Delos.
Die kleine, zur Gruppe der Kykladen gehörige Insel, die als ein schmaler, etwa 5 km langer Felsenrücken mitten unter dem Schwärme der griechischen Inselmenge bis zu 106 m Höhe, östlich von dem bekannten Syra, aus dem Meere hervorragt, war in den Jahrhunderten vor Christi Geburt ein dichtbevölkerter, blühender Kultus- und Handelsplatz; bei der Verschiebung der religiösen und politischen Kräfte, welche dann eintrat, verlor er immer mehr, so daß schon der griechische Reisende Pausanias im 2. Jahrh. n. Chr.
Delos
mit
Mykenä
[* 2] zusammen als ein deutliches Zeichen der Vergänglichkeit aller irdischen
Größe erwähnte. Zum Handelshafen
machte es seine zentrale
Lage geeignet sowie der Umstand, daß zwischen ihm und der gegenüberliegenden, etwas größern
Insel
Rheneia ein schmaler, wohlgeschützter Meeresarm wie ein langes, von zwei
Mauern gebildetes Flußbett sich erstreckt.
Mythologisch berühmt als Geburtsstätte des
Apollon
[* 3] und der
Artemis,
[* 4] ein Lieblingssitz des
Apollon, hatte die
Insel in dem Apollontempel
ihren geschichtlichen
Mittelpunkt.
Sie ward der religiöse Vereinigungsort der ionischen
Stämme, welche hier alljährlich glänzende
Spiele
feierten. Seit dem 8. Jahrh. stand die
Insel mit
Athen
[* 5] in engerer
Verbindung.
Peisistratos ordnete die erste
Reinigung, d. h.
die
Entfernung aller
Gräber aus der Umgebung der Tempelstätte, an; späterhin wurde die
Bestattung auf der
Insel überhaupt
untersagt. Nach den
Perserkriegen wurde bei der
Stiftung des ionischen
Bundes der delische Apollontempel
als Aufbewahrungsort für den Bundesschatz erwählt.
Schon 454 aber wurde er nach
Athen
übertragen, und damit trat Delos
ebenso
wie die übrigen
Inseln zu
Athen in ein Abhängigkeitsverhältnis, welches bis zur Zeit
Alexanders d. Gr.
(ca. 331) bestehen
blieb.
Während der nun folgenden Zeit der Unabhängigkeit wurde die
Insel Sitz eines blühenden
Handels; fremde
Handelsgenossenschaften, die Hermaisten
Römer),
[* 6] Poseidoniasten (Syrer aus
Beirut),
Alexandriner, Ägypter, hatten hier ihren
Mittelpunkt; große Bauten wurden aufgeführt, z. B. ein
Tempel
[* 7] der fremden
Götter, in welchem
Serapis,
Isis,
[* 8]
Anubis
[* 9] verehrt wurden.
Auch als die
Römer, welche seit 166 eine Art Schutzherrschaft über Delos
ausübten, die
Insel den Athenern
aufs neue überwiesen, nahm die Stadt noch immer zu, besonders nach der Zerstörung der Handelsmacht
Korinth
[* 10] (146). Auch ohne
dringende
Handelsgeschäfte pflegten die zwischen
Italien,
[* 11]
Griechenland
[* 12] und
Kleinasien Schiffenden in Delos
anzulegen, teils wegen
der günstigen
Lage und des guten
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mehr
Hafens, teils auch wegen des berühmten Heiligtums. So geht Aschines von Athen über Delos
nach Rhodos, Cicero von Athen über Syra
und Delos
nach Samos und Ephesos.
[* 14] Im Mithridatischen Kriege blieben die Delier den Römern treu, ernteten aber übeln Lohn; denn die
Insel wurde 88 v. Chr. durch die Feldherren des Mithridates völlig verwüstet. Sulla eroberte sie zwar 87 wieder
und versuchte die alte Blüte
[* 15] wiederherzustellen, jedoch ward Delos
durch die während der Bürgerkriege stark gewordenen Piraten
Vielfach geplündert; 69 wurden durch Athenodoros ihre Heiligtümer zerstört, ihre Einwohner in die Sklaverei geführt.
