Leidenschaft
(Sucht, lat. Passio, franz. und engl. Passion), s. v. w. unsittlicher Charakter, d. h. das Beherrschtsein des gesamten Wollens und Thuns durch einen leitenden unsittlichen Grundsatz (praktische Unvernunft). Dieselbe ist das Gegenteil des sittlichen Charakters, d. h. des Beherrschtseins des gesamten Wollens und Thuns durch einen leitenden sittlichen Grundsatz (praktische Vernunft, Gewissen, s. d.), und daher eins mit sittlicher Unfreiheit (Knechtschaft), wie dieser eins mit sittlicher Freiheit (Herrschaft der Vernunft).
Der in der Leidenschaft.
Befangene ist des
Gebrauchs und der Macht der
Vernunft, keineswegs aber, wie der vom »leidenscha
ftlichen«
Gefühl
(s. d.) oder blinden
Affekt (s. d.) Hingerissene, auch des
Gebrauchs und der Macht seines
Verstandes beraubt;
die Leidenschaft
macht zwar »taub« gegen die
Stimme des
Gewissens, an deren Statt sie vielmehr auf die »eigne
Stimme« hört, in Bezug
auf die
Zwecke, aber nicht notwendig blind gegen die Einsichten des
Verstandes in Bezug auf die
Mittel zur
Erreichung derselben.
Mit dem unter der Herrschaft der
Vernunft (des
Gewissens) stehenden
Freien verglichen, erscheint der unter der Herrschaft der
Leidenschaft
stehende Unfreie »wie von einem
Dämon besessen« (z. B. der Ehrgeizige, Habsüchtige etc.
vom
»Dämon« der Ehrbegier, Habgier etc.) und im Zustand demjenigen des (gleichfalls
unfreien) Geisteskranken oder (vorübergehend) unter dem Einfluß eines berauschenden
Getränks oder einer
heftigen
Gemütsbewegung
(Affekts) Befindlichen (ebenfalls Unfreien) ähnlich.
Wie
Affekt,
Rausch und
Geisteskrankheit, so hebt auch der Zustand der Leidenschaft
die moralische Verantwortlichkeit für das aus demselben
fließende
Wollen und
Thun auf (der Ehrgeizige, Habsüchtige kann nicht anders wollen und handeln, als
diese Leidenschaften
ihm auferlegen); keineswegs aber (sowenig wie beim
Rausch und in gewissem
Grad selbst beim
Affekt) wird
dadurch auch die moralische Verantwortlichkeit des von Leidenschaft.
Befangenen für dieses Befangensein selbst aufgehoben.
Amerikanische Völker

* 2
Amerika.
Die sittliche
Schuld des aus
Eifersucht Mordenden
(Othellos) liegt nicht darin, daß ihn die
Eifersucht zum
Mord
getrieben, sondern darin, daß er der
Eifersucht so viel unerlaubte Macht über sein
Wollen eingeräumt hat.
Dramatiker, die
ihre aus Leidenschaft
schuldigen
Helden entlasten wollen, suchen daher die Entstehung der und ihrer Macht über dieselben begreiflich
zu machen
(Macbeth,
Richard III.). Da jedes unsittliche
Wollen zur Leidenschaft
werden kann (wenn es zum alles Beherrschenden
wird), so kann es (dem
Inhalt nach) so vielerlei Leidenschaften
geben, wie es moralisch verwerfliche
Ziele des
Strebens gibt
(äußere
Ehre, Macht,
Besitz, sinnlicher
Genuß, Rachebefriedigung etc.). Der Form
nach lassen sich, je nachdem das unsittliche
Wollen von
Affekten begleitet und dadurch neben der
Stimme der
Vernunft auch noch jene des
Verstandes zum
Schweigen gebracht wird oder das Gegenteil stattfindet, hitzige (unkluge) und kalte (kluge) Leidenschaften
unterscheiden;
erstere schließen die verständige Berechnung aus, letztere ein; jene fallen mit den von
Kant sogen. Leidenschaften
der
Natur,
diese mit den von ihm sogen. Leidenschaften
der
Kultur nahe zusammen. Je nach der positiven (begehrenden)
oder negativen (verabscheuenden)
Beschaffenheit des der Leidenschaft
zu
Grunde liegenden
Strebens unterscheidet man sthenische (z. B.
Ruhmsucht, Herrschsucht, Erwerbsucht etc.) und asthenische (z. B.
Arbeitsscheu) Leidenschaften.
Vom moralischen
Gesichtspunkt aus ist jede Leidenschaft
(als unsittliches
Wollen) verwerflich;
die
Folgen
derselben können ebenso oft nützlich wie verderblich sein (die
Habsucht der
Spanier hat
Amerika
[* 2] entdeckt,
der
Ehrgeiz der Welteroberer
Hekatomben geschlachtet).