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einfache entstehen niemals in lebenden Organismen. Ließ man die Einteilung in organische und unorganische Chemie fallen, so konnte man dafür eine andre, nach welcher die Verbindungen des Kohlenstoffs von denen der übrigen Elemente gesondert behandelt werden sollten, wenigstens in dem oben angedeuteten Sinn, auch nicht aufrecht erhalten; wohl aber hat man ohne alle Rücksichtnahme auf das Vorkommen oder Nichtvorkommen der Stoffe in Organismen die Kohlenstoffverbindungen, welche so ungemein zahlreich sind und vielfach andre Erscheinungen darbieten, für sich behandelt, und an ihrem Studium hat die Chemie einige ihrer größten Fortschritte gemacht.
Die neuen Theorien sind zunächst speziell für die Kohlenstoffverbindungen ausgebildet und erst später auf die sogen. unorganische Chemie angewendet worden. Daß aber der Kohlenstoff nicht in einem besondern Gegensatz zu den übrigen Elementen sich befindet, zeigen jene Verbindungen, in welchen Metalle, Phosphor, Antimon, Arsen etc. in Kohlenstoffverbindungen eintreten, um Körper zu bilden, welche stickstoffhaltigen Kohlenstoffverbindungen an die Seite gestellt werden können. Besonders aber bilden die Kiesel- oder Siliciumverbindungen einen unmittelbaren Übergang. Es ist nämlich eine Reihe von Körpern dargestellt worden, welche ganz genau gut studierten Kohlenstoffverbindungen entsprechen, aber an Stelle der Kohlenstoffatome gleich viele Kieselatome enthalten. Man kennt eine Kieselessigsäure, Kieselpropionsäure, Kieselbenzoesäure und auch zusammengesetzte Äther dieser Säuren.
Der reinen Chemie, welche sich lediglich der Erforschung der chemischen Verhältnisse der Elemente und ihrer Verbindungen widmet, steht die angewandte Chemie gegenüber, welche die bei andern Disziplinen in Betracht kommenden chemischen Verhältnisse kennen lehrt. Sie hat einen ungemein großen Umfang, denn die Chemie tritt als Hilfswissenschaft sehr vieler andern Wissenschaften auf, und fast alle verdanken ihr einen großen Teil ihrer Erfolge. Die Chemie lehrt die Zusammensetzung der Mineralien [* 2] und ihre Wandlungen durch die in den Gesteinen verlaufenden chemischen Prozesse.
In der Geologie [* 3] datiert eine neue Epoche von jener Zeit, wo man anfing, bei der Deutung geologischer Erscheinungen die Chemie zu Rate ziehen. Und nicht bloß mit unserm Erdkörper hat sich die Chemie in solcher Weise beschäftigt, sie wurde durch die Spektralanalyse [* 4] auch befähigt, ferne Weltkörper und die Nebelflecke [* 5] zu untersuchen, und hat in dieser Anwendung auf die Astronomie [* 6] eine ganz neue Wissenschaft begründet. Die Pflanzenchemie lehrt die Bestandteile der Pflanzen kennen, erforscht deren Bildung und Umwandlung in der Pflanze und gewährt uns damit eine Vorstellung vom Leben dieser Organismen.
Dabei kommen auch das Verhältnis der Pflanze zum Boden und die Chemie des letztern in Betracht, und so entsteht die Agrikulturchemie, deren Ergebnisse als eine der wesentlichsten Grundlagen der modernen rationellen Landwirtschaft gelten können. Die Tierchemie verfolgt ähnliche Zwecke im Tierreich, sie befähigt den Landwirt, seine Haustiere rationell zu ernähren, um den größten Ertrag an Fleisch, Fett, Milch etc. zu erzielen; aber sie stellt sich auch höhere Aufgaben und sucht vor allem die Erscheinungen des Lebens zu deuten, auf chemische Verhältnisse, soweit solche dabei in Frage kommen, zurückzuführen.
