mehr
trotz seiner Unbildung sich vermessen hatte, mit Frauenlob einen gelehrten Sangesstreit zu wagen, war dem Handwerk die unselige Neigung geblieben, sich und andere während der Mußestunden in Singschulen nach den komplizierten Regeln der Tabulatur mit dem Reimen unverstandener scholastischer Geheimnisse zu kasteien; so versteinert in der Tradition war diese Kunst zumal am Rhein, daß es wie eine Revolution wirkte, als Nestler von Speier [* 2] und der Wormser Barbier Folz es wagten, von den angeblichen Melodien der 12 alten Meister sich zu emancipieren. Hier überall Stillstand oder Verfall.
Aber das ist nicht die einzige Signatur der Zeit. Auch frische Lüfte wehen. Es ist die klassische Epoche des Volksliedes (s. d.), das auf den Trümmern des Minnesangs in jener wunderbaren Fülle und Frische blüht, an der wir uns heute noch freuen. Damals beginnt das histor. Lied, das jetzt jahrhundertelang, etwa die heutige Zeitung ersetzend, die Ereignisse der Weltgeschichte mehr oder minder parteiisch begleitet, unterstützt durch frappante Melodien. War früher Dichter und Komponist stets identisch gewesen, meist nicht zum Vorteil der Musik, so bekommt jetzt die Melodie ein bevorrechtetes Sonderleben: beliebte Weisen verschaffen ihren Texten Erfolg und werden daher unbefangen von einem Lied aufs andere übertragen. In dieser Zeit endlich erwuchs das Drama. In gewissen Formeln der bei hohen Festen üblichen kirchlichen Liturgie wurzelnd, hatte es sich langsam, zuerst in einzelnen komischen Scenen, dann ganz von der lat. Sprache, [* 3] weiterhin von der Kirche überhaupt freigemacht.
Laien dichteten und agierten, höchstens unter der
Aufsicht der Geistlichen,
Oster- und Passions-, Weihnachts- und Fronleichnamsspiele
,
meist in engem Anschluß an die
Evangelien, mit großer Personenzahl, ohne dramat. Konzentration, breit
und zerflossen; die letzten
Ausläufer dieser geistlichen
Spiele sind noch heute nicht verschwunden (Oberammergau). Auch Legenden
lagen diesen
Mysterien zu
Grunde; so Schernbergks
Spiel von Frau Jutten, den niederdeutschen Theophilusdramen, wirklich dramat.
Stoffe, aus denen die ungeschickte
Technik freilich nicht viel machte. Im grellsten Gegensatz dazu blüht
auch eine andere Art dramat. Aufführungen, ein Seitenstück der franz.
Farce und
Sottie, das
Fastnachtspiel, meist burleske Maskenaufzüge von grauenvoller Unfläterei;
Nürnberg
[* 4] war dafür der klassische
Boden.
Diese Stadt, beherrscht von einem kunstliebenden Patriciat, das die Teilnahme des Adels ersetzte, wird, wie für die bildenden Künste, auch für die Dichtung eine Pflegestätte; die beiden bedeutendsten Volksdichter des 15. Jahrh. gehören ihr: der vielseitige, bewegliche Hans Rosenblut (um 1450), in mancher Hinsicht ein Vorläufer des Hans Sachs, versorgt sie mit ernsten und scherzhaften Reimen aller Art, mit Fastnachtspielen, Moralsprüchen, Priameln, Schwänken, Weingrüßen u.s.w., und der aus Worms [* 5] stammende Hans Folz (um 1480) begründet in ihr einen Meistergesang, der sich freier entfaltete als in der rhein. Heimat.
Noch einmal sieht es in der zweiten Hälfte des 15. Jahrh. aus, als wollte der
Adel wiederum eine leitende Rolle in der Litteratur
spielen.
Zwar, wenn für den bayr.
Hof
[* 6] der
Maler Ulr.
