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Dichter hatte dabei mit dem Widerstreben seines reichsstädtisch-steifen Vaters zu kämpfen, welcher den Gesinnungen und Absichten des weimarischen Hofs mißtraute. Schließlich entschied die immer tiefer empfundene Notwendigkeit, sich von Lili entweder ganz loszureißen, oder für sie und sich einen andern Boden zu erobern, Goethes Weggang aus der Vaterstadt. Anfang November reiste er von Frankfurt [* 2] nach Thüringen, 7. Nov. morgens traf er in Weimar [* 3] ein.
Das erste Jahrzehnt in Weimar.
Der erste Eintritt Goethes in die neuen Verhältnisse entschied im Grunde sein Bleiben. Karl August, der jugendliche Herzog, eine Natur voll Kraft [* 4] und Energie, vom lebendigsten Interesse an geistigen Dingen ebenso wie von derber Lebenslust erfüllt, machte Goethe alsbald zu seinem Vertrauten, seinem Freunde; der Hof [* 5] folgte willig oder unwillig (zumeist aber doch das erstere) dem von allerhöchster Stelle gegebenen Impuls. Die Herzogin Luise wie die Herzogin-Mutter Anna Amalia waren von Goethes Talent und menschlichem Wert tief überzeugt; Wieland, den im Jahr zuvor in dem satirischen Pasquill »Götter, Helden und Wieland« angegriffen hatte, verzieh nicht nur willig, sondern »seine Seele war so voll von Goethe wie ein Tautropfen von der Sonne«. [* 6]
Der Ankunft Goethes als Gast folgten eine Reihe von Festen, Lustbarkeiten und Tollheiten aller Art, die durch die provisorische Existenz, welche der kleine weimarische Hof angesichts der Trümmer des im Mai 1774 zerstörten Residenzschlosses im sogen. Fürstenhaus und auf den Lustschlössern Ettersburg, Belvedere und Tiefurt führte, erleichtert und gefördert wurden. Bälle, Maskeraden, Schlittschuhlaufen und Schlittenfahrten, Komödienspiel und derbe Belustigungen aller Art jagten einander; mitten in dem Taumel verbanden sich der Herzog und Goethe täglich fester, so daß Karl August ohne den Dichter »nicht mehr schwimmen noch waten« konnte.
Umsonst strengte jetzt, wo sie die Gefahr begriff, die ihr drohte, eine Partei am Hof und in der Büreaukratie des kleinen Landes alles an, um den Eintritt des herzoglichen Freundes (mit dem Karl August selbst das brüderliche Du gewechselt hatte, was er bis an sein Lebensende beibehielt, während Goethe nur in gewissen Ausnahmefällen und im engsten Verkehr Gebrauch davon gemacht zu haben scheint) in die Geschäfte zu hindern. Ging doch der dirigierende Staatsminister Freiherr v. Fritsch so weit, daß er lieber seine Entlassung nehmen, als mit Goethe im geheimen Konseil sitzen wollte.
Karl Augusts Charakterstärke, die weit über seine Jahre hinausreichte, besiegte allen Widerstand. Fritsch ließ sich begütigen; alle übrigen Einwände wies der Herzog mit den Worten ab: »Einsichtige wünschen mir Glück, diesen Mann zu besitzen. Sein Kopf, sein Genie ist bekannt. Einen Mann von Genie an anderm Ort gebrauchen, als wo er selbst seine außerordentlichen Gaben gebrauchen kann, heißt ihn mißbrauchen. Das Urteil der Welt, welches vielleicht mißbilligt, daß ich den Doktor in mein wichtigstes Kollegium setze, ohne daß er zuvor Amtmann, Professor, Kammerrat oder Regierungsrat war, ändert gar nichts.« Im Februar und März 1776 begann bereits Goethe sich bei einzelnen Sitzungen des Konseils einzufinden, 11. Juni vollzog der Herzog das Dekret seiner Ernennung zum Geheimen Legationsrat mit Sitz und Stimme im geheimen Konseil. Gleichzeitig hatte er Goethes innern Wünschen nach einer stillen Zufluchtsstätte durch den Ankauf des Bertuchschen Gartens mit Häuschen an der Ilm in der Nähe der (damals allein vorhandenen) Parkanlagen des »Sterns« genügt.
