Titel
Herder
,
1)
Johann
Gottfried von, einer der hervorragendsten und einflußreichsten Schriftsteller und
Denker
Deutschlands,
[* 2] dem klassischen
Viergestirn von
Weimar
[* 3] von jeher hinzugezählt, aber erst in den letzten Jahrzehnten in seiner ganzen Bedeutung
wieder gewürdigt, ward zu
Mohrungen in
Ostpreußen
[* 4] als Sohn des
Kantors,
Glöckners und Schullehrers
Gottfried und dessen zweiter Ehefrau,
Anna
Elisabeth
Pelz, geboren. Die Verhältnisse seiner Eltern waren bescheiden und beschränkt,
nicht aber so dürftig, daß sie auf eine bessere
Erziehung ihrer
Kinder und namentlich des
Knaben, dessen Begabung früh zu
Tage trat, durchaus hätten verzichten müssen. Herder
besuchte die Stadtschule unter
Rektor Grim, erwarb in
ihr gute Kenntnisse und wurde zum
Studium der
Theologie bestimmt.
Auge des Menschen

* 5
Auge.
Erst die unerfreuliche
Thatsache, daß eine
Thränenfistel am rechten
Auge
[* 5] sein sonst wohlgebildetes
Gesicht
[* 6] entstellte, der
Druck und die
Not, welche mit dem Siebenjährigen
Krieg über die Bewohner von
Ostpreußen hereinbrach, vor
allem aber die unfreundliche und willkürliche Einmischung des seit 1760 an der Mohrunger Stadtkirche amtierenden Diakonus
S. F. Trescho, der Herders
Eltern zu bestimmen suchte, den
Knaben ein
Handwerk lernen zu lassen, kreuzten die künftigen Lebenspläne.
Trescho nahm den
Knaben um seiner Brauchbarkeit willen als
Famulus in sein
Haus, und des
Patrons litterarische
Thätigkeit wie seine
Bibliothek weihten denselben in mancherlei
Wissen und mancherlei
Mysterien der Litteratur ein. Im ganzen
war es eine
Lage, welche dem jungen Herder
unauslöschlich trübe und bittere
Erinnerungen hinterließ, und aus der er zuletzt
nur durch das Eingreifen eines russischen Regimentschirurgen erlöst wurde, der sich erbot, ihn zur Erlernung
der
Chirurgie nach
Königsberg
[* 7] und später nach
Petersburg
[* 8] mitzunehmen. Herder
langte im Hochsommer 1762 in der ostpreußischen
Hauptstadt an, und da er alsbald erkannte, daß er für den von seinem Beschützer in Aussicht gestellten
Beruf gänzlich
ungeeignet sei, ließ er sich 10. Aug. als Studiosus der
Theologie immatrikulieren. An dem Buchhändler
Kanter,
dem er sich schon von
Mohrungen aus durch Zusendung des
»Gesanges an
Cyrus« empfohlen hatte, gewann er einen hilfreichen
Gönner
und durch seine
Anstellung als
Lehrer an der
Elementarschule des
Collegium Fridericianum ward er der drückendsten
Not rasch überhoben
und überließ sich rückhaltlos seinem Bildungsdrang.
Rieux - Riga

* 9
Riga.
Bedeutenden Einfluß auf die geistige
Entwickelung des
Jünglings übte von den Universitätslehrern nur
Kant, außerhalb der
Universitätskreise aber der
»Magus aus Norden«, der originelle J. G.
Hamann. Unter den Einwirkungen seiner mannigfaltigen
und ausgebreiteten
Lektüre wirkte keine tiefer, sein ganzes
Wesen bestimmender als die der
Schriften J.
J.
Rousseaus. Herders
erste litterarische
Versuche waren Gedichte und
Rezensionen für
Kanters »Königsbergische
Zeitung«; daneben
regten sich mannigfache litterarische
Pläne. Im
Herbst 1764 ward als
Kollaborator an die
Domschule nach
Riga
[* 9] berufen, später
auch als Pfarradjunkt an den
Jesus- und Gertraudenkirchen angestellt, so daß er in der alten Hauptstadt
Livlands, die sich damals noch fast republikanischer Selbständigkeit erfreute, einen ausgebreiteten und nicht unwichtigen
Wirkungskreis fand. Die
Kreise
[* 10] des städtischen Patriziats Erschlossen sich dem jungen vielversprechenden Mann, der sich in
ihnen mancher Anregung und eines bis dahin ungekannten Lebensgenusses erfreute. Unter so günstigen Umständen eröffnete
Herder
mit den
»Fragmenten über die neuere deutsche Litteratur«
(Riga 1766-67),
Herder

