sich der Verwirklichung dieser Absichten entgegenstellten. Im Mai 1885 wurde der Angriff gegen den Mahdi, für dessen Vorbereitung Millionen ausgegeben waren, aufgegeben, und im Juli war die definitive Räumung des Sudân durchgeführt.
Inzwischen war Großbritannien andern Konflikten mit Deutschland [* 11] und Rußland kaum entgangen. Den deutschen Kolonialbestrebungen, wie sie in den Jahren 1884 und 1885 in Afrika [* 12] und Australien [* 13] hervortraten, hatte die Eifersucht Gladstones und Granvilles Schwierigkeiten mancherlei Art zu bereiten versucht und dadurch eine sehr gereizte Stimmung der deutschen Regierung hervorgerufen, die in den vom Fürsten Bismarck veröffentlichten Weißbüchern und in den Reichstagsreden desselben deutlich zu Tage trat.
Schließlich aber hatte dann England doch auf der ganzen Linie zurückweichen und schon 1884 die deutschen Erwerbungen an der afrikanischen West- und Ostküste anerkennen sowie im nächsten Jahr sich zum Abschluß einer Konvention verstehen müssen, durch welche die Osthälfte Neuguineas zwischen Deutschland und Großbritannien geteilt wurde. Mit Rußland war man wegen der Frage der Regulierung der Grenzen [* 14] zwischen Afghanistan [* 15] und den letzten russischen Erwerbungen in Zentralasien [* 16] zu Anfang des Jahrs 1885 in die ernstesten Differenzen geraten, die einen Krieg zwischen beiden Mächten befürchten ließen.
Schon hatte Großbritannien die Armeereserve einberufen (27. März) und einen Kredit von 11 Mill. Pfd. Sterl. beim Unterhaus beantragt, da kam es im Mai durch die Nachgiebigkeit Gladstones zu einem Abkommen, dessen definitiver Abschluß sich freilich noch monatelang hinzog. Die diplomatische Isolierung Englands wirkte auf die Ordnung der Verhältnisse in Ägypten sehr ungünstig ein. Hier waren insbesondere die Finanzen durch die Kosten der englischen Okkupation und der Bekämpfung des Aufstandes vollkommen zerrüttete. Ein Versuch, durch eine Reduktion der Zinsen der ägyptischen Schuld Abhilfe zu schaffen, schlug fehl; Großbritannien bedurfte dazu der Zustimmung der Großmächte, aber eine Londoner Konferenz, welche dieselbe erteilen sollte, verlief ergebnislos und mußte geschlossen werden. Erst im März 1885 kam es zu einem Abkommen, in dem die Großmächte eine neue ägyptische Anleihe von 9 Mill. Pfd. Sterl. garantierten; aber auch dies Ergebnis wurde nur durch die Nachgiebigkeit Gladstones erreicht, indem durch die Errichtung einer internationalen Schuldentilgungskasse die Finanzkontrolle der Großmächte in Ägypten, wenn auch nicht dem Namen, so doch der Sache nach wiederhergestellt wurde.
Wenn trotz all dieser Mißerfolge auf dem Gebiet der auswärtigen Politik Gladstone sich behauptete, wenn die in den Sessionen von 1884 und 1885 mehrmals beantragten Tadelsvoten gegen seine Regierung, im Oberhaus regelmäßig angenommen, im Unterhaus stets (allerdings gegen eine immer wachsende Minorität, dasjenige vom Februar 1885 nur noch mit 302 gegen 288 Stimmen) verworfen wurden: so verdankte er das seinen Maßregeln auf dem Gebiet der innern Politik, welche die radikale Partei immer fester an seine Person knüpften.