Der Dichter fühlte bereits in den ersten Monaten seiner weimarischen Herrlichkeit, welch ein Widerspruch zwischen seinem Trieb zur Sammlung, zur Stimmung, zur Produktion und zwischen der Zerstreuung des Hof- und Geschäftslebens obwalte. Und obschon er »voll eingeschifft war auf der Woge der Welt und landend oder scheiternd seinen Göttern zu vertrauen« gedachte, so schuf er sich doch von Haus aus die Möglichkeit stiller poetischer Stunden und hatte nur zu beklagen, daß dieselben durch die Last und die Überfülle der Geschäfte immer seltener wurden.
Von den Vergnügungen des Hofs konnte sich Goethe schon nach dem ersten Jahr bis zu einem gewissen Grad zurückziehen, nicht von den amtlichen Pflichten, die er um so schwerer und ernster nahm, je mehr er fühlte, daß er das große Vertrauen des jugendlichen Fürsten zu rechtfertigen und demselben als wahrer Freund zur Seite zu stehen habe. In diesem Sinne nahm Goethe selbst mehr Arbeit und Verantwortung auf sich, als unmittelbar nötig gewesen wäre. Er war der That, wenn auch nicht dem Namen nach Karl Augusts erster Minister.
Die Geschäfte der Wegebaukommission, des gesamten Bauwesens, der Bergwerks- und Forstverwaltung, der Kriegskommission kamen nach und nach in seine Hand; [* 7] im Juni 1782 (zwei Monate früher hatte er das Adelsdiplom erhalten) ward ihm, nachdem sich v. Kalb als unfähig erwiesen, auch das Kammerpräsidium übertragen, wogegen er umsonst in der Ballade »Der Sänger« protestierte. Dabei hatte er den Herzog zu beraten, und indem er der Genosse seiner lustigen Tage, seines unruhigen Dranges nach außen, ja gelegentlich seiner Ausschreitungen war, leitete er ihn unvermerkt, jedoch fest und bewußt zur ernsten Pflichterfüllung, zum stillen Genuß an wissenschaftlichen und künstlerischen Darbietungen. In Goethe selbst freilich war damals noch zu viel brausender Lebensdrang, als daß diese Stimmung des Ernstes ausschließlich hätte vorwalten können; aber sie bildete gleichwohl die Grundlage seines Verhältnisses zum Herzog und seiner eifrigen Fürsorge für das Wohl des anvertrauten Landes.
»Geschäft diese Tage her«, schrieb er in sein Tagebuch, »mich darin gebadet und gute Hoffnung in Gewißheit des Ausharrens. Der Druck der Geschäfte ist sehr schön der Seele; wenn sie entladen ist, spielt sie freier und genießt des Lebens. Elender ist nichts als der behagliche Mensch ohne Arbeit, das schönste der Gaben wird ihm ekel.« (Goethes Tagebuch vom Die Hingabe Goethes an die anvertrauten Geschäfte schloß unzweifelhaft ein großes Opfer an Zeit und Schaffensstimmung ein, aber sie wurde (was oft übersehen wird) in reichster Weise belohnt.
Nicht nur genügte er in der umfassenden und gebietenden Wirksamkeit seinem starken Lebensdrang, den er im poetischen Schaffen allein nie hätte befriedigen können, nicht nur gewann er reiche Lebenseindrücke, sondern vor allem auch die Abgeschiedenheit, die er zur Klärung seiner poetischen Natur bedurfte, die Unabhängigkeit von allen Launen, Neigungen und Meinungen des Publikums, welches trotz des Beifalls, den es Goethe gespendet, doch mehr vom Stofflichen als vom Geistigen der Goetheschen Werke ergriffen worden war. Goethe ist beinahe der einzige unsrer Dichter, dem nach glänzenden Triumphen in der Jugend mehrere Jahrzehnte hindurch aller äußere Erfolg so gut wie versagt blieb. Die Gewöhnung, nur in einem begrenzten Kreis [* 8] zu leben und in diesem seine Welt zu erblicken, trug ihn leicht darüber hinweg.
