mehr
unglaublicher Stoffreichtum, ihre Innigkeit, ihre starke Gedankenarbeit
, ihr scharfer
Blick für die
Bilder des Lebens, ihr
derber Witz, leider auch ihr schmutziges Behagen und ihre grenzenlose, alle Wirkung vernichtende Formlosigkeit.
V.
Periode (vom Beginn des 17. Jahrh. etwa bis zu
Klopstocks «Messias» 1748). In ihr folgt auf
das reiche und
üppig kraftvolle Jahrhundert
Luthers unzweifelhaft die unfruchtbarste und unselbständigste Zeit, die die deutsche Litteratur
je gehabt hat. Aber diese Zeit fing doch an, dem Gefühlsleben des Individuums die
Zunge zu lösen,
und sie lehrte vor allem
eine sorgfältige, wenn auch vorerst nur nachahmende Pflege der Form. So wird sie die notwendige Vorschule
unserer klassischen
Dichtung.
So große Fortschritte die wissenschaftliche deutsche Prosa in der verstandesharten
Periode der
Reformation gemacht und so
bemerkenswerte Leistungen sie auf
zuweisen hatte (z.B.
Dürers technische Kunstschriften, Aventins, Francks,
Tschudis Geschichtswerke
u. a.), so dauerte es doch noch bis über den Dreißigjährigen
Krieg hinaus, bevor die lat.
Bücher, die
Deutschland
[* 2] druckte, von den deutschen an Zahl erreicht wurden:
Kepler und noch
Leibniz schrieben lateinisch.
Neben der von jeher sehr beträchtlichen Übersetzungslitteratur ist es bis ins 17. Jahrh. herein die prot.-theol. Schriftstellerei, die unter den wissenschaftlichen Arbeiten in dem Interesse des Publikums den Löwenanteil genießt. Aber sie war mehr und mehr in dogmatischen Zänkereien verknöchert, die weder den Gefühls- noch den moralischen Bedürfnissen der Frommen genügen konnten. Da wurden das praktische Christentum des kernigen Schwaben Andreä (gest. 1654), die friedfertig und gemütlich erbauenden Schriften des herzenswarmen Joh. Arnd (gest. 1621) und sogar die seltsam vergrübelte Gottesweisheit des mystischen Görlitzer Schusters Jak. Böhme (gest. 1624) eine Herzenswohlthat für viele unbefriedigte Seelen, die zumal in den Schrecken des Krieges geistlicher Stärkung bedurften; die Bücher dieser Männer bereiteten dem Pietismus Speners, dem Liede Gerhardts die Wege.
Durch ihr individuelleres Gemütsleben vorwärts weisend, sind Arnd und Andreä als Dichter doch noch ganz Kinder des 16. Jahrh. mit seinen durch meistersingerische Silbenzählung versteiften Knittelversen und seiner ungebildeten, derben Sprache. [* 3] Das Verdienst, Vers und Rede geregelt zu haben, gebührt dem Schlesier Martin Opitz (1597-1639), obgleich schon der elegante lat. Poet Melissus, als er Marots Psalmen im Versmaß der Originale deutsch übertrug (1572), ebenso ein um Zincgref gescharter Heidelberger Dichterkreis und vor allem der vielgereiste, an engl. und franz. Poesie gebildete Schwabe Georg Rodolf Weckherlin, ein höfischer Weltmann von entschiedener lyrischer Begabung, in ähnlicher Richtung gestrebt hatten.
Denn Opitz zuerst hatte den glücklichen Instinkt, die Grundzüge der Renaissancedichtung in einem, Scaliger und Ronsard nachgeahmten, poet. Lehrbuch, dem «Buch von der deutschen Poeterei» (1624) zusammenzufassen, und er verstand es zugleich, ohne jedes wirklich produktive Talent korrekte Muster der neuen Dichtart zu schaffen. Diese strebt mit Bewußtsein und Erfolg danach, das Interesse des Adels dadurch zu gewinnen, daß sie sich nach den elegantern antiken und neulat., franz. und holländ. Mustern verfeinert.
