Tierheilkunde
oder
Tierarzneikunde (Zooiatrik), derjenige Zweig der allgemeinen Heilkunde, der sich mit der Behandlung
der
Krankheiten der nutzbaren Haustiere
(Pferde,
[* 2] Esel, Rinder,
[* 3] Schafe,
[* 4] Ziegen, Schweine,
[* 5]
Hunde,
[* 6]
Katzen
[* 7] und Hausgeflügel) befaßt.
Weiter kommt der Tierheilkunde
die hochwichtige Bestimmung zu, die verheerenden Tierseuchen einzuschränken und zu
unterdrücken (Veterinärpolizei) und durch Überwachung des
Milch- und Fleischverkehrs die Übertragung der von den Haustieren
auf den
Menschen übergehenden
Krankheiten zu verhindern (Sanitätspolizei).
Die Tierheilkunde
, die sich heute dank den großen Fortschritten der letzten 30 Jahre eine ebenbürtige
Stellung im
Kreise
[* 8] der übrigen
wissenschaftlichen
Berufszweige errungen hat, ist erst seit etwa 100 Jahren der Gegenstand wissenschaftlicher Pflege. Vorher
lag die Ausübung derselben in den
Händen von
Empirikern, von Schäfern, Schmieden,
Abdeckern, überhaupt
von Leuten, die gewerbsmäßigen Umgang mit
Tieren hatten. Dennoch hatte die Tierheilkunde
bereits im
Altertum eine gewisse
Blüte
[* 9] erreicht.
Publius
Vegetius Renatus, der im 4. Jahrh. n. Chr. lebte,
hat das vollständigste Werk über Tierheilkunde.
(«Artis veterinariae sive
mulomedicinae libri quattuor») verfaßt. Im Mittelalter gingen im
Abendlande die Kenntnisse über Tierheilkunde
verloren.
Lediglich eine Reihe von Beschwörungsformeln neben
¶
mehr
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etlichen Heilmitteln gegen Tierkrankheiten sind uns aus dieser Zeit überliefert worden. Laurentius Rusius, Tierarzt in Rom,
[* 11] hat um die Mitte des 14. Jahrh. ein Werk über Tierheilkunde
verfaßt, das auch deutsch
u. d. T. «Das kleine roßartzneibüchlein»
zu Erfurt
[* 12] 1630 erschien. Erst mit der Gründung der Universitäten und dem Beginn einer wissenschaftlichen
Pflege der Medizin fing auch die Tierheilkunde
wieder an beachtet zu werden. Eine nennenswerte Förderung als Wissenschaft
hat sie indessen bis zur Gründung der Tierarznei
schulen nicht erreicht. Doch thaten sich als tierärztliche Schriftsteller
Geßner (1516-1655), ferner Ruini, Marx Fugger, Solleysel, Sind u. a. hervor. Die Werke dieser Autoren beschäftigen sich
vorzugsweise mit Pferdeheilkunde (Hippiatrik).
Hervorragende Ärzte traten mit Hinsicht auf die verheerenden Tierseuchen, namentlich die wiederholten Ausbrüche der Rinderpest,
im Anfang des 18. Jahrh. mit aller Energie für die Errichtung von Tierarznei
schulen ein. Die erste dieser Anstalten entstand 1762 in
Lyon,
[* 13] die zweite 1765 zu Alfort bei Paris.
[* 14] Hierauf folgten alle übrigen Länder Europas, und zwar wurden
Tierarznei
institute eröffnet 1777 in Wien,
[* 15] 1778 in Hannover,
[* 16] 1780 in Dresden,
[* 17] 1790 in Berlin
[* 18] und München,
[* 19] 1821 in Stuttgart
[* 20] und 1829 in Gießen
[* 21] (als Anhängsel der mediz. Fakultät an der Universität). Erst seit Gründung der Tierarznei
schulen wird
die Tierheilkunde
zielmäßig von berufenen Lehrern gepflegt. Durch die Erhebung sämtlicher Tierarznei
schulen zu
Tierärztlichen Hochschulen (s. d.) hat man in Deutschland
[* 22] der Tierheilkunde
die verdiente Anerkennung zu teil werden lassen.
Durch die Gewerbeordnung ist in Deutschland festgesetzt, daß jeder, der den Titel Tierarzt führen will, sich einer Fachprüfung unterziehen muß. Die Bedingungen der Zulassung zu dieser Prüfung sind durch die Bekanntmachungen des Reichskanzleramtes vom und vom festgesetzt.
