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ersten fünf Jahrhunderten unter dem mitbestimmenden Einflusse der griech.
Philosophie diejenige dogmatische Form des Christentum
heraus,
die noch heute der orthodoxen
Lehre
[* 2] aller christl. Hauptkonfessionen zu
Grunde liegt. Hiernach ist es die durch die Gottesoffenbarung
im Alten
Testament vorbereitete, von den
Propheten geweissagte, von den
Aposteln gepredigte
Botschaft, daß
Jesus
Christus des ewigen
Vaters ewiger Sohn, wahrhaftiger Gott und seit seiner irdischen
Geburt auch wahrhaftiger
Mensch, vom Himmel
[* 3] auf die Erde herabgestiegen, um durch sein
Leiden
[* 4] und
Sterben die sündige Menschheit mit dem
Vater zu versöhnen, nach vollbrachtem
Werk aber von den
Toten wieder auferstanden und leiblich gen Himmel gefahren ist, um von dort aus zur
Rechten des
Vaters seine Gläubigen und die ganze Welt zu regieren.
Die
Reformation hat daran nichts geändert, stellt sich vielmehr ausdrücklich auf den
Boden der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse
und sucht das überlieferte Dogma sogar noch bestimmter auszubilden. Erst unter dem allmählich erstarkenden Einflusse einer
weltlichen
Bildung ist im 18. Jahrh. ein mächtiger
Widerstand gegen die überlieferten
Lehren
[* 5] erwacht.
Wie das Aufklärungszeitalter überhaupt das geschichtliche Christentum
auf eine allgemeine Vernunftreligion zurückzuführen
suchte, so bekämpfte es auch die kirchlichen
Vorstellungen von Christi
Person, welche der
Supranaturalismus (s. d.) immer schwächer
verteidigte.
Die neuere
Philosophie seit Kant war hierauf bestrebt, den Ursprung des Christentum
immer folgerechter
auf die Gesetze aller geschichtlichen
Entwicklung zurückzuführen, konnte daher auch für die
Person seines
Stifters keine
andere als eine wahrhaft menschliche
Auffassung gelten lassen.
Um so eifriger hat sie dagegen sich bemüht, die allgemeinen
Wahrheiten festzustellen, die dem religiösen
Bewußtsein zuerst in und an der
Person Jesu aufgegangen
und durch ausschließliche Übertragung auf diese
Person dem christl.
Glauben zuerst anschaulich geworden seien. Am geistvollsten
hat dies die Hegelsche Schule ausgeführt, indem sie die
Lehren von der Dreieinigkeit, der
Menschwerdung
Gottes, von der Erniedrigung
und der
Erhöhung des Gottmenschen, seinem
Tode und seiner
Auferstehung, von dem durch ihn vollbrachten
Versöhnungswerke als tiefsinnige
Symbole des ewigen Verhältnisses
Gottes zu den
Menschen, seiner Selbstoffenbarung im Menschengeiste
und der
Erhebung des
Menschen zur bewußten Einheit mit seinem ewigen göttlichen Wesen erkannte.
Je mehr aber durch die spekulative Idealisierung des Dogmas nicht nur dieses selbst in seinem ursprünglichen
Sinne verändert, sondern auch die geschichtliche Bedeutung des Christentum
und seines
Stifters verflüchtigt wurde, desto mehr regte
sich das Bedürfnis, das Christentum
auch in seinem ursprünglichen geschichtlichen Wesen, nicht nur in seinem bleibenden
religiösen Gehalte wiederzuerkennen. Seit Schleiermacher das Wesen des Christentum
nicht als
Lehre, sondern als ein neues göttliches
Leben, Jesu
Person als den urbildlichen
Träger
[* 6] und Begründer dieses Lebens betrachten gelehrt hatte, hat die neuere
Theologie
immer angestrengtere Versuche gemacht, die eigentümliche Bedeutung von Jesu
Person nicht sowohl in irgend welchen dogmatischen
oder spekulativen
Theorien über ihn, als vielmehr in der Einzigartigkeit seiner sittlich-religiösen Persönlichkeit und
des Verhältnisses derselben zu Gott zu erkennen.
Sie erblickt daher in der
Person Jesu Christi ebensowohl den persönlichen
Träger der göttlichen Offenbarung
an die
Menschen,
wie die thatsächliche Verkörperung und lebenskräftige Verwirklichung des vollkommenen religiösen Verhältnisses der
Menschen
zu Gott. Als eigentümlichen Gehalt dieses religiösen Verhältnisses aber betrachtet sie das in der
Person
Jesu Christi verkörperte
Bewußtsein der Sohnschaft bei Gott. So ist es ihr möglich geworden, der Forderung echt geschichtlichen,
also menschlich wahren Verständnisses des Christentum
und der
Person Jesu Christi gerecht zu werden, ohne doch das eigentümlich christl.