Sie gilt als lehrbar: daher die Überfülle von Poetiken, die die Periode hervorbringt, unter ihnen Harsdörffers berüchtigter «Poetischer Trichter». Ihre Sprache strebt nach dialektloser Sauberkeit und Zierlichkeit. In ihren Versen wechselt Hebung [* 4] und Senkung regelmäßig ab: der Alexandriner ist, trotz seiner Eintönigkeit, ihr Lieblingsvers;
doch versucht sie sich auch gern in andern antiken und modernen Metren.
Man hat diese
Poesie mit
Recht gelehrt-höfisch genannt. Der Theolog
und namentlich der Jurist steigt, in diesen bewegten
Zeiten den Fürsten unentbehrlich, oft in die
Kreise
[* 5] des
Adels auf;
die
Gelehrten bilden mit dem
Adel eine Zeit lang das Publikum der vornehmen Litteratur; Edelleute und Studierte
finden sich in den nach dem
Muster ital.
Akademien eingerichteten
Sprachgesellschaften zusammen, deren bedeutendste die 1617 gegründete,
unter
Herzog
Leopold von
Anhalt-Dessau blühende Fruchtbringende Gesellschaft war.
Ein schöner
Patriotismus beseelte diese Gesellschaften, der sich nicht sowohl in ihrem gelegentlich ausartenden Purismus
(Zesens
Deutschgesinnte Genossenschaft) äußerte, als in ihren ehrlichen Bemühungen um die Richtigkeit
der deutschen
Sprache, aus denen tüchtige grammatische und lexikalische
Arbeiten erwuchsen (Gueintz
«Deutscher
Sprachlehre
Entwurf»,
Schottels
«Arbeit von der teutschen Haubtsprache» u. a.), und in einem Kampf für die alte
deutsche Zucht, der in diesem Jahrhundert der Fremdländerei und Landsknechtmoral sehr am Platze war:
trafen sich doch während des großen
Krieges aller Herren
Unterthanen auf
deutschem
Boden;
eigneten sich doch deutsche Fürstensöhne und Edelleute an den Höfen von Paris, [* 6] Versailles [* 7] und Madrid [* 8] kritiklos die Sitten des Auslandes an. So hat Deutschland damals die litterar.
Moden aller Völker mitgemacht, den Marinismus und Euphuismus so gut wie den Naturalismus. Aber es hatte doch auch, als diese Krankheit erst überstanden war, von allen gelernt.
Am deutlichsten prägt sich der Wandel des Geschmacks aus in der Lyrik. Während das Epos trotz den Bemühungen des Tasso-Übersetzers Deutsche [* 9] von dem Werder völlig darniederliegt, ist sie in jeder Hinsicht die Hauptgattung des Zeitalters. In ihr überwuchert mehr und mehr die Gelegenheitsdichtung der Hochzeits-, Leichen-, Gratulationscarmina, die, aus den Bemühungen um die Gunst adliger Mäcenaten erwachsen, bald zur handwerksmäßigen Reimerei und würdelosen Schmeichelei herabsank: doch darf man nicht vergessen, daß ein Mann wie Dach [* 10] nur Gelegenheitsreime schrieb, daß «Anke von Tharaw» nichts anderes als ein Hochzeitscarmen war.
Opitz' Lyrik zeigt einen steifen, würdigen Odenstil, durch den ein gesundes didaktisches Element wohlthuend durchbricht; seine engern Genossen (erste Schlesische Schule: Tscherning, Nüßler u. a.) werden weitaus überragt durch den frischern Voigtländer Paul Fleming (1609-1640), der wirkliche innere Erlebnisse natürlich und mit wahrem poet. Empfinden besang, durch den Königsberger Dichterkreis (Dach, Albert, Roberthin), dessen volkstümlichen Reimen die gleichzeitige Pflege der Musik zu gute kam, endlich durch die in den Greueln des Krieges verdüsterte Muse des bedeutendsten, aber auch schwerblütigsten Dichters der Epoche, Andr. Gryphius. Von Opitz' franz.-holländ. Renaissancedichtung führen die spielerigen Künsteleien und süßlichen Tändeleien der Kirnberger Pegnitzschäfer (Harsdörffer, Klai, Birken) dann herüber zu dem ungezügelten ital.-span. Manierismus, der in der «galanten» Dichtung der zweiten Schlesischen Schule (Hofmannswaldau, gest. ¶
mehr
1679, und Lohenstein, gest.