Jeder approbierte Tierarzt kann sich im Gebiete des Deutschen Reichs niederlassen, wo immer es ihm beliebt. Die Tierärzte werden je nach dem speciellen Zweige der Berufsausübung, dem sie sich zugewendet haben, eingeteilt in praktische und beamtete Tierärzte. Letztere zerfallen wieder je nach ihrer Anstellung von der Gemeinde oder vom Staate in städtische und Staatstierärzte und zwar führen die letztern in Preußen [* 23] den Titel Kreis- und Departementstierärzte, in Bayern [* 24] Bezirks- und Kreistierärzte, in Sachsen [* 25] und Baden [* 26] Bezirkstierärzte, in Württemberg [* 27] Oberamtstierärzte, in Hessen [* 28] Kreisveterinärärzte.
Vom Staate sind außerdem angestellt die Grenz- und Gestütstierärzte. Den tierärztlichen Dienst beider Armee versehen dieRoßärzte, Oberroßärzte und Korpsroßärzte, in Bayern die Veterinäre, Stabs- und Korpsstabsveterinäre.
Für die sociale Besserstellung des tierärztlichen Standes von grundlegender Bedeutung ist das Reichsgesetz vom (abgeändert durch die Novelle vom gewesen, betreffend die Abwehr und Unterdrückung von Viehseuchen, weil dieses die Anstellung beamteter Tierärzte zur Vorschrift machte und diesen die Ausführung des Gesetzes unter Leitung der Regierungen übertrug.
Die Fächer,
[* 29] welche die Tierheilkunde
umfaßt, sind folgende:
1) Anatomie der Haustiere.
Vgl. Franck, Handbuch der Anatomie der Haustiere (neu bearbeitet von Martin, 3. Aufl., 2 Bde., Stuttg. 1892-93);
Ellenberger und Müller, Handbuch der vergleichenden Anatomie der Haussäugetiere (8. Aufl., Berl. 1896);
Sußdorf, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Haustiere (Bd. 1, Stuttg. 1891-95).
2) Histologie.
Vgl. Handbuch der vergleichenden Histologie der Haussäugetiere (hg. von Ellenberger, 2 Bde. in 4 Tln., Berl. 1884-92).
3) Physiologie.
Vgl. Schmidt-Mülheim, Grundriß der speciellen Physiologie der Haussäugetiere (Lpz. 1879);
Munk, Physiologie der Menschen und der Säugetiere (4. Aufl., Berl. 1897).
4) Botanik.
5) Chemie.
6) Physik.
7) Zoologie.
8) Allgemeine und specielle Pathologie und Therapie der Haustiere.
Vgl. Gerlach, Lehrbuch der allgemeinen Therapie der Haustiere (2. Aufl., Berl. 1868);
Ellenberger, Lehrbuch der allgemeinen Therapie der Haussäugetiere (2 Tle., ebd. 1884-85);
Fröhner, Lehrbuch der allgemeinen Therapie für Tierärzte (Stuttg. 1893);
Friedberger und Fröhner, Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie der Haustiere (4. Aufl., 2 Bde., ebd. 1896);
Dieckerhoff, Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie (Bd. 1, 2. Aufl., Berl. 1892; Bd. 2, ebd. 1892 fg.);
Harms, Erfahrungen über Rinderkrankheiten (2. Aufl., ebd. 1895);
Haubner, Landwirtschaftliche
Tierheilkunde
(12. Aufl., hg. von Siedamgrotzky, ebd. 1897);
Zürn, Die Schmarotzer in und auf dem Körper der Haustiere (2. Aufl., 2 Tle., Weim. 1882-88);
Pütz, Kompendium der praktischen Tierheilkunde
(Stuttg. 1885);
Walther. Landwirtschaftliche Tierheilkunde
(6.
Aufl., Bautzen
[* 30] 1897);
Hoffmann, Merks vollständiges Handbuch der praktischen Haustier-Heilkunde (8. Aufl., Stuttg. 1897).
9) Materia medica nebst Toxikologie und Pharmakologie.
Vgl. Vogel, Specielle Arzneimittellehre für Tierärzte (3. Aufl., Stuttg. 1886);
Fröhner, Lehrbuch der Arzneimittellehre für Tierärzte (4. Aufl., ebd. 1896);
ders., Arzneiverordnungslehre für Tierärzte (2. Aufl., ebd. 1894);
ders., Lehrbuch der Toxikologie für Tierärzte (ebd. 1890);
Arnold, Tierärztliches Arzneibuch.