Seitdem war es mit Delos
, welches in sich keinerlei Hilfsquellen hatte, vorbei. Von da an teilt Delos
das Geschick
aller griechischen Ruinenstätten im Mittelalter: seine Bauten bildeten einen unerschöpflichen Steinbruch für die bevölkerten
Nachbarinseln, seine Statuen wurden verschleppt oder zu Kalk verbrannt, soweit sie nicht allmählich die schützende Decke
[* 16] des
Trümmerschutts verdeckte und dadurch erhielt. Die Wiederaufdeckung der Reste des Altertums ist das Verdienst
der Franzosen, welche hier unter Leitung des französischen archäologischen Instituts zu Athen von 1873 bis 1889 fortgesetzt
gegraben und über die Resultate in ihrer Zeitschrift »Bulletin de correspondance hellénique« berichtet haben. Die Ausbeute
war groß:
ca. 60 Gebäude, eine große Anzahl von Statuen von den ältesten Zeiten der griechischen Kunst an bis zu den spätesten, eine ganz besonders große Anzahl (über 2000) von Inschriften, darunter mit die größten, welche existieren (Schatzverzeichnisse von Tempeln). Endlich gelang es auch, den Situationsplan des ganzen Heiligtums zu rekonstruieren und ein Bild voll fast verwirrender Mannigfaltigkeit der Tempel, Säulenhallen, Altäre, Vorratshäuser (Thesauren), Fußgestelle von Weihgeschenken etc. zu gewinnen (s. Plan).
Unter den Statuen steht in erster Linie eine ganze Reihe altertümlicher Skulpturen; voran die Marmorstatue der Naxierin Nikandra. Sie sieht aus wie ein runder, noch dazu abgedrehter Baumstamm, in den die Falten des Gewandes als senkrechte, Linien eingraviert sind (7. oder 6. Jahrh.). Solcher säulenartiger Gestalten wurden mehrere entdeckt. Ihnen zur Seite stehen die brettartigen Figuren, wie aus einer dicken, vierkantigen Bohle herausgearbeitet, aber so, daß der Eindruck des flachen Brettes bleibt. Das hervorragendste Denkmal dieser ältesten Kunst ist die Nike [* 17] des Archermos, mit der ältesten bekannten griechischen Künstlerinschrift. Wer dabei an die herrlichen Siegesgöttinnen von der Nikebalustrade von Athen denkt, wird sich arg enttäuscht finden. Die [* 13] Figur des Archermos soll eine
[* 13]
^[Abb.: Plan der Ausgrabungen auf Delos
, nach H. P. Nénot (im »Guide Joanne«).]
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mehr
fliegende Göttin darstellen, doch reicht das technische Können noch nicht aus. Wir sehen eine langbekleidete weibliche Gestalt
mit Flügeln auf dem Rücken und an den Schultern, die auf den ersten Anblick auf dem linken Knie zu ruhen scheint; doch ist
damit nur die energische Bewegung eines eilenden Laufes gemeint. Das Antlitz zeigt das grinsende Lächeln,
mit welchem die älteste griechische Kunst die Gesichter zu beleben suchte. Diese Nike wird ins Ende des 7. oder in den Anfang
des 6. vorchristlichen Jahrhunderts gehören. Endlich ist eine ganze Reihe von lebensgroßen, stehenden weiblichen Figuren der
entwickeltern archaischen Kunst vorhanden, wahrscheinlich alte Priesterinnen, in lang herabhängenden
Gewändern und auf der rechten Schulter gehefteten, unter der linken Achsel durchgezogenen Mänteln mit zierlich gefälteltem
Überschlag; die Linke hebt das Gewand etwas empor, die Rechte ist vorgestreckt. Zwei altertümliche, streng stilisierte Reiterfiguren
reihen sich an. Das Bedeutendste von alter Kunst sind die beiden großen, am Boden liegenden Trümmer des
marmornen Apollonkolosses, welchen laut der noch erhaltenen Inschrift aus dem 6. Jahrh. die Naxier geweiht hatten. Die noch
an Ort nnd Stelle befindliche Basis ist 5,18 m lang und 3,50 m breit. Die schönste der in
Delos