* 11
Seite 8.414.dem Schriftchen »Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal, ¶
mehr
an seinem Grab errichtet« (das. 1768) und den »Kritischen Wäldern« (das. 1769) seine große litterarische Laufbahn. Mit den
Sätzen der »Litteratur-Fragmente«, daß die litterarischen Erzeugnisse
aller Nationen durch den besondern Genius der Volksart- und Sprache
[* 12] bedingt sind, daß darum die Nachahmung keiner fremden Litteratur
die deutsche fördern könne, mit der Polemik gegen das schon lange andauernde Übergewicht der lateinischen
Sprache und Litteratur hatte Herder
seine selbständige Stellung in dem großen Kampf der Zeit genommen.
Die Angriffe gegen die seichte und verächtliche Clique der Klotzianer waren nur Konsequenzen seiner Anschauungen. Gleichwohl
hatte sich Herder
Klotz und den Seinen gegenüber Blößen namentlich durch die Ableugnung der Autorschaft
der »Kritischen Wälder« gegeben und ward, wie im spätern Leben noch oft, in ärgerliche Händel verwickelt, die ihm selbst
das Behagen an seiner sonst so günstigen Stellung in Riga verleideten. Starker Reisedrang und das Verlangen, sich für eine
künftige große Wirksamkeit (welche er sich mehr als eine praktische denn als eine litterarische dachte)
allseitig vorzubereiten, veranlaßten Herder
, im Frühling 1769 seine Entlassung zu begehren, die man ihm gewährte in der Hoffnung,
daß er zurückkehren werde.
Schiff I

* 13
Schiff.Mit Beihilfe einiger nächster Freunde, namentlich seines Verlegers Hartknoch, trat er im Juni d. J. eine große Reise an, die ihn zunächst zu Schiff [* 13] nach Nantes [* 14] führte, von wo er im November nach Paris [* 15] ging. Weil er sich rasch überzeugen mußte, daß es nicht möglich sein werde, mehrjährige Reisen nur mit Unterstützung seiner Freunde durchzuführen, war ihm der Antrag des fürstbischöflich lübeckischen Hofs zu Eutin, den Erbprinzen Peter Friedrich Wilhelm als Reiseprediger zu begleiten, ganz willkommen.
Anfang 1770 kam er nach Eutin und brach im Juli d. J. von dort mit dem Prinzen auf. Noch vor der Abreise hatte ihn ein Ruf des
Grafen Wilhelm von Lippe
[* 16] in Bückeburg
[* 17] erreicht; gleich darauf lernte Herder
in Darmstadt
[* 18] seine nachmalige Gattin, Marie Karoline Flachsland
(geb. zu Reichenweier im Elsaß), kennen. Eine rasch gefaßte und erwiderte Neigung nährte in Herder
den Wunsch nach
festen Lebensverhältnissen. Er folgte dem Prinzen nur bis Straßburg,
[* 19] begehrte vom eutinischen Hof
[* 20] seine (im Oktober gewährte)
Entlassung, nahm die vom Grafen zur Lippe angetragene Stellung als Hauptprediger der kleinen Residenz Bückeburg
und als Konsistorialrat an, blieb aber dann um einer (leider mißglückten) Augenoperation willen den Winter in Straßburg und
knüpfte hier die freundschaftlichen Beziehungen zu dem um fünf Jahre jüngern Goethe an. Ende April 1771 trat Herder
seine neue
Stellung in Bückeburg an. Sein Verhältnis zu dem Landesherrn des kleinen Ländchens, dem berühmten Feldherrn
Grafen Wilhelm, ward bei aller Achtung, die der durch und durch soldatische und an keinen Widerspruch gewöhnte Fürst ihm zollte,
kein erfreuliches.
Berlin-Dresdener Eisen