Die so durch die physiologische Chemie gewonnene Erkenntnis wird dann die Basis der Diätetik und der Heilkunde für Menschen und Tiere, denn auch die krankhaften Vorgänge bilden ein Objekt der Forschung, und indem man die chemische Natur dieser Vorgänge erkennt, ergibt sich in vielen Fällen zugleich das Mittel, durch welches sie bekämpft werden können. Die Chemie hat der Heilkunde reinere Arzneimittel geliefert, sie hat aus den Pflanzenstoffen die wirksamen Bestandteile abgeschieden und in diesen viel zuverlässigere Arzneimittel hergestellt, als die Kräuter und Rinden mit ihrem wechselnden Gehalt sein konnten.
Sie hat aber auch ganz neue Heilmittel entdeckt, welche heute zum Teil die wichtigsten Dienste [* 7] leisten. Chloroform, Chloralhydrat, Apomorphin, Amylnitrit sind einige solcher Präparate, deren Zahl sich von Jahr zu Jahr vergrößert. Die durch das Mikroskop [* 8] ermöglichte Erforschung des feinsten Baues der Organismen mußte lange auf Unterscheidung der stofflichen Verschiedenheit der sichtbar gemachten morphotischen Teile verzichten, bis die Mikrochemie die Reagenzien auffand, welche, zu dem mikroskopischen Präparat hinzugefügt, charakteristische Färbungen hervorbringen.
Auch die Gestalt und die Gruppierung mikroskopischer Kristalle [* 9] boten Gelegenheit zur Unterscheidung minimaler Mengen verschiedener Körper. Mit großem Erfolg wurde die Mikrochemie auch für die mikroskopische Erforschung der Gesteine ausgebildet. Die Technik, welche so lange auf die roheste Empirie angewiesen war, hat durch die technische Chemie eine ganz neue Gestalt gewonnen. Die Chemie lehrte die Beschaffenheit der Rohstoffe kennen und ermöglichte eine passende Auswahl unter denselben; sie zeigte die Wandlungen dieser Rohstoffe in den verschiedenen technischen Prozessen und gab Rechenschaft über die Erfolge der einzelnen Methoden.
Nicht alle Zweige der Technik haben sich gleich willig gezeigt, die Chemie als Führerin zu acceptieren; wo dies aber rückhaltlos geschah, sind außerordentliche Resultate erzielt worden. Ein glänzendes Beispiel bieten die Rübenzuckerfabrikation und die Farbentechnik, welche durch die zahlreichen schönen Teerfarbstoffe so wesentlich bereichert wurde. Der Technik kamen alle jene Forschungen zu gute, welche der künstlichen Darstellung von Pflanzenstoffen galten.
Die Gewinnung des Alizarins oder Krappfarbstoffs aus dem im Steinkohlenteer enthaltenen Anthracen machte dem Krappbau ein Ende und ließ eine Anzahl von Fabriken entstehen, welche diesen Körper für die Färbereien und Druckereien herstellen. Auch Benzoesäure, Senföl, Baldriansäure etc. werden jetzt fabrikmäßig ohne Benzoegummi, Senfsamen und Baldrianwurzel gewonnen, und die neueste Entdeckung betrifft die Darstellung des Vanillearomas aus Nadelhölzern und des Indigos aus Steinkohlenteer.