Schon hatte er eine neue höchst demokratische Reformbill im Unterhaus eingebracht, deren Kern darin bestand, die 1867-69 für die Städte eingeführte Erweiterung des Wahlrechts, das Stimmrecht der Haushaltungsvorstände (household-franchise) und Chambregarnisten (lodgers-franchise) auch in den ländlichen Wahlbezirken einzuführen und in Stadt und Land unter gewissen Bedingungen auch den männlichen Dienstboten ein Stimmrecht (service-franchise) zu verleihen.
Dies Gesetz vermehrte die Zahl der Wähler um nicht weniger als zwei Millionen und stellte die politischen Verhältnisse Großbritanniens abermals auf eine ganz neue Grundlage. Später sollte dann durch ein zweites Gesetz eine neue Einteilung der Wahlbezirke durch das ganze Reich erfolgen. Im Unterhaus wurde die Reformbill 26. Juni angenommen; im Oberhaus aber stieß sie auf den heftigsten Widerstand, und hier wurde 8. Juli mit 205 gegen 146 Stimmen beschlossen, die zweite Lesung nicht eher vorzunehmen, als bis auch die Wahlbezirksbill bekannt wäre.
Die Konservativen hofften dadurch die Regierung zu einer Auflösung des Parlaments zu zwingen und bei den dann noch auf Grund des alten Wahlgesetzes zu bewirkenden Neuwahlen den Sieg zu erringen. Allein gerade davon wollte Gladstone nichts wissen. Er vertagte das Parlament nach Erledigung der laufenden Geschäfte (14. Aug.) und kündigte eine Herbstsession an, die 23. Okt. eröffnet wurde; in der Zwischenzeit hallte es in der Presse [* 17] und den Volksversammlungen der radikalen Partei von den heftigsten Drohungen gegen die Existenz des Hauses »der erblichen Gesetzgeber« wider. Indessen wirkliche Maßregeln gegen das Oberhaus, die ein großer Teil auch der liberalen Partei nicht gebilligt haben würde, wurden nicht ergriffen. Vielmehr fanden Verhandlungen zwischen den Führern der beiden Parteien statt, die schließlich zu einer Verständigung über die Hauptgrundsätze der Wahlbezirksbill führten: die Einteilung der Wahlbezirke in Stadt und Land sollte wesentlich auf Grund der Einwohnerzahl erfolgen und jeder Wahlbezirk (mit wenigen Ausnahmen) nur einen Abgeordneten wählen. Die Zahl der Abgeordneten sollte auf 670 vermehrt werden. Darauf wurde die Reformbill im Oberhaus angenommen (5. Dez.); die Einzelberatung der Wahlbezirksbill und andrer damit zusammenhängender Gesetze wurde dem nächsten Jahr vorbehalten; erst kam die ganze große Reformgesetzgebung, die man als eine »friedliche Revolution« bezeichnete, zum Abschluß.
Kampf der Parteien um Irland.
Die liberale Regierung hatte diesen Abschluß nicht mehr erlebt. Immer mehr hatten sich die gemäßigten Whigs während der letzten Jahre Gladstones Politik entfremdet; mit ihrer Hilfe erlitt sie bei der Beratung über das Einnahmebudget eine Niederlage und reichte ihre Entlassung ein. Nach einer 14tägigen Ministerkrisis bildete Lord Salisbury eine neue konservative Regierung, in welcher er selbst das Präsidium und das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten übernahm; die wichtigsten Mitglieder derselben waren Sir St. Northcote, der unter dem Namen Graf Iddesleigh ins Oberhaus versetzt ward (Präsident des Geheimen Rats), Sir M. Hicks-Beach (Finanzen), Lord R. Churchill (Indien), Stanley (Kolonien) und Smith (Krieg). Diese neue Regierung gab der auswärtigen Politik eine andre Richtung. Sie näherte sich Deutschland, glich die Streitigkeiten mit Rußland durch den Abschluß einer Konvention vom aus und ging insbesondere energisch in Hinterindien [* 18] vor, wo Frankreich durch die Erwerbung Tongkings seinen Einfluß beträchtlich erweitert hatte. Infolge gewisser ¶