1683) sein geschmackverwüstendes Unwesen treibt: lüsternste Erotik in der forciertesten und unnatürlichsten Farbenpracht,
vorgetragen von innerlich kühlen Poeten, gequälte und überladene Bilder, Ausgeburten einer unfruchtbaren, aber überreizten
Phantasie. Da es sich nur um Kunst, nirgends um Wahrheit handelt, giebt es im Steigern und Überbieten der Unnatur
keine Grenzen:
[* 12] der «Schwulst» repräsentiert wohl die ärgste Geschmacksverirrung,
die unsere Litteratur je erfahren. Er bleibt nicht ohne Einfluß auf
das volkstümliche Gesellschaftslied, das schon im 16. Jahrh.
mit seinen künstlichern Melodien das alte Volkslied zurückdrängte und ihm im 17. Jahrh. wesentlich nur das Feld der (meist
unerfreulichen) histor.
Lieder und fliegenden Blätter überließ. Während die Sachsen [* 13] Finckelthaus, Schirmer und Schoch in ihren Gesellschaftsliedern sich derbe Nüchternheit zu bewahren wissen, nähern sich die talentvollern, Filidor der Dorferer und der in Hamburg [* 14] dichtende «Celadon von der Donau» (Grefflinger), immerhin sehr deutlich der modischen Kunstrichtung. Was Wunder, da doch selbst die geistliche Poesie ihren Einwirkungen sich nicht ganz entzieht. Das gilt nicht nur von den Katholiken, die an Balde einen hervorragenden schwungvollen lat. Hymniker haben und deren ausgezeichnete deutsche Lyriker, der treffliche Jesuit Spee (1591-1635) und der Konvertit Scheffler (Angelus Silesius), Töne des Hohenliedes und der mittelalterlichen Mystik mit dem erotischen Idyllenton der modernen Schäfermanier virtuos verquicken. Es gilt das auch von den Protestanten.
Gewiß war es ein Fortschritt über die öde unlyrische Dogmatik, die im Kirchenliede des spätern 16. Jahrh. herrschte, als Phil. Nicolai, der Dichter des Liedes «Wie schön leuchtet der Morgenstern», [* 15] zuerst Klänge von fast minniglichem Gefühl einschmuggelte; und in der heitern Gemütswärme Paul Gerhardts (1607-76), der die moderne Vers- und Sprachtechnik innehat, von der latein. Hymne lernt und das Seelenleben des Individuums zu tiefsinnigem Ausdruck bringt, gedeiht das prot.
Kirchenlied zur höchsten Blüte.
[* 16] Aber wenn es ihm auch an glücklichen Genossen, wie Rist, dem Gründer des Elbschwanenordens,
Neander, Oleanus, Arnold, nicht fehlt, so erwies sich der pietistische Gefühlsüberschwang der Zeit doch
als gefährlicher Nährboden: individualistische Ausschreitungen, wie Kuhlmanns «Kühlpsalter»
(1684), wirken auf
uns noch nicht so abstoßend, wie der ausgelassene erotische Ton, in den die fromme Lyrik des Grafen Zinzendorf
u. a. herrnhutischer Sänger sich verirrt. Noch in Bachs unvergleichlichen Motetten und Kantaten zeigt
die musikalische Verschiedenheit der weltlich prunkvollen Arien und der tiefinnigen, einfach frommen Chöre die Schwächen
und Stärken der Epoche vereinigt.
Die wachsende Bedeutung der Musik, die dem geistlichen und weltlichen Liede ohne Frage zum Vorteil gereichte, schädigte dagegen in beklagenswerter Weise die Entwicklung des Dramas. Die aus Italien [* 17] importierte Oper mit ihrer glänzenden Ausstattung und ihren sinnerregenden Balletten gewinnt nicht nur die Gunst der Höfe, die gern über Prunk und Pracht die schwere Not der Zeit vergaßen, sondern sie setzt sich auch in reichern Städten fest, wie sie denn seit 1678 in Hamburg mit unerhörtem Luxus gepflegt wird.