Bewußtsein selbst zu verleugnen.
Wie sie aber der metaphysischen Betrachtungsweise gegenüber die geschichtliche geltend machte, so suchte
sie auch den kirchlich-dogmatischen
Begriff des Christentum
durch den sittlich-religiösen zu ersetzen und in ihm die denkbar höchste
Form des religiös-sittlichen Lebens der Menschheit nachzuweisen. Wenn dieser
Auffassung des Christentum
gegenüber der kirchlich-dogmatische
Begriff sich wieder mit erneuter Entschiedenheit geltend macht, so sieht sich die wissenschaftliche
Theologie nur immer nachdrücklicher zur rein geschichtlichen Erforschung des ursprünglichen Christentum
genötigt,
da diese allein eine zuverlässige Grundlage auch für die theol.
Würdigung des bleibenden Gehalts der christl.
Religion zu bieten vermag. Hieraus erklärt sich die hohe Bedeutung der in
neuerer Zeit so gründlich und scharfsinnig geführten histor.-kritischen Untersuchungen über das Urchristentum
und das geschichtliche Lebensbild Jesu Christi. Unzweifelhaft ist, daß sich dadurch das ursprüngliche Wesen des Christentum ungleich
reiner und treuer erkennen läßt, als dies noch zur Zeit des ältern
Rationalismus möglich war. Die darauf gerichtete Forschung
hat schon jetzt dazu geführt, den eigentlichen Lebensmittelpunkt der christl.
Religion immer entschiedener
in der Persönlichkeit Jesu selbst oder in dem in ihm offenbarten gotteinigen Leben zu erkennen. (S.
Jesus.)
Auf Grund ihrer Forschungen kann die heutige Wissenschaft das geschichtliche Wesen des Christentum nicht in einer dogmatischen Lehre über seine Entstehung, auch nicht in einem bestimmten Dogma über Christi Person und Werk, sondern nur in dem wesentlich neuen religiösen Verhältnisse der Menschheit zu Gott finden, das von Jesus als Ausdruck des göttlichen Liebewillens offenbart und in seiner Person grundlegend verwirklicht worden ist. Dieses eigentümliche Wesen des Christentum ist zusammengefaßt in dem Begriffe der vollkommenen Erlösungs- oder Versöhnungsreligion.
Der alttestamentliche Gottesbegriff ist zu der Idee des «himmlischen Vaters» gesteigert, die jüd. Äußerlichkeit des Verhältnisses Gottes zur Welt ebenso wie die pantheistische Verendlichung Gottes im Heidentume überwunden, da Gott aufgefaßt wird als die allumfassende Liebe oder als der schlechthin vollkommene, von der Welt und Menschheit schlechthin unterschiedene, aber zugleich ihr allgegenwärtig innewohnende, im sittlich-religiösen Bewußtsein und Leben des Menschen sich unmittelbar offenbarende und zu seiner Gemeinschaft, dem höchsten Heile, heranziehende Geist. Da dies Verhältnis ein rein ethisches ist, das alle Unterschiede der Abstammung und der Geburt ausschließt, so kann es auch durch kein äußeres Verdienst oder Werk zu stande kommen, sondern nur dadurch, daß sich der Mensch empfänglich verhält zu der in Christus offenbarten göttlichen Liebe, in selbstverleugnender Entäußerung alles eigenen Willens vertrauensvoll der göttlichen Führung sich hingiebt und, durch die ¶
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innerlich erfahrene göttliche Liebe zu freier Gegenliebe getrieben, in der sittlichen Gemeinschaft, in der er steht, den ewigen Liebeszweck Gottes zu verwirklichen trachtet, also auch in allen seinen besondern sittlichen Pflichten ebenso viele Aufgaben des höchsten Willens an ihn sieht. Die unerläßliche Bedingung aber für den Eintritt in die neue Gottesgemeinschaft oder ins «Gottesreich» ist die Demut, als das tiefste Gefühl der eigenen sittlichen Ohnmacht und Hilfsbedürftigkeit, das sich im Bewußtsein persönlicher sittlicher Verschuldung zur Ruhe oder zu dem reumütigen Eingeständnisse der eigenen Sünde gestaltet.
