Titel
Englische
[* 2] Litteratur
1890-91.
Der englische
Buchhandel und mit ihm das gesamte Schrifttum englischer
Sprache
[* 3] sowohl
diesseit als jenseit des Weltmeers ist in diesem Jahr durch die neue
Gesetzgebung der
Vereinigten Staaten
[* 4]
Nordamerikas (s.
Urheberrecht)
in veränderte Lebensbedingungen eingetreten. Da bisher ein thatsächlicher
Schutz der
Urheberrechte fehlte, so wurden einige
amerikanische Erzeugnisse in
England und sehr viele englische
in
Amerika
[* 5] nachgedruckt, in den allermeisten
Fällen ohne alles
Honorar für die Verfasser. In Zukunft wird der englische
Schriftsteller aus den in
Amerika verkauften
Exemplaren
seiner Werke einen Vorteil ziehen, der sich bei Einstreichung seines
Honorars bemerkbar machen wird.
Dagegen wird die Zahl der
Exemplare, welche ihren
Weg in die
Hände amerikanischer
Leser findet, sehr beträchtlich
abnehmen, und dies mag schließlich auch auf seinen
Ruf und
Ruhm in
England selbst einen ungünstigen Einfluß ausüben. Der
amerikanische Schriftsteller, der etwas Ordentliches zu liefern weiß, wird bei der neuen Regelung der
Dinge nur gewinnen.
Bisher (wenn er nicht etwa schon im allerersten
Rang stand) konnte er keine großen Ansprüche auf
Honorar
erheben, denn der amerikanische Verleger oder
Nachdrucker hatte ja um den bloßen
Preis des
Papiers, des
Druckes und der Versendung
beinahe jedes englische
Meisterwerk zu seiner
Verfügung.
Unterdessen zeigt die litterarische Thätigkeit Englands kein Nachlassen, keine Ermüdung, wenn auch keinen neuen Aufschwung. In der metrischen
tritt uns neben einigen neuen
Namen zunächst wieder
Sir Edwin
Arnold entgegen. Dieser mit
Indien sehr vertraute Mann hatte vor
einigen
Jahren mit seinem großen Gedicht: »The light of Asia« einen großen,
wohlverdienten Erfolg errungen, zu welchem vielleicht die allgemeine
Aufmerksamkeit, die der
Buddhismus
in unsern
Tagen erregt, beigetragen hat. Nachdem er seither mehrere
Bände ansprechender Gedichte herausgegeben über die von
uns schon früher (s. Bd. 17, S. 291
) berichtet worden ist, ließ er sich verleiten, jenem trefflichen
Werk ein Seitenstück oder eine Fortsetzung folgen zu lassen, doch
ist er hinter seiner frühern Leistung
zurückgeblieben. Diesmal sollte das
Christentum verherrlicht, aber auch
Nachdruck auf manche Übereinstimmung mit dem
Buddhismus
gelegt werden. Zu rechtem dramatischen oder auch epischen
Leben gedeiht aber die
Dichtung nicht, wenn auch die beabsichtigte
Verknüpfung der beiden
Religionen und die edle
Sprache des Verfassers nicht ohne Anziehungskraft bleibt.
Ähnlich ist es Lewis Morris ergangen. Nachdem er 1877 ein mit Beifall aufgenommenes »Epic of Hades« geschrieben, versuchte er jetzt »A vision of Saints« anzuhängen. Milton und Dante haben ihn vergeblich gewarnt. In der Dichtung läßt sich eben mehr Gold [* 6] mit dem Teufel aus der Hölle holen als mit einem ganzen Heer von Engeln aus dem Himmel. [* 7]
Zwei edle Dichternamen begegnen uns, aber es sind nicht die der Hauptträger derselben. Frederic Tennyson, ein jüngerer Bruder des Lords, schon durch seine »Isles of Grece« vorteilhaft bekannt, veröffentlichte »Daphne, and other Poems«, von verschiedenem Wert, und Robert Lord Houghton, der Sohn des in seiner Jugend als Monkton Milnes bekannten Dichters, gibt uns einen Band [* 8] »Stray Verses«, in dem sich in Form und Gedanken viel Reizendes findet. Ähnlich Anmutiges, bisweilen auch Schelmisches oder Tiefes bietet das Bändchen »Ionica«, klassische Formen in großer Schönheit der Sprache nachahmend, teilweise wirkliche Übersetzungen, teilweise nur vom Geiste der klassischen Welt durchhauchte Neubildungen.