Nachdem Opitz 1627 mit seiner von Schütz komponierten «Daphne» den Reigen der deutschen Opern eröffnet hat, entstehen
dann
weiter unzählige allegorische Fest- und Schäferspiele, die sich dem Stil der Opern wenigstens nähern und uns höchstens
in den dialektischen Bauernscenen ihrer komischen Zwischenakte erfreuliche Momente bieten (so Rists Friedensstücke);
auch das burleske Singspiel kommt auf
, gerät aber bald in den Schmutz, der uns aus den Produkten Christ. Reuters entgegenstarrt.
Das auf
blühende Drama des 16. Jahrh. verkommt dagegen zu den Haupt- und Staatsaktionen der Wandertruppen, bei denen der Hanswurst
die Hauptrolle spielt und die Improvisation jede strenge Kunstform sprengt; so verdarb manch köstliches
Material: kannten diese Leute doch Dramen von Shakespeare und Molière. Der einzige litterarisch nennenswerte Dramatiker der
Zeit ist Andreas Gryphius (1616-64). Er pflegt voll Ernst und Kraft
[* 18] das Renaissancedrama nach des Holländers Vondel Muster mit
seinem steifen Pathos und seiner idealen Ferne: auf
ihm fußen die widerlichen, grell naturalistischen
Blut- und Greuelscenen Lohensteins. Gryphius' einsame Größe zeigt sich aber viel deutlicher in seinen, zum Teil ausgezeichneten
Lustspielen; die lebensvolle Heiterkeit seiner «Geliebten Dornrose»
hat in dem ganzen Jahrhundert nicht ihresgleichen. Die Komödien Schochs, Henricis u. a. wird man ihr nicht zur Seite stellen.
Aber auch die Satire nicht, die wohl die Lebensbeobachtung, nicht aber die tendenzlose Lebensfreude mit
ihr teilt.
Die Satire, schon im 16. Jahrh. reich ausgebildet, findet an den alamodischen Narrheiten (s. À la mode) des 17. Jahrh. einen besonders ergiebigen Stoff, und sie hat ihn ausgenutzt. Friedr. von Logau geht der Sittenverderbnis, den modernen Thorheiten in allzu zahlreichen, aber manchmal vortrefflichen, kurzen Sinngedichten zu Leibe;
der Hamburger Prediger Schuppius geißelt sie von der Kanzel herab, derb und realistisch, doch ohne die Witzeleien und den gehäuften Anekdotenkram, mit dem bald der Wiener Hofprediger Abraham a Sta. Clara (gest. 1709) seine berühmten Kapuzinaden schmückt;
der Rostocker Professor Lauremberg singt in seinen schalkhaft volkstümlichen niederdeutschen «Scherzgedichten» (1652) das Lob der guten alten Zeit im Gegensatz zu aller modernen Narretei;
Moscherosch ahmt die Sueños des Spaniers Quevedo in seinen «Wunderlichen Gesichten Philanders von Sittewald» (1642) nach, unter denen die Vision «Alamode-Kehraus» seine patriotische Tendenz am besten illustriert.
Wirksamer als alle diese gewollten Satiren schildern
die Verkommenheit und das Elend der Zeit die genialen simplicianischen Schriften (seit 1669) Christophs von Grimmelshausen,
dem es wunderbar gelungen ist, die Schrecken und die entsittlichenden Wirkungen des großen Krieges in überzeugend lebenswahren
Bildern festzuhalten; an den span. Schelmenroman anknüpfend, hat er die Form
doch mit ureigenstem Inhalt erfüllt und in schonungs-, aber tendenzlosem Wirklichkeitssinn mit Humor und Anschaulichkeit Gestalten
und Scenen geschaffen, denen die Zeit Ebenbürtiges nicht zur Seite zu stellen hat, am wenigsten auf
dem Gebiete des Romans.
Dieser hatte, als der Amadis überwunden war, eingesetzt mit süßlich langweiligen schwärmerischen Schäfereien im
Geschmacke der von Opitz übersetzten «Arcadia» Sidneys. Wie Zesen dieser Gattung in der «Adriatischen Rosemund», so huldigte
er in allerlei breitspurigen biblischen Romanen der dickleibigen Art der aus Frankreich erlernten halb histor.
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