Füterer (um 1480) wieder Artusromane zu fabrizieren
begann, so hatte das nichts Verheißungsvolles, und auch des «letzten Ritters»
Kaiser Maximilians (gest. 1519) rückschauende Neigungen waren aussichtslos; er
machte sich
verdient durch Sammlung älterer Gedichte und besang sich selbst in einem unsäglich langweiligen allegorischen Rittergedicht,
dem
«Teuerdank».
Neu aber und der Zeitrichtung sehr entsprechend war es, als eine Reihe vornehmer fürstl. Frauen teils selbst, teils durch Gelehrte Prosaübersetzungen lat., ital. Litteratur und namentlich auch franz. Romane besorgte. Der Mittelpunkt dieser neuern Bestrebungen, in denen zum Teil unsere heutigen Volksbücher wurzeln, war der Rottenburger Hof der Gräfin Mechthild von Württemberg: [* 7] für diese geistreiche Dame arbeiteten die berühmtesten Übersetzer der Zeit, der Arzt Heinr. Steinhöwel, der Stadtschreiber Niklas von Wyle und der Geistliche Anton von Pfore, die nur etwa durch den prächtigen Plautusübersetzer und Ehelehrer Albrecht von Eyb übertroffen wurden. Diese neuerwachende erfreuliche Teilnahme des Adels, der Frauen, wurde dann freilich durch die mächtigen Bewegungen des Humanismus und der Reformation bald in den Schatten [* 8] gestellt; erst durch sie treten an das Steuer der Litteratur die Gelehrten, denen die neu erfundene Kunst des Buchdrucks die Möglichkeit gab, ihre Stimme weit über ihre enge Heimat hinaus erschallen zu lassen.
Wir stehen an der Schwelle des 16. Jahrhunderts. Eine Zeit, so fruchtbar an Gedanken und Stoffen, wie keine zweite, aber leider dieser Fülle der Aufgaben an Gestaltungskraft nicht gewachsen. Erst Goethe wußte den herrlichen poet. Gestalten des Dr. Faust und des Götz von Berlichingen ihr poet. Leben zu verleihen; das 16. Jahrh. zog den schmutzigen Spaßvogel Eulenspiegel und den heil. Grobianus vor. Man hat es ein aristophanisches Jahrhundert genannt. Wirklich dominiert das Drama und die Satire; aber von der Grazie der Formenschönheit des Aristophanes ist keine Spur.
Selbst der Schwung, das Pathos fehlt der anfangs rein moralischen, seit der Reformation vorwiegend theol.-polemischen Satire ganz auffallend; um auf weite Kreise [* 9] zu wirken, wählt auch der Gelehrte geflissentlich einen derben Ton volkstümlichen Witzes, der ihm nicht immer gelingt und ihm feinere Wirkungen verschließt. Der naive anmutsvolle Humor des Handwerkers Hans Sachs, der wohlthuendsten Gestalt der Periode, wird von keinem andern der litterar. Wortführer erreicht. Sprache und Versbau bleibt mit wenigen Ausnahmen roh und plump, um so mehr, als die formell geschultesten Kräfte die gebildetere lat. Sprache vorzogen.
Auf der Grenze des volkstümlichen 15. und des bürgerlich gelehrten 16. Jahrh. steht ein Werk von europ. Erfolg, das «Narrenschiff» des Straßburger Stadtschreibers Sebastian Brant (1494), im Grunde eine bloße lehrhafte Citatensammlung, die aber durch ihre glücklich gefundene Einkleidung durchschlug; es milderte den Druck der allgemeinen Verkommenheit, daß hier alle Laster der roh materiellen Zeit nur als Narrheiten erschienen. Sein viel begabterer Nachahmer, der leidenschaftliche Franziskaner Thomas Murner ist mit seinen zahlreichen Narrengedichten Brants Wirkungen nie nahe gekommen. Beide Männer waren Gelehrte, gehörten zu der ältern Gruppe der Humanisten, die ihre bessere, vielfach in Italien [* 10] erworbene philol. Bildung lediglich benutzten, um die Mißstände des unfruchtbaren und unwissenschaftlichen scholastischen Unterrichts in Universität und Schule abzustellen, wie das besonders Brants rühriger, aber maßvoller Freund Nimpfeling anstrebte. Doch dabei blieb es ¶
mehr
nicht. Der großartige wissenschaftliche Aufschwung, der die ital. Renaissance ausmacht, wirkte immer erschütternder nach Deutschland [* 12] herüber. Die Philologie wird auch hier die Königin der Wissenschaften; sie erklärt allem verrotteten Schlendrian den Krieg. Sie führte über Tacitus' «Germania» [* 13] zu einem starken nationalen Bewußtsein, über Aristoteles, Hippokrates und Ptolemäus zu gesundem, empirischem Betrieb der Naturwissenschaft und Medizin; sie weist die Theologen auf das philol.