Ein Teil dieser klar gebauten Verse wurde unter demselben Titel vor 20 Jahren einem gewählten Publikum dargereicht; etwa die Hälfte ist neu. Die Verfasser bleiben ungenannt. Arthur Munby, der in seinem größern Gedicht: »Dorothy«, und anderwärts sich mit der Frage der Frauenarbeit befaßt hat, gibt aus dem Schatz langjähriger Lebenserfahrung mancherlei Lesbares in »Vestigia retrorsum«. Der Historiker Lecky setzte seine Leser in Erstaunen, indem er zwischen die Vollendung seiner großen »Geschichte Englands im 18. Jahrhundert« (s. Bd. 18, S.246) und die Vorbereitung der größern Arbeit, mit der er sich in Holland beschäftigt, ein Bändchen »Poems« einschob.
Posthum erschienen die »Poems« eines irischen Revolutionärs, dem die poetische Ader leichthin floß, des John Francis O'Donnell, mit Einleitung von Dowling. Einen neuen Dichter lernen wir in William Watson kennen, welcher in »Wordsworth's Grave« und andern Gedichten sich und uns von der schwülstigen und dunkeln Sprache befreit, deren Anfänge schon bei Shelley liegen und in Browning und vielen Neuern zum Übermaß gelangt sind; auf Milton, Grey, Burns, Wordsworth zurückgreifend, gibt er uns gesundes Gefühl in klaren, gedrungenen, wohlgefeilten Versen.
Der größere Teil von John Ruskins »Poems« war schon 1850, aber nur zur Privatverteilung, gedruckt, so daß der Band selbst um hohen Preis kaum zu erlangen war und selbst in der Bücherei des Britischen Museums fehlte. Nun hat der Greisende durch öffentliche Herausgabe und Beifügung einiges Neuern seinen zahlreichen Anhängern große Freude gemacht. Ein vielversprechender junger Dichter, J. K. Stephen, dessen »Lapsus calami« zu Anfang des Jahres verdientes Aufsehen gemacht, gab kürzlich seinen zweiten Band heraus: »Quo Musa tendis?«, und starb einige Wochen nachher.
Drama.
Was immer im allgemeinen die
Folgen der neuen amerikanischen
Gesetzgebung in Zukunft sein mögen, auf das
Drama machen sie sich
unmittelbar geltend, und zwar insofern, als sie das
Theater
[* 9] mehr als seither mit der Litteratur
verknüpfen
werden. In dieser Beziehung wenigstens streben wir nach dem Zustand zurück, der zu
Shakespeares
Zeiten und auch noch später
bestand. Neuerdings hatten wir Buchdramen, die mit seltenen Ausnahmen gar nicht auf die
Bühne abzielten oder, wenn sie einmal
dahin gelangten, dort nur eine
Niederlage, im bessern
Fall höchstens einen vorübergehenden succès d'estime
davontrugen, worüber
Lord
Tennyson viel berichten könnte. Anderseits
gab es nur Bühnendramen, gute, mittelmäßige und schlechte,
deren
Autoren alle gar keinen Anspruch machten, sich gedruckt zu sehen.
Kaum jemals las jemand ein
Drama. Der
Ursachen waren zwei: erstens die massenhafte
Entwickelung der Romanlitteratur
und die Entfaltung der halbdramatischen Behandlungsweise des
Romans;
zweitens der Wunsch, das Eigentumsrecht der Bühnenstücke zu wahren, welches durch die gleichsprachigen Amerikaner gefährdet war. Im Druck war man dem Nachdruck ausgesetzt.
