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Eine Partei, die der Regierung ernstliche Verle- genheiten bereitete, waren die Antisemiten. Seitdem sich diesen die Klerikalen angeschlossen und die «Christ- lich-socialen», wie sie sich nun nannten, an Dr. Lueger, einem ebenso schlagfertigen Redner als unermüd- lichen Agitator, ein gewandtes und angesehenes Parteihanpt erhalten hatten, vereinigten sich nament- lich in Wien [* 2] mit ihnen alle unzufriedenen Elemente, auch die meisten Beamten und Lehrer, und anch die Deutschnationalen gingen mit ihnen ein Bündnis ein.
Schon im Frühjahr 1895 brachten sie bei den Ergänzungswahlen für den Gemeindcrat den grö- ftern Teil der Kandidaten dnrch. Lueger wurde nun zum ersten Vicebürgermeister, und als infolgedessen der liberale Bürgermeister Dr. Grübl sein Amt nie- derlegte, zum Bürgermeister gewählt. Doch lehnte er wegen der geringen Majorität die Wahl ab, und die Regierung löste 30. Mai den Gemeinderat auf und ernannte den Bezirkshauptmann Dr. von Friebeis zum Regierungskommissar.
Aber die im Septem- ber stattfindenden Neuwahlen sielen für die Anti- semiten noch günstiger aus, indem sie den dritten Wahlkörper ganz, den zweiten zum größern Teil er- oberten, und 29. Okt. wurde Lueger mit 93 gegen 44 stimmen abermals zum Bürgermeister gewählt. Dessenungeachtet erhielt dieser, wie der Äiinister- präsident erklärte, weil die Bürgschaft für eine ob- jektive, allen Bevölkerungsklassen gleichmäßig gerecht werdende Führung der Verwaltung fehle, wie die Antisemiten behaupteten, aus Rücksicht auf Ungarn, [* 3] dessen Regierungssystem er wiederholt in der schroff- sten Weise angegriffen hatte, die kaiserl. Bestätigung nicht, und als er trotzdem 13. Nov. wieder gewählt wurde, ward der Gemeinderat zum zweitenmal aufge- löst.
Aberdas Ergebnis der Ende Februar und Anfang März 1896 stattfindenden Neuwahlen war für die Antisemiten noch günstiger. Lueger wurde 18. April wieder zum Bürgermeister gewählt. Bestätigt wurde er auch diesmal nicht, aber der Kaiser, der sich offen- bar znr ausgesprochenen Stimmung der großen Mehrheit der Wiener Bevölkerung [* 4] nicht länger in Opposition setzen wollte, berief ihn zu sich, appellierte an seine Loyalität und sprach die Erwartung aus, daß er freiwillig auf die Wahl verzichten werde.
Nachdem dies geschehen war, wurde zum Bürger- meister Gemeinderat Strobach, der sich selbst nur als Platzhalter für Lueger bezeichnete, dieser aber zum ersten Vicebürgermeister gewählt, der eiuer Be- stätigung von seiten der Regierung nicht bedarf. Während die Antisemiten und die mit ihnen vielfach Hand [* 5] in Hand gehenden Deutschnationalen (letztere besonders in den Alpenländern) immer mehr An- hänger fanden, verlor die bisher so zahlreiche libe- rale Partei infolge ihrer schwächlichen Nachgiebigkeit gegenüber der Regierung an Ansehen beim Volke wie an innerer Konsistenz.
Bereits 1895 erklärte eins der angesehensten Mitglieder, Professor Ednard Sneß, den Austritt aus der Partei, weil sie sich nicht zur Opposition entschließen konnte, und traten 29 meist deutschböhm. Abgeordnete aus der Partei aus, weil sie mit ihrem Antrag, der Regie- rung das Vudqet zu verweigern, nicht durchzudringen vermochten. Äei den Neuwahlen, die, nachdem das Abgeordnetenhaus durch Patente vom aufgelöst und das neugewählte zum 27. März des- selben Jahres einberufen ist, im März stattfinden, scheint eine völlige Anflösnng des Klubs bevorzu- stehen, da sich Sccessionsgelüste nach rechts und nach links bemerkbar machen.
Erscheint die Zukunft Österreichs so in Beziehung auf die innern Zustände vielfach unsicher, so bietet die auswärtige Politik ein erfreulicheres Bild, in- dem der Dreibuud forgfältig aufrecht erhalten wird und infolgedessen auch der Friede für längere Zeit gesichert erscheint. Auch das Verhältnis Österreichs zu Rußland hat sich in letzter Zeit wesentlich ge- bessert, was auch dadurch zu Tage trat, daß Kaiser Nikolaus II. im Aug. 1896 dem österr. Hofe zuerst vor allen andern seinen Besuch abstattete.
Das Vor- gehen der Mächte speciell in der Orientfrage erfolgte im vollkommensten Einverständnis, wobei
Osterreich in dem
Bestreben, den Statusquo auf der
Balkan- halbinsel ausrecht zu erhalten, mehrfach einen ver- mittelnden
Einfluß ausübte. Litteratur. Die Österreich
isch-Ungarisches
M. in Wort und
Bild, Bd. 1-16
(Wien 1886-96); Umlauft, Die Österreich
isch-Ungarisches
M. (3. Aufl., ebd. 1896);
Rauchberg,
Die Bevölkerung
Österreichs auf
Grund der Ergebnisse der
Volks- zählung vom dargestellt (ebd. 1895);
Huber, Österr.
Reichsgeschichte. Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts (ebd. 1894); Luschin von Ebengreuth, Österr. Neichsge- schichte. Geschichte der Staatsbildung, der Nechts- quellen und des öffentlichen Rechts (Tl. 1, Bamb. 1895); Vachmann, Lehrbuch der österr. Reichsge- schichte (Prag [* 6] 1895-96); Österr. Staatswörterbuch, hg. von Mischler und Ulbrich (Wien 1894 fg.). Von den «I'onwL rsrnin ^Ußtriacarunitt erschien 1896 in Wien der 48. Band, [* 7] von Huber, Geschichte Öster- reichs, in Gotha [* 8] 1896 der 5. Band. * Österreichisch -Ungarisches Heerwesen. I. Laudheer. Die Friedensstärke des I. 1895 war folgende: Waffengattungen Nichtregimentierte Offiziere und besondere Formationen . . . Infanterie Jäger Kavallerie Feldartillerie Fcstungsartillerie Pioniere, Eisenbahn- und Tele- graphentruppen Train Dazu überzählig: Kavallerie In Privatbenntzuug gegebene Pferde Feldartillerie Ferner die fürdasOccupations- gebiet mehr erforderlichen Personen und Pferde: [* 9] 1) Behörden, Stäbe n. s. w. . . 2) HccrcsanstalN'n 3) Train Vosnisch-Hcrzegowin. Infanterie Kaiferl. königl. östcrr. Landwehr Königl. ungar. 6155 8011 862 1714 1453 397 503 361 153 218 49 208 2766 2132 ZK 13 888 160171 16214 433 - 510 - 92 - 43 590 38074! - 12310!10^ 134 - 25 594 7745 9 820 3107 1830 1590 192 942 1132 4120 ^--5' 3Z 19 1743 2 226 6 300 1632 3 1 1282 16 18766 1518 17463 3101 Zusammen > 24987 > 326 36969 394 1048 Für den Krieg sind 15 Armeekorps vorgesehen