Noch freilich rang er zunächst mehr nach Erlebnis als nach Läuterung. Die Verstrickung einer ¶
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Leidenschaft, aus der er sich gerissen, machte nur allzu rasch andern Platz. Ohne Liebe war ihm das Leben undenkbar. Noch von Weimar aus hatte er mit einer tief empfundenen Widmung seine »Stella« an deren Urbild Lili gesendet; aber die Erinnerungen an die aufgegebene Braut (die sich ihrerseits kaum ein Jahr nach Goethes Weggang verlobte und mit einem Herrn v. Türckheim in Straßburg [* 10] vermählte) hinderten nicht neue Empfindungen. Die ersten weimarischen Jahre sahen mancherlei flüchtige Liebesneigungen und Liebeleien (»Miseleien«, wie es in der kraftgenialen Sprache [* 11] hieß); die Spuren mancher vorübergehenden, raschen Beziehung finden sich in den Goetheschen Tagebüchern.
Das eigentliche Herzensleben des Dichters aber setzte sich fort in den Beziehungen zu Charlotte v. Stein und Corona [* 12] Schröter. Frau v. Stein, geborne v. Schardt, die Gemahlin des herzoglichen Oberstallmeisters, eine jener Frauennaturen, welche mit wunderbar fesselnden Vorzügen, mit dem Reiz höchster Anmut und feinseelischen Regungen eine gewisse Kälte und ruhige Überlegenheit verbinden, war sieben Jahre älter als Goethe. Sie setzte dem leidenschaftlichen Liebeswerben, mit dem Goethe sie im ersten Jahr seines weimarischen Aufenthalts bestürmte, entschiedene Zurückhaltung entgegen, verriet ihm jedoch, daß sie von seiner Neigung nicht ungerührt sei, legte entschiedenes Interesse an seinem ganzen Thun, Leben und Dichten an den Tag und fesselte ihn damit um so fester und tiefer.
Als gegen Ende des Jahrs 1776 die schöne Sängerin Corona Schröter nach Weimar übersiedelte (sie war als Kammersängerin der Herzogin Amalia berufen), war Goethe bereits der tägliche Freund des Steinschen Hauses und ihm der Umgang mit der geistvollen, seine besten Lebenshoffnungen weckenden Frau zum unabweisbaren Bedürfnis geworden. Ließ ihn Coronas Schönheit und Jugend nun auch für diese erglühen, so verdrängte doch die junge Sängerin die anmutige ältere Frau nicht aus seinem Herzen.
Leise, unmerklich, vielleicht ohne bewußte Absicht zog ihn Charlotte ganz an sich, mehr und mehr ward auch sie von Goethes Leidenschaft ergriffen. Aus der Freundschaft war eine Liebe geworden, deren Gedächtnis in all ihrem Reiz in Goethes erhaltenen Briefen an Charlotte v. Stein unsterblich fortlebt. Was in den Jahren des Werdens dieser Liebe und der Zeit der ausschließlichen Beziehung zu Frau v. Stein genossen und gelitten, verraten Tagebücher und Briefe nur zum kleinsten Teil; selbst seiner Dichtung vertraute er nur einzelne Züge seines damaligen Erlebens. Im Treiben und in der Bewegung seines Hof- und Geschäftsdaseins, in der Fülle seines Geheimlebens »schwanden ihm die Gestalten aller fernen Freunde wie im Nebel«; Weimar hatte und hielt ihn ganz.
Im ersten Jahr seines weimarischen Lebens hegte er wohl die Absicht, die Besten derer, mit denen er in frühern Zeiten gelebt und gestrebt hatte, herzuzurufen. Als der Herzog einen Generalsuperintendenten bedurfte, empfahl Goethe Herder, welcher im Herbst 1776 von Bückeburg [* 13] nach Weimar übersiedelte. Die Stürmer und Dränger Lenz und Klinger kamen ungerufen, konnten sich aber in der weimarischen Hofwelt nicht behaupten. Fr. Leopold Stolberg [* 14] ward durch Klopstock vom Antritt seiner Kammerherrnstellung zurückgehalten, für Merck wollte sich trotz der Neigung des Herzogs zu dem kaustischen Mann keine passende Situation ergeben. So blieb Goethe auf die nähern Beziehungen zu Herder, Wieland, Knebel, auf entferntere zu Bertuch, Musäus, Einsiedel, Seckendorff u. a. eingeschränkt.