Die analytische Chemie leistet die wesentlichsten Dienste zur Beurteilung der Handelsartikel. Die Fabrikate der chemischen Großindustrie werden meist mit Angabe ihres Gehalts auf den Markt gebracht; auch für den Spiritus [* 10] gilt derselbe Gebrauch, und der Konsument erhält dadurch eine Sicherheit, welche auf keine andre Weise zu erreichen ist. Nur durch eine öffentlich geübte chemisch-analytische Überwachung der Waren kann der vielfach überhandnehmenden Verfälschung wirksam vorgebeugt werden. Die Chemie weist genau den oft durch künstliche Mittel verdeckten wahren Wert der Handelsartikel nach und entlarvt den Schwindel, der sich besonders im Geheimmittelwesen breit macht. Hier beginnt auch das Gebiet der gerichtlichen Chemie, welche das Verbrechen verfolgt, durch den Nachweis von Gift, Blut, Sperma etc. ein Corpus delicti von hoher Beweiskraft schafft, oder durch die Enthüllung der wahren Beschaffenheit einer Ware u. dgl. den Streit schlichtet. ¶
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Der Chemiker bedarf zu seinen Arbeiten eines ziemlich umfangreichen Apparats. Derselbe besteht größtenteils aus Glas-, Porzellan- oder Metallgeräten und enthält Becher [* 12] und Schalen, Cylinder, Trichter, Kochfläschchen, Retorten, Kolben, gerade und gebogene Röhren, [* 13] zum Teil mit angeblasenen Kugeln, graduierte Röhren und solche, die mit verschiedenen absorbierenden Stoffen, besonders mit dem hygroskopischen Chlorcalcium, gefüllt sind, dann Gasometer, Aspiratoren, Luftpumpen, [* 14] Papinianische Töpfe, Tiegel, Schmelz- und Glühöfen von verschiedener Form, Sand-, Wasser-, Metall- und Luftbäder, Trockenapparate, Spirituslampen oder mit Gas zu speisende Heizvorrichtungen, das Lötrohr, [* 15] Zangen, Mörser etc., vor allem aber die Wage, [* 16] durch welche in die Untersuchungen Sicherheit gebracht und viele Verhältnisse überhaupt erst erkennbar werden. Das chemische Laboratorium (s. Laboratorium) [* 17] bietet Gelegenheit zur bequemen und möglichst vollkommenen Ausführung der Experimente und enthält alle Vorrichtungen, welche diese erleichtern und Schutz vor Gasen, Dämpfen etc. gewähren.
Geschichte der Chemie.
Über die ersten Anfänge der Chemie ist nichts Sicheres bekannt. Zweifellos sind chemische Prozesse zu irgend welchen Zwecken schon sehr früh ausgeführt worden, denn menschliche Thätigkeit ist überhaupt gar nicht denkbar, ohne daß die Körper, auf welche sie sich bezieht, mehr oder weniger chemisch verändert werden. Jede Verbrennung ist ein chemischer Prozeß, und die Gewinnung der Metalle aus ihren Erzen beruht gleichfalls auf chemischen Vorgängen. Von solchen und ähnlichen Arbeiten finden wir mehrfache Spuren bei allen Kulturvölkern schon in den ältesten Zeiten; aber in Ägypten [* 18] scheint man zuerst chemische Thatsachen zusammengestellt und chemische Untersuchungen in solcher Weise ausgeführt zu haben, daß von einer Wissenschaft die Rede sein konnte.
Man hat daher dem Namen der Wissenschaft, welchen einige vom griechischen cheo oder cheuo, ich gieße, ableiten wollen, auch mit Chemi, Cham, Chami, dem Namen, mit welchem die Ägypter ihr Land wegen seines schwarzen Erdreichs bezeichneten (Plutarch, De Iside et Osiride), in Verbindung gebracht. Mit demselben Wort bezeichnete man aber auch das Schwarze im Auge, [* 19] das Symbol des Dunkeln und Verborgenen, und so bedeutete Chemie ursprünglich die ägyptische oder geheime Wissenschaft, wie sie später noch die geheime oder schwarze Kunst genannt wurde.