* 21
Berliner.
Auch als Graf Wilhelms Gemahlin, die liebenswürdige fromme Gräfin Maria, sich Herder
in herzlicher Verehrung anschloß, betrachtete
dieser den Aufenthalt in Bückeburg als ein Exil. Verschönert ward ihm dasselbe durch die treue Liebe seiner
jungen Gattin, nachdem er im Mai 1773 Karoline Flachsland heimgeführt; resultatreich gemacht durch seine Studien und Arbeiten.
Die Zeit des Bückeburger Aufenthalts war für Herder
die eigentliche Sturm- und Drangperiode. Mit der geistvollen, von der Berliner
[* 21] Akademie preisgekrönten Abhandlung »Über den Ursprung
der Sprache« (Berl. 1772), die er noch in Straßburg begonnen, eröffnete er die lange Reihe
der verschiedenartigsten Schriften,
durch welche er bahnbrechend und pfadzeigend für die junge Litteratur ward, und in denen die Phantasie nicht bloß berechtigtermaßen
das erste, sondern manchmal auch das letzte Wort hatte. Mit den beiden Aufsätzen über »Ossian und die
Lieder alter Völker« und über »Shakespeare« in den fliegenden Blättern »Von deutscher Art und Kunst« (Hamb. 1773) und der
Schrift »Ursache des gesunkenen Geschmacks bei den verschiedenen Völkern, da er geblüht« trat er in den Mittelpunkt der Bewegung,
welche eine aus dem Leben stammende und auf das Leben wirkende, echte Natur atmende Dichtung wiedergewinnen
wollte.
Mit der Schrift »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« (o. O. [Riga] 1774) erklärte er der prahlerischen
und öden Aufklärungsbildung des Jahrhunderts den Krieg. Rief schon diese Arbeit die entschiedensten Widersprüche, ja Herabsetzungen
und Verlästerungen Herders
hervor, so war dies in noch höherm Grade der Fall bei Herders
theologischen
und halbtheologischen Schriften, der »Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts« (Riga 1774-76, 4 Tle.),
den »Briefen zweener Brüder Jesu in unserm Kanon« (Lemgo 1775),
Quelle

* 22
Quelle. den »Erläuterungen zum Neuen Testament, aus einer neueröffneten morgenländischen Quelle«
[* 22] (Riga 1775) und den 15 Provinzialblättern »An Prediger« (Leipz. 1774). Die Angriffe, die er erfuhr, veranlaßten
ihn, seine schon zum Druck vorbereitete Sammlung der »Volkslieder« zurückzuhalten. Sie brachen ihm den Entschluß des Weiterwirkens
nicht, aber sie steigerten eine hypochondrische Reizbarkeit und ein dämonisches Mißtrauen, welche in Herders
Seele früh
erwacht waren. Herder verhandelte eben wegen einer Berufung an die Universität Göttingen
[* 23] (wo man ihm ein Kolloquium
zur Prüfung seiner angezweifelten Orthodoxie auferlegen wollte), als ihm durch Goethes freundschaftliche Bemühungen im Frühjahr 1776 die
Vokation als Generalsuperintendent, Mitglied des Oberkonsistoriums und erster Prediger an der Stadtkirche zu Weimar zu teil ward.
Sein Weggehen von Bückeburg folgte dem Tod seiner Gönnerin, der Gräfin Maria, fast auf dem Fuß. Am traf Herder, der besten Erwartungen und des besten Willens voll, in Weimar ein. Da aber gleich im Beginn seiner Wirksamkeit ein Versuch gemacht wurde, ihm seine eigentliche Gemeinde zu entziehen, und Herder nur durch die tapfere Erklärung, unter solchen Umständen lieber auf den Antritt seines Amtes verzichten zu wollen, das Feld behauptete, so war auch hier von Haus aus ein Argwohn und bitteres Gefühl wachgerufen.
Herder