Mit den Professoren der Universität Jena [* 15] begann sich ein Verhältnis herzustellen, als Goethe sich mit Eifer, auch hierin mit dem Herzog Eines Sinnes, auf naturwissenschaftliche Studien warf. Seine Sorgfalt für den Ilmenauer Bergbau [* 16] führte ihn zunächst zu mineralogischen und geologischen Studien, denen sich in weiterer Folge botanische, anatomische, osteologische und (mit besonderer Leidenschaft betrieben) Studien zur Farbenlehre anschlossen. Auch durch diese ward die ohnehin karge Zahl der Stunden, welche der poetischen Produktion gewidmet werden konnten, noch vermindert.
In der ersten weimarischen Periode von 1776 bis 1780 schien es anfangs, als solle der Dichter nur zu den kleinen Gelegenheitsspielen Muße und Kraft gewinnen, die für den unmittelbaren poetischen Bedarf des Tags gebraucht wurden. Standen einzelne derselben, wie das reizende Genredrama »Die Geschwister« (1776),
höher, und bewährten auch die leichten Sing- und Scherzspiele: »Lila« (1777),
»Der Triumph der Empfindsamkeit« (1778) die alte Phantasiefülle des Dichters, so konnte er selbst sich davon nicht befriedigt fühlen. An die von Frankfurt unvollendet mitgebrachten großen Anfänge (»Egmont«, »Faust«, »Der ewige Jude«) wagte er nicht Hand anzulegen. Dafür begann er 1778 den Roman »Wilhelm Meister« und schuf 1779 in einer ersten (Prosa-) Bearbeitung das Schauspiel »Iphigenia auf Tauris«, welches auf einem besondern Theater in [* 17] Ettersburg aufgeführt wurde, wobei Goethe den Orest, Prinz Konstantin den Pylades, Corona Schröter die Iphigenia, Knebel den König Thoas spielte. »Iphigenia« war das erste größere Zeichen der innern Wandlung, die in Goethes Dichtung eintritt.
Am Ende des Jahrs 1779 unternahm Goethe mit dem Herzog, der ihn kurz zuvor zum Wirklichen Geheimen Rat ernannt hatte, eine Reise nach der Schweiz, [* 18] welche gute Vorsätze zeitigte und kräftigte. Auf derselben sah Goethe sein Vaterhaus, in Sesenheim Friederike Brion, in Straßburg Lili als Frau v. Türckheim wieder. Nach seiner Rückkehr sollte in allem Betracht ein neues Leben begonnen werden. Auch die Produktion nahm einen neuen Aufschwung. Neben den Operetten und Singspielen: »Jery und Bätely«, »Die Fischerin«, »Scherz, List und Rache« (sämtlich wiederum für Aufführungen in den Lustschlössern des weimarischen Hofs bestimmt) arbeitete Goethe fortgesetzt am »Wilhelm Meister«, begann, aus seiner eigensten Situation und Stimmung herausdichtend, das Drama »Torquato Tasso«, die Tragödie »Elpenor« und das epische Gedicht »Die Geheimnisse«, welche beiden letztern Fragmente blieben. Je länger, je mehr stellte sich die Unmöglichkeit heraus, ohne eine Entlastung von den Geschäften und eine völlige Einkehr bei sich selbst einer Reihe größerer poetischer Pläne gerecht zu werden.
Der Schaffensdrang Goethes ruhte nicht; aus dem Mißverhältnis der Ansprüche, die er an sich selbst und welche die Welt an ihn stellte, erwuchs ihm manches Schmerzliche. Gleichwohl würde weder der Wunsch, seine angefangenen größern Werke zu beenden, noch die in den Jahren zwischen 1780 und 1786 allerdings ständig wachsende Sehnsucht Goethes, Italien [* 19] zu sehen und seine Jugendsehnsucht zu befriedigen, den Dichter zum raschen Abbruch all seiner heimischen Beziehungen und zum Entschluß einer fluchtähnlichen Reise nach Rom [* 20] bewogen haben. Es traten andre Momente hinzu. Herzog Karl August gewann die Ruhe zum patriarchalischen Fürsten seines kleinen Landes, die ihm Goethe gern anerzogen hätte, zunächst noch nicht und suchte Befriedigung für den Drang seiner Natur in größern ¶