Tl. 1: Pharmacie und Arzneiverordnungslehre (Berl. 1890); G. Müller, Lehrbuch der Pharmakologie für Tierärzte (Dresd. 1894).
10) Pathologische Anatomie.
Vgl. Bruckmüller, Pathol.
Zootomie (Wien 1870); Johne in Birch-Hirschfelds «Lehrbuch der pathol. Anatomie» (Bd. 1,5. Aufl., Lpz. 1897; Bd. 2,4. Aufl., ebd. 1895); Kitt, Bakterienkunde und pathol. Mikroskopie (2. Aufl., Wien 1893); ders., Lehrbuch der pathol.-anatom. Diagnostik (2 Bde., Stuttg. 1894-95).
11) Chirurgie.
Vgl. Bayer, Lehrbuch der Veterinär-Chirurgie (2. Aufl., Wien 1890);
Hoffmann, Tierärztliche Chirurgie (2 Bde., Stuttg. 1892);
Möller, Lehrbuch der Chirurgie (2 Bde.; Bd. 2 in 2. Aufl., ebd. 1893);
Bayer und Fröhner, Handbuch der tierärztlichen Chirurgie und Geburtshilfe (4 Bde., Wien 1896-97).
12) Akiurgie.
Vgl. Hering, Operationslehre für Tierärzte (6. Aufl., bearbeitet von Vogel, Stuttg. 1897).
13) Hufbeschlag (s. d.) und Hufkrankheiten.
Vgl. Möller, Hufkrankheiten (2. Aufl., Berl. 1896).
14) Diätetik.
Vgl. Haubner, Die Gesundheitspflege der landwirtschaftlichen Haussäugetiere (4. Aufl., Dresd. 1881);
Zürn, Die Pflege der gesunden Haussäugetiere (2 Tle., Berl. und Lpz. 1875-77);
Dammann, Die Gesundheitspflege der landwirtschaftlichen Haussäugetiere (2. Aufl., Berl. 1892).
15) Tierzuchtlehre (s. Viehzucht) [* 31] nebst Gestütskunde (s. Pferdezucht). [* 32]
16) Geburtshilfe.
Vgl. Franck, Handbuch der tierärztlichen Geburtshilfe (2. Aufl., bearbeitet von Goering, Berl. 1887);
Harms, Lehrbuch der tierärztlichen ¶
mehr
Geburtshilfe (3. Aufl., ebd. 1896).
17) Lehre [* 34] vom Exterieur.
Vgl. Roloff, Beurteilungslehre des Pferdes und Zugochsen (2. Aufl., Halle [* 35] 1896);
Born und Möller, Handbuch der Pferdekunde (4. Aufl., Berl. 1895);
Zürn und Müller, Die Untugenden der Haustiere (Weim. 1885).
18) Veterinärpolizei (mit Berücksichtigung der öffentlichen Gesundheitspflege) und Seuchenlehre.
Vgl. Haubner, Handbuch der Veterinärpolizei (Dresd. 1869);
Beyer, Viehseuchengesetze (4. Aufl., Berl. 1897);
Gaupp, Die Viehseuchengesetzgebung (Stuttg. 1896).
19) Sanitätspolizei (Feischbeschau [s. d.] und Milchhygieine).
20) Gerichtliche Tierheilkunde.
Vgl. Weiß, Erkennung und Beurteilung der gesetzlichen Hauptmängel der Haustiere (Stuttg. 1863);
Gerlach, Handbuch der gerichtlichen Tierheilkunde
(2. Aufl., Verl. 1872);
Dieckerhoff, Die Gewährleistung beim Viehhandel und das Nährschaftssystem im Entwürfe des Bürgerl.
Gesetzbuches (ebd. 1896).
21) Geschichte der Tierheilkunde.
Vgl. Eichbaum, Grundriß der Geschichte der Tierheilkunde
(Berl. 1885).
Auch eine Reihe von Zeitschriften enthält wertvolles wissenschaftliches Material. Hervorzuheben sind die «Zeitschrift
für Tiermedizin», das «Archiv für wissenschaftliche und praktische Tierheilkunde»
, die «Wochenschrift
für Tierheilkunde und Viehzucht», «Berliner
[* 36] Tierärztliche Wochenschrift», «Monatshefte für Tierheilkunde», «Zeitschrift
für Veterinärkunde», «Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene»
und «Deutsche
[* 37] Tierärztliche Wochenschrift». Außerdem erscheint ein von Ellenberger und Schütz herausgegebener «Jahresbericht
über die Leistungen auf dem Gebiete der Veterinärmedizin» (Berlin, seit 1881).