Der Ausdruck Scientia chimiae findet sich schon bei Julius Firmicus Maternus, einem Schriftsteller, der zu Ende des 3. oder zu Anfang des 4. Jahrh. lebte, und Diokletian soll die Bücher der Ägypter »über die Chemie des Goldes und Silbers« verbrannt haben; jedenfalls ging das alte Wissen größtenteils bei der Zerstörung der alexandrinischen Bibliothek (640) verloren, und wissenschaftliche Thätigkeit begann erst von neuem unter der Herrschaft der Araber. Dem Namen der Wissenschaft wurde der arabische Artikel al angefügt, und es begann das Zeitalter der Alchimie (s. d.). Die Lehren [* 20] des Aristoteles, welche so viele Jahrhunderte hindurch das ganze geistige Leben beherrschten, gaben auch der Entwickelung der Chemie ihre Richtung an. Allem Seienden liegt nach Aristoteles der Urstoff (die Materie) zu Grunde; dieser ist das völlig Prädikatlose, Unbestimmte, Unterschiedslose, dasjenige, was allem Werdenden als Bleibendes zu Grunde liegt und die entgegengesetzten Formen annimmt, was aber selbst seinem Sein nach von allem Gewordenen verschieden ist und an sich gar keine bestimmte Form hat. Durch Zweijochung der Grundeigenschaften oder Gegensätze auf dem Urstoff entstehen die vier Elemente, die ihrer Art nach nicht weiter teilbaren Grundbestandteile der Körper, welche man gleichsam als Allotropien des Urstoffs betrachten könnte. Es sind:
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Diese Elemente sind einfache materielle Körper, Träger [* 21] gewisser physikalischer Eigenschaften und besitzen die Fähigkeit, durch Wechsel der Eigenschaften ineinander überzugehen. Gilt dies aber als feststehend, so kann alles aus allem werden, und von diesem Standpunkt aus hat man die Bestrebungen zu beurteilen, welche jahrhundertelang in der Chemie vorherrschten. Die Metalle mußten durch ihre Eigenschaften die Aufmerksamkeit von vornherein in hohem Grad fesseln, und so ist begreiflich, daß die Metallverwandlung, in erster Linie die Erzeugung von Gold, [* 22] als Hauptaufgabe betrachtet wurde.
Die Möglichkeit der Metallverwandlung mußte auch, abgesehen von allen theoretischen Spekulationen, den mit der Zusammensetzung der Körper nicht Vertrauten bei der Verarbeitung von Erzen ohnehin einleuchten, und in der That reichen die Bemühungen, Gold zu machen, bis in das höchste Altertum zurück. Die durch die Araber eingeleitete Periode der Alchimie ist aber ganz besonders durch die Herrschaft des Gedankens von der Möglichkeit der Metallverwandlung gekennzeichnet.
Männer von unzweifelhaft hoher wissenschaftlicher Bedeutung sprechen aus voller Überzeugung von der Wahrheit der alchimistischen Theorie, und nichts berechtigt uns, eine absichtliche Täuschung anzunehmen. Man muß vielmehr an die unvollkommenen Hilfsmittel, die jenen zu Gebote standen, denken und begreift dann leicht, daß sie von Metallverwandlung sprachen, wenn sie aus Bleiglanz bei gewissen Operationen Silber erhielten; denn den geringen Silbergehalt des Bleiglanzes (den sie nur abzuscheiden brauchten) vermochten sie nicht zu erkennen. Es kommt noch hinzu, daß ein gewisser mystischer Zug, welcher jene Zeiten beherrschte, und dann auch der Eigennutz die allgemeine Verwertung der Erfahrungen des einzelnen verhinderten, so daß jeder ganz allein auf sein eignes Erkenntnisvermögen angewiesen blieb.
Ein unwissenschaftlicher Geist kam erst in die Alchimie durch das Suchen nach dem »Stein der Weisen«, einer Substanz, durch welche man alle Metalle in Gold verwandeln und alle Krankheiten heilen könne (vgl. Alchimie). Unter allen Chemikern dieser Periode ragt der arabische Arzt Geber (Abu Musa Dschabir al Kufi), welcher im 8. Jahrh. in Kufa lebte, hervor. Er beschrieb Öfen [* 23] zum Kalcinieren und Destillieren, kannte die Kupellation von Gold und Silber mittels Bleies, das Quecksilberchlorid und das rote Quecksilberoxyd, das salpetersaure Silberoxyd, Salmiak, Eisen- und Kupfervitriol, Pottasche und ¶