Nicht als die, wenn auch noch so vollkommene Lehre von dem wahren religiösen Verhältnisse des Menschen zu Gott, sondern als geschichtliche Offenbarung einer neuen göttlichen Lebensmacht, als ein sittlich erneuendes und befreiendes Lebensprincip, welches von innen heraus alle sittlichen Lebensverhältnisse umgestaltete, ist das Christentum in die Welt getreten. Durch diesen rein sittlichen Charakter ist zugleich der universelle Charakter der christl. Religion als einer für alle Menschen und alle Völker bestimmten bezeichnet, welche allen menschlichen Lebenslagen und Lebensbedürfnissen gleicherweise entspricht und darum auch geeignet ist, die bleibende Grundlage und das zureichende Princip alles sittlichen Strebens und Arbeitens in der Gemeinschaft zu bilden.
Von einer Stiftung der christl. «Kirche» durch Jesus kann aber nur sehr bedingterweise gesprochen werden. Das, was er als nahe herbeigekommen verkündigte, war vielmehr das «Reich Gottes» (s. d.) oder das «Himmelreich». Es konnte aber die Idee dieses Gottesreichs zunächst nur in Form einer besondern Religionsgemeinschaft verwirklicht werden, und es war nur die innere Notwendigkeit der Sache selbst, daß die ersten Christen zur lebendigen Vertiefung in die höchste religiöse Idee sich von aller Zerstreuung durch die «Welthändel» und weltlichen Beschäftigungen zurückziehen mußten.
Darum ist die «Weltflucht» allerdings die Signatur des geschichtlichen Christentum in seiner ältesten Gestalt. Aber wie schon Jesus selbst in den großen Gleichnisreden über das göttliche Reich deutlich eine weit umfassendere Aufgabe gezeichnet hatte, so war es eben die Allgemeingültigkeit des christl. Princips selbst, die es immer mehr dazu drängen mußte, aus der Stille des Privatlebens und der engsten Kreise [* 8] frommer Gemeinschaft herauszutreten und alle menschlichen Lebensverhältnisse mit dem neuen Geiste zu durchdringen.
Schon nach drei Jahrhunderten begann das Christentum seine civilisatorische Aufgabe in der Welt zu erfüllen. Es ist eine Thatsache, die kein Historiker verkennen kann, daß die geistige und sittliche Umgestaltung des Völkerlebens im Gefolge des Evangeliums Jesu Christi einhergeschritten ist, und daß noch heute die christl. Welt und Menschheit die Wiege aller durch wissenschaftliche und humanitäre Kultur bedingten Fortschritte in Kunst und Wissenschaft, im bürgerlichen, polit. und häuslichen Leben ist. Es war geschichtlich begründet, daß das Christentum diese seine welterneuernde Mission zunächst nur in kirchlich-dogmatischer Fassung übte; für die heutige Menschheit ist es notwendig, Kirche und Christentum sorgfältig zu scheiden, und jene nur als die allerdings unentbehrliche Pflanzstätte des specifisch religiösen Lebens zu betrachten, das als das lebendige Princip in alle sittlichen Lebensverhältnisse überzugehen die Bestimmung hat, doch ohne daß diese darum selbst
in kirchliche Formen gegossen würden. Die Zeit einer kirchlichen Universalmonarchie als alleiniger Trägerin des christl. Geistes ist vorüber, ebenso die Zeit eines dogmatisch beengten Lehrkirchentums oder einer exklusiv religiösen, die ganze Fülle sittlicher Lebensgebiete und Kulturinteressen als profane, unheilige Welt von sich ausstoßenden Praxis. Die hierarchisch gegliederte Theokratie des mittelalterlichen Katholicismus, der luth. Dogmatismus und der pietistische Prakticismus haben ihre geschichtliche Aufgabe erfüllt, und derselbe christl. Geist, der sich jene Formen schuf, sucht sich heute in der ganzen Breite [* 9] des sittlichen Menschen- und Völkerlebene eine neue Stätte seiner welterneuernden und weltversöhnenden Wirksamkeit. Die Gesamtzahl der Bekenner des Christentum beträgt etwa 495 Millionen.
Litteratur: Châteaubriand, Le [* 10] génie du Christianisme (5 Bde., Par. 1802 u. ö.; deutsch von Schneller, 2. Aufl., 2 Bde., Freib. i. Br. 1856-57);
Ludw. Andr. Feuerbach, Das Wesen des Christentum (Lpz. 1841);
Ullmann, Das Wesen des Christentum (Hamb. 1845; 5. Aufl., 2. Bd. der Werke, Gotha [* 11] 1865);
Bruch, Das Wesen des Christentum (in Schenkels «Allgemeiner kirchlichen Zeitschrift», 1867);
Kaftan, Das Wesen der christl. Religion (2. Aufl., Basel [* 12] 1888);
Bender, Das Wesen der Religion (4. Aufl., Bonn [* 13] 1888);
Dreyer, Undogmatisches Christentum (2. Aufl., Braunschw. 1888);
Lipsius, Die Hauptpunkte der christl. Glaubenslehre (2. Aufl., ebd. 1891).