Solange das Stück im Manuskript blieb, war man sicher, und wer im Schauspielhaus etwa stenographisch das Gesprochene aufzeichnen wollte, wurde kurzweg hinausgeworfen. Unter diesen Umständen machte sich nur selten ein bedeutendes ¶
mehr
litterarisches Talent an das Bühnendrama. Henry Arthur Jones indessen (s. d.), dessen »Middleman«, seither unter dem Titel: »Arbeit« auch auf der deutschen Bühne beifällig aufgenommen, und »Judah« wir im vorigen Jahr zu verzeichnen hatten, und dessen »Dancing Girl« im laufenden einen großen Erfolg hatte, nimmt nun eine entschiedene Stellung ein. Er veröffentlicht seine dramatischen Werke, deren erster Band: »Saints and Sinners«, mit einer orientierenden Einleitung kürzlich erschien, und er hat selbst die Leitung einer Bühne übernommen, die er mit seinem neuesten Stück: »The Crusaders«, eröffnete.
Pinero, ein andrer Versorger der Bühne, tritt ebenfalls vor die Lesewelt, und die Hoffnung, daß nunmehr
die englische
Bühne nicht bloß durch die Ausstattung, sondern auch durch den Wert des Ausgestatteten sich wieder auf eine
höhere Stufe erheben möge, scheint nicht unberechtigt. Die neuerdings allgemein verbreitete Freude am Liebhabertheater, von
dem aus manche tüchtige Kräfte zur öffentlichen Bühne übergehen, mag dazu mithelfen. Die Verehrer Ibsens haben
ihre Versuche wiederholt, ihn beim englischen
Publikum beliebt zu machen; es ist ihnen nur bei den Kritikern gelungen, und
auch bei diesen nur zum Teil.
Allerdings hatte »Hedda Gabler« einen unbestreitbaren Augenblickserfolg, der dem Ungeheuerlichen des Titelcharakters, vielleicht aber noch mehr zwei besonders anziehenden amerikanischen Schauspielerinnen zuzuschreiben sein dürfte. Noch rascher vorübergehend war der Erfolg der »Lady from the Sea« in Frau Eleanor Marx-Avelings lebendiger Übersetzung. Die Gesamtausgabe der Werke Ibsens ist mit Archers »Rosmersholm« nun beendigt. Ein neues Independent Theatre gab »Ghosts« (»Gespenster«) unter großem Widerspruch. Dieselben Leute haben seither noch Zolas »Thérèse Raquin« gegeben.
Roman.
Der junge hochbegabte Schriftsteller, den wir in unsrer vorjährigen Jahresübersicht bei unsern Lesern einzuführen hatten, Rudyard Kipling (s. Bd. 18, S.477 u. 244), ist rasch in die erste Reihe der Prosadichter eingerückt. Nur in kleinern, bisweilen halbdramatischen, im höchsten Grad anziehenden Bildern aus dem indischen Leben, dem der Eingebornen wie der Anglo-Indier, hatte er sich damals versucht. Voll von Humor, bald lustig, bald schneidend tragisch, immer von erstaunlicher Einsicht und von gesundem Wirklichkeitssinn durchdrungen, der oft schreiende Gegensätze findet, aber nie den Schmutz sucht und mit poetischer Begabung und anschaulicher Landschaftsmalerei sehr verträglich ist, hat er uns tiefe, oft rührende, oft erschreckende Blicke in das Leben, namentlich des nördlichen Indien, thun lassen.
Nun hat er plötzlich dies Feld verlassen, sich nach Europa [* 11] gewendet und in seiner bisher längsten Erzählung: »The light that failed«, die Geschichte eines Malers erzählt, der allmählich erblindet. Das Buch hat nicht geringes Erstaunen erweckt, da man sah, wie der junge Mann, der in die tiefsten Falten des indischen Lebens eingedrungen, nun ganz unerwartet auch die europäische Künstlerwelt mit fast verblüffender Naturwahrheit zu schildern verstanden hat. Dabei mag nicht unerwähnt bleiben, wie er sich selbst zuerst nicht genug gethan: er hatte (vielleicht unter äußerm Druck) dem Buch einen versöhnlichen Abschluß gegeben;
in der rasch erfolgten zweiten Ausgabe schließt es mit grellem Mißton.