Quellenstudium der Bibel
[* 14] hin. So bekamen die poetae, d. h. die humanistischen Philologen, etwas kritisch Revolutionäres, das
verzagte Naturen erschreckte und sich namentlich offenbarte, als sich die ganze Schar der jüngern Humanisten kampflustig
um den charakterfesten Philologen Reuchlin scharte, den großen Kenner der drei heiligen Sprachen, der
die hebr. Litteratur gegen die Zerstörungswut der obskurantischen Kölner
[* 15] Theologen verteidigte
(1510). Damals entstanden in dem Erfurter Dichter- und Gelehrtenkreise, der sich um den Gothaer Kanonikus Mutianus Rufus schloß,
die «Epistolae obscurorum virorum», die feinste mimische Satire, die Deutschland je hervorbrachte (1515).
In dem patriotischen Wunsche, ihr Vaterland auf die geistige Höhe des bewunderten Italiens
[* 16] zu heben, huldigen die Humanisten
fast alle der lat. Poesie; voran der geniale Konrad Celtis, der erste poeta laureatus Deutschlands,
[* 17] in seinen glühend sinnlichen
Elegien (1502) und Oden, dann der vielseitige elegante Versifex Eoban Hessus, der scharfe Epigrammatiker
Euricius Cordus, der Hymniker Jakob Locher u. s. w. Das Drama freilich kam in ihren Händen über Fest- und Schulspiele
nicht
weit hinaus; nur Reuchlin hat in seinem «Henno» (1497), Terenz nachahmend,
das wirkungsvolle Vorbild eines Lustspiels von wechselvoller und doch geschlossener Handlung gegeben. Wohl möglich, daß
diese ruhige begeisterte Pflege schöner Form und Bildung schließlich auch der deutschen Dichtung genutzt
hätte; da trat die Kirchenreformation dazwischen, alle ruhige Entwicklung zerreißend.
Auch Luther stand im Bannkreise des Humanismus. Ihm dankte er die Erkenntnis, daß die Bibel die einzige berechtigte Quelle [* 18] des Glaubens sei, ihm die patriotisch-german. Tendenz gegen das welsche Rom. [* 19] Aber den Bildungsstolz der Humanisten, ihren griech. Schönheitssinn, ihre heidnisch-ästhetische Weltanschauung teilte der Volksmann Luther nicht, und er verletzte sie bitter und oft durch sein rücksichtslos derbes Auftreten in der Polemik. So begrüßten sie ihn mit Jubel, wandten sich aber je länger je entschiedener von ihm ab; nur der feurige fränk. Ritter Ulrich von Hutten (gest. 1523) focht unerschütterlich mit der scharfen Waffe seiner trefflichen lat. Dialoge an Luthers Seite.