* 25
Seite 8.415.Herders amtliche Stellung wie persönliche Natur verboten ihm, an dem rauschenden Karneval in den ersten Regierungsjahren Karl Augusts Anteil zu nehmen. Obschon er rühmte: »Ich bin hier allgemein beliebt, bei Hofe, Volk und Großen, der Beifall geht ins Überspannte. Ich lebe im Strudel meiner Geschäfte einsam und zurückgezogener, als ich in Bückeburg nur je gelebt habe«, so blieben Mißhelligkeiten nicht aus. Da H. wahrzunehmen glaubte, daß in dem engern Kreis [* 24] des Herzogs eine gründliche Gleichgültigkeit, ja verächtliche Geringschätzung gegen Kirche und Schule vorherrsche, vertrat er nicht nur, was sein gutes Recht war, deren Interessen aufs kräftigste und eifrigste, sondern setzte sich in Opposition gegen nahezu alle Meinungen, Richtungen und Neigungen jenes Kreises, und so gewiß Weimar eine große Verbesserung Bückeburg gegenüber heißen durfte, so fühlte sich Herder von der Kleinlichkeit und Enge auch vieler weimarischer Verhältnisse gedruckt. Dennoch wirkte die ¶
mehr
veränderte Lage günstig auf ihn, und wenn er auch herkömmlich über mancherlei Bürden seines Amtes klagte, so nahm gleichwohl seine litterarische Produktivität einen großen und immer gewaltigern Aufschwung. Der Läuterungsprozeß, durch welchen sich die hervorragendsten Repräsentanten des Sturms und Dranges in die Hauptträger der deutschen klassischen Litteratur verwandelten, nahm auch bei Herder zu Ausgang der 70er Jahre seinen Anfang. Die hochbedeutsame philosophische Abhandlung »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume« (Riga 1778),
die »Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum« (das. 1778) und die Herausgabe der »Lieder der Liebe« (Leipz. 1778) sowie der längst vorbereiteten »Volkslieder« (erst später von Johannes v. Müller »Stimmen der Völker in Liedern« betitelt, das. 1778-79) waren seine ersten von Weimar aus in die Welt gesandten Publikationen. Die von der Münchener Akademie preisgekrönte Abhandlung »Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten« (1778) galt einem neuen Nachweis, daß echte Poesie die Sprache der Sinne, erster mächtiger Eindrücke, der Phantasie und der Leidenschaft, daher die Wirkung der Sprache der Sinne allgemein und im höchsten Grad natürlich sei, eine Wahrheit, welche die mit umfassender Litteraturkenntnis ausgewählten, lebendig nach- und anempfundenen, zum größten Teil vorzüglich übersetzten »Volkslieder« eben weiten Kreisen zum Bewußtsein brachten.
Einen höchst glücklichen Einfluß auf Herders weitere geistige Entwickelung übte seit den ersten 80er Jahren das wiederhergestellte innige Verhältnis Herders und seines Hauses zu Goethe. Herder trat in den regsten Gedankenaustausch wie in den lebendigsten persönlichen Verkehr zu dem jüngern Freund, und während er seinen Weg unter dessen bewundernder Teilnahme weiter verfolgte, steigerte sich sein Gefühl für Schönheit und Klarheit des Vortrags, selbst sein poetisches Ausdrucksvermögen durch den reinen Formensinn Goethes. In seinem Familienleben ward Herder durch die dauernde tiefinnige Liebe seines Weibes und die erfreulich heranwachsenden Kinder beglückt.
Freilich brachten auch die Sorgen um die Bildung und Zukunft dieser Kinder, eine gewisse Großartigkeit seines Naturells, welche mit den nicht dürftigen, aber mäßigen Einnahmen nie völlig in Harmonie kam, und mancherlei Krankheiten Herders, für welche er schon seit 1777 auf Badereisen Erholung zu suchen hatte, dunkle Stunden und Tage auch in diese lichtesten Jahre von Herders Leben. In ebendiesen 80er Jahren entstand beinahe alles, was Herders immer genialem Wirken durch innere Reife und äußere Vollendung bleibende Nachwirkung sicherte.
Despot - Dessau

* 26
Dessau.Bezogen sich die »Briefe, das Studium der Theologie betreffend« (Weim. 1780-81, 4 Tle.) und eine Reihe von vorzüglichen Predigten auf Herders Amt und nächsten Beruf, so leitete das große, leider unvollendet gebliebene Werk »Vom Geiste der Ebräischen Poesie« (Dessau [* 26] 1782-83, 2 Tle.) von der Theologie zur Poesie und Litteratur hinüber. Aus der tiefsten Mitempfindung für die Naturgewalt, die Frömmigkeit und eigenartige Schönheit der hebräischen Dichtung wuchs ein Werk hervor, von welchem Herders Biograph (R. Haym) mit Recht rühmt, daß es »für Kunde und Verständnis des Orients Ähnliches geleistet wie Winckelmanns Schriften für das Kunststudium und die Archälogie ^[richtig: Archäologie]«. 1785 aber begann Herder die Herausgabe seines großen Hauptwerkes, der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (Riga 1784-91, 4 Bde.), die endliche Ausführung eines Lieblingsplans, die breitere Ausführung von Gedanken, welche er längst in kleinern Schriften in die Welt gesandt hatte, und wiederum die energische Zusammenfassung alles dessen, was er über Natur und Menschenleben, die kosmische Bedeutung der Erde, über die Aufgabe des sie bewohnenden Menschen, »dessen einziger Daseinszweck auf Bildung der Humanität gerichtet ist, der alle niedrigen Bedürfnisse der Erde nur dienen und selbst zu ihr führen sollen«, was er über Sprachen und Sitten, über Religion und Poesie, über Wesen und Entwickelung der Künste und Wissenschaften, über Völkerbildungen und historische Vorgänge gedacht und (wie seine Gegner erinnerten) geträumt hatte. Die Aufnahme des Werkes entsprach dem großen Verdienst desselben. Gleichzeitig veröffentlichte Herder die hochinteressante und nach den verschiedensten Richtungen bedeutende Sammlung seiner »Zerstreuten Blätter« (Gotha [* 27] 1785-97, 6 Tle.), in welcher eine Reihe der schönsten Abhandlungen und poetischen Übersetzungen die Geistesfülle und sittliche Grazie des Schriftstellers in herzgewinnender Weise offenbarte.
Italien