Seither ist er, abgesehen von allerlei kleinern Beiträgen in Prosa und Versen zu Zeitschriften, auf sein ursprüngliches Feld zurückgekehrt mit dem Buch: »Life's Handicap: being stories of mine own people«. Die Erzählungen sind von verschiedenem Wert, einige von hohem Pathos. Wie ein roter Faden zieht sich durch dieselben, soweit es sich um die Anglo-Indier handelt, ein Gefühl tiefen Unbefriedigtseins mit dem Leben, Herrschen und Schaffen in dem fremden Lande, das ihnen niemals zur Heimat wird.
Keineswegs nur mit den Höherstehenden beschäftigt er sich; er ist in die niedrigern Klassen eingedrungen;
seine Soldaten, Pferdehändler, Gaukler sind höchst lebensvoll gemalt. Und so sagt er auch: »Gott sei gepriesen
- was immer später sein wird - ich habe mit Menschen gelebt, mit Menschen mich abgemüht.« Wenn die Verleger und Herausgeber
von Zeitungen nicht den jungen Mann zu allzu raschem Schaffen antreiben, so dürfte Rudyard Kipling in der
englischen Litteratur
die hohe Stellung behaupten, die sein Genie so rasch ihm errungen.
Hier sei gleich in Bezug auf Indien ein Buch angeführt, dem litterarisch ein weniger hoher Wert zukommt, das aber lebhafte Erinnerungen an eine ereignisschwere Zeit weckt: »Eight Days« von R. Englische Forrest, eine Geschichte des Ausbruches des Aufstandes von 1857 in Romanform. Ein merkwürdiges Zusammentreffen ist, daß der Schluß des Buches, das zuerst in Lieferungen erschien, mit den neuern tragischen Ereignissen in Manipur zusammenfiel: dort wie hier wurde ein Mr. Melville ermordet.
Die längst anerkannten Meister des englischen Romans waren nicht unthätig. William Black gab uns »Donald Ross of Heimra«, eine schottische Bauerngeschichte aus dem Hochland;
Walter Besant »Armorel of Lyonesse«;
Thomas Hardy »A group of noble dames«, ein Novellenkranz, in dem die Damen nicht allzu engherzig sind, und der nicht für die höhere Tochter bestimmt ist;
George Meredith, ein gedankenreicher Schriftsteller, der viele Anhänger hat, andre aber durch einen etwas schwierigen Stil abstößt, »One of our conquerors«.
Ryder Haggard, der seine Stoffe bisher in Afrika [* 12] und der Südsee gesucht, hat sich diesmal nach Island [* 13] gewandt und mit »Eric Brighteyes«, welches einigermaßen an Felix Dahn erinnert, abermals einen großen Erfolg bei denen errungen, welche reiche Phantasie und Fülle der Farben im Verein mit gutem Stil der Photographie des Alltäglichen, der peinlichen Analyse der Charaktere oder der pessimistischen Lebensanschauung vorziehen. Der hochbegabte Robert Louis Stevenson, der dem nordischen Nebel entflohen, sich unter der Sonne [* 14] Samoas eine neue Heimat gegründet und die verlorne Gesundheit wiedergefunden, sendet uns »The wreckers, a story of the Southern Seas«.
Marion Crawford hatte in der Beendigung der im vorigen Jahr begonnenen »Witch of Prague« sich in Hypnotismus und Phantasterei verloren und zum erstenmal seine Leser enttäuscht. Aber mit »Khaled, a tale of Arabia« ist er auf die hohe Stellung zurückgekehrt, in der er seit Jahren ein Liebling des denkenden Publikums geworden. Khaled ist eine Variante der Undine-Sage von dem Entstehen der Seele durch die Gewalt der Liebe; aber hier ist es ein männliches Wesen, an dem das Wunder sich vollzieht, und zwar nicht durch das Bewußtsein des Liebens, sondern des Geliebtwerdens. Das Neueste von Crawford ist »Three Fates«, noch unvollendet. Hall [* 15] Caine (s. d.) gibt aus Marokko [* 16] das kräftige und ergreifende Buch: »The scape-goat«.
Was die dii minores unter den Romanschriftstellern anbetrifft, so bietet sich uns auch hier manches Lesbare dar. W. Englische Norris, unter dessen ¶