Luthers Auftreten ist der alles beherrschende Höhepunkt der Epoche. Seitdem er das Wort genommen, verdrängt die Theologie jahrzehntelang alles andere litterar. Interesse. Seine Bibelübersetzung, nicht die erste, aber die beste, die es gab, führte der Menge eine Fülle wertvollen Stoffes zu; sie und seine durch den Buchdruck in ganz Deutschland verbreiteten Flugschriften förderten am stärksten die sprachgeschichtliche Bewegung, die schließlich abermals eine über den Mundarten stehende Schriftsprache erzeugte. Er erhöhte das Verständnis für sittliche Probleme dadurch, daß er von jedem Einzelnen volle und alleinige Verantwortung für sein Thun, Denken und Glauben verlangte, die Hilfe der Jungfrau Maria und der Heiligen beseitigte. Er förderte die elementare Schulbildung und schuf das evang. Pfarrhaus. Er begünstigte das Drama, das er auch als Mittel der Polemik und Lehre [* 20] schätzte, pflegte, ein warmer Freund der Musik, den Gesang und beförderte, selbst ein trefflicher Kirchenliederdichter, das Gedeihen dieser lyrischen Gattung gegenüber dem weltlichen Volkslied. Und sein Vorbild war entscheidend, wenigstens für das prot. Deutschland, das für die Litteratur zunächst fast allein in Betracht kommt. Schade, daß ihn in seiner wundervoll volkstümlichen, bilderreichen, temperament- und nachdrucksvollen Prosa kein sicherer Takt vor Geschmacklosigkeiten schützte; so trug er bedeutende Mitschuld an dem widerwärtigen Grobianismus (s. Grobianus), an dem dieses reiche Jahrhundert leidet.
Die Reformationskämpfe zeitigten eine zum Teil ausgezeichnete Litteratur von Prosapasquillen und Prosadialogen, die sich in drastischer Einkleidung und packender Beweisführung überboten. Alles übertrafen in vollendeter Prosarede die schlichten milden Dialoge des friedfertigen Nürnberger Dichters Hans Sachs. Auch sonst erweiterte die Prosa in diesem Jahrhundert wieder ihr Feld. Die Geschichtschreibung, deren Meister Aventin ist, gehört ihr schon ganz.
Nach dem Muster der lat. Facetiensammlungen Poggios und Bebels entstehen namentlich im Elsaß zahlreiche oft recht anstößige prosaische Schwankbücher (s. d.) von Pauli, Wickram, Kirchhoff u. a. Die Übersetzungen franz. Prosaromane werden, zumal beim Adel, immer beliebter, bis diese Liebhaberei in den Bändereihen des «Amadis» (seit 1569) ihre höchste Befriedigung findet. Der schüchterne Versuch des Colmarer Stadtschreibers Jörg Wickram, sie durch moralisch-bürgerliche Familienromane eigener Erfindung zu ersetzen, scheiterte vollkommen. Erfolgreicher konkurrierten mit jenen Übersetzungen die autochthonen Volksbücher (s. d.) vom Eulenspiegel, Dr. Faust, den Schildbürgern, Fortunat u. ähnl., die fast alle einen Kern goldener Lebensweisheit und köstlicher Einfälle in wertloser Schale bargen.
Im Mittelalter wäre all das in Reimpaaren vorgetragen worden. Sie haben im 16. Jahrh. sehr an Boden verloren. Unbestritten gehört ihnen außer dem Drama noch die mannigfaltige Didaktik, die, wie im 14. und 15. Jahrh., gern in der Form der Allegorie auftritt; auf fliegenden Blättern illustriert verbreitet, fanden kurze allegorische «Sprüche» ein großes Publikum (so Hans Sachs' «Wittenbergisch Nachtigall»); aber auch größere Lehrgedichte, zum Teil reformatorischer Tendenz, wurden unternommen von Ringwaldt u. a. Eine ironische Abart repräsentiert Kasp.
Scheidts «Grobianus», eine umgekehrte Sittenlehre. Auch die Fabel zieht, obgleich Luther selbst Prosafabeln schrieb, noch die Versart vor, in der erst vor wenigen Jahrzehnten das beste deutsche Tiergedicht, der «Reinke de Vos», seinen sieghaften Einzug in Niederdeutschland gehalten hatte (1498). Sowohl die Sammlungen kleiner Fabeln von Alberus und Waldis, wie Rollenhagens reformatorisches Tierepos «Der Froschmäuseler» (1595) und Fischarts und Wolfh. Spangenbergs mehr lustige als lehrhafte Tierdichtungen sind gereimt. Ebenso endlich die kleine ernst- und scherzhafte Erzählung. Der Meister aller dieser kürzern Reimgedichte ist zweifellos Hans Sachs (gest. 1576), der in kleinerm Rahmen mit unfehlbarer Sicherheit stets den rechten Ton humoristischen ¶