gefundenen Statuen gehört etwa der Zeit der pergamenischen Kunst an und erinnert an die Gallierstatuen,
[* 19] deren berühmteste, der sterbende Gallier, jetzt im kapitolinischen Museum zu Rom
[* 20] steht. Auch die delische Statue, leider nicht
ganz erhalten (Kopf und linker Arm fehlen), stellte einen zusammengesunkenen Krieger dar; er stützt sich auf das rechte Knie,
der erhobene linke Arm hielt den Schild
[* 21] empor, um sich gegen einen nicht dargestellten Gegner zu decken
(jetzt in Athen). Ebenfalls zu Athen aufgestellt sind zwei plastische, gewaltsam bewegte Gruppen, welche auf der Spitze der Giebeldreiecke
eines Tempels als Bekrönungen angebracht waren und, einander entsprechend, den Raub der Oreithyia durch Boreas und den Raub des
Kephalos durch Eos
[* 22] darstellen. Es sind jedesmal vier Figuren, der Räuber in der Mitte hält die Geraubte
hoch in die Höhe (der Krönung des Giebels entsprechend), nach beiden Seiten fliehen je eine Begleiterin. Die Gruppen sind außerordentlich
kühn komponiert und ausgeführt und erinnern dadurch an die herabschwebende Nike des Paionios aus Olympia. Die
delischen Gruppen gehören wahrscheinlich an das Ende des 5. Jahrh. v. Chr.
Die Bauten lagen innerhalb eines rings von einer Mauer umschlossenen heiligen Bezirks (s. den Plan auf S. 175), ähnlich der Altis von Olympia, in unmittelbarer Nähe des Meeresufers, so daß man von dem langen, wohlgemauerten Hafenkai sofort in den geweihten Bezirk eintrat. Lange Hallen umgaben auch hier das Innere des weiten Hofes, säulengeschmückte Thorbauten führten hinein. Das vornehmste Gebäude war der Tempel des Hauptgottes, des Apollon. Es war ein dorischer Peripteros, dessen Dimensionen etwa denen des Theseions von Athen nahekommen; er stand des unebenen Terrains wegen auf einer gemauerten Terrasse. Der dreistufige Unterbau ist 29,50 m lang und 13,55 m breit, die Stufen sind aus parischem Marmor. Er trägt eine ringsumlaufende dorische Säulenhalle von je 6 Säulen [* 23] in der Fronte, je 13 an den Seiten. Ihre Höhe betrug 5,20 m, bei einem Basisdurchmesser von 0,95 m. Die Kannelierung [* 24] der Säulen ist nur angefangen. Die Cella war innen 11,50 m lang und 5,60 m breit; vorn und hinten war je eine zweisäulige Vorhalle vorgelegt. Die Details
sind sorgfältig ausgeführt. Der Bau fällt wahrscheinlich in den Anfang des 4. Jahrh. Außerdem verzeichnet der französische Plan der Ausgrabungen an Tempeln noch einen des Dionysos, [* 25] einen alten und einen neuen der Artemis und mehrere bei dem Mangel der schriftlichen Überlieferung für uns namenlose. Beide Artemisheiligtümer liegen an der Westseite des heiligen Bezirks, innerhalb eines besondern, von Mauer u. Säulenhallen umgebenen großen Hofes, ganz nahe am Meere.
Unter den großen Hallen, welche zu Festversammlungen dienten, ist besonders die sogen.
Stierhalle an der Ostseite, der Landseite, zu bemerken. Sie ist 67,20 m lang und 8,86
m breit. Außerdem ist noch eine große Anzahl andrer bis jetzt noch nicht genau bestimmbarer Bauwerke gefunden worden. Zwischen
all den Bauwerken stehen zahlreiche Postamente, wohl auch Altäre. Die Statuen, die sich früher darauf
befanden, sind zum allergrößten Teile geraubt. Eine zusammenfassende Publikation über Delos
in topographischer, baugeschichtlicher
und künstlerischen Beziehung existiert noch nicht. Über die Statuenfunde hat Furtwängler in der »Archäologischen Zeitung«
von 1882 berichtet, über die politischen und sakralen Verhältnisse vgl. V. v. Schöffer, De Deli insulae rebus
(Berl. 1889).