* 28
Italien.Einen großen Abschnitt in Herders Leben bildete die Reise, welche er 1788-89 nach Italien [* 28] unternahm. Seine hypochondrische Reizbarkeit und mancherlei ungünstige Zufälle wirkten zusammen, ihn eigentlich nur in Neapel [* 29] zum Vollgenuß dieser Reise kommen zu lassen; doch empfing er bedeutende und bleibende Eindrücke, die vielleicht noch günstiger gewirkt hätten, wenn ihn nicht in Italien eine abermalige ehrenvolle und vielverheißende Berufung nach Göttingen erreicht und die schwere Frage des Gehens oder Bleibens in Weimar ihn während der Rückreise gequält hätte.
Goethe, von der Erwägung ausgehend, daß der Freund dem Kathederärger in Göttingen noch weniger gewachsen sein werde als dem Hof- und Konsistorialärger in Weimar, wirkte für Herders Bleiben und konnte im Einverständnis mit dem Herzog Tilgung der Herderschen Schulden, Gehaltsverbesserungen und mancherlei tröstliche Verheißungen für die Zukunft bieten. In seinen freundschaftlichen Erwägungen hatte er nur vergessen, daß in gewissen Lebenslagen und Gemütszuständen die bloße Veränderung eine Wohlthat und Notwendigkeit sein kann. Herder ließ sich mit einem gewissen Widerwillen zum Bleiben bestimmen, beide Freunde sollten dieser Entscheidung nur kurze Jahre froh werden.
Leichlingen - Leidener

* 30
Leiden.Herders Gesundheitszustände waren nur vorübergehend gebessert, körperliche Leiden [* 30] brachen ihm Lebenslust und Arbeitskraft; der fünfte Teil der »Ideen« blieb ungeschrieben, und bereits die »Briefe zur Beförderung der Humanität« (Riga 1793-97, 10 Sammlungen) trugen die Farbe seines verdüsterten Geistes. Die materiellen Sorgen im Herderschen Haus hatten sich leider nur vorübergehend gemildert, und die nur halb gerechtfertigten Ansprüche, welche und seine Gattin auf Grund der Abmachungen von 1789 erhoben, führten zu einem unheilbaren Bruch mit Goethe. Herder hatte schon zuvor mit reizbarer Eifersucht die wachsende Intimität zwischen Goethe und Schiller betrachtet. So trat allmählich ein Zustand der Isolierung und kränklich verbitterten Beurteilung alles ihn umgebenden Lebens bei ein. Die geistigen Gegensätze, in denen er sich zur Philosophie Kants, zur klassischen Kunst Goethes und Schillers fand, verstärkte und verschärfte Herder gewaltsam und ließ sie in seinen litterarischen Arbeiten mehr und mehr hervortreten. Zwar gab er, sowie er auf neutralem Gebiet stand, auch jetzt noch Vorzügliches und Erfreuliches. ¶
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Herder,
1) Johann Gottfried von.
Sein Briefwechsel mit Nicolai (Berl. 1887) und mit J. G. ^[Johann Georg] Hamann (das. 1889) wurde von O. Hostmann herausgegeben.
Vgl. auch Witte, Die Philosophie unsrer Dichterheroen, Bd. 1: »Lessing und Herder« (Bonn [* 31] 1880);
Kronenberg, Herders Philosophie (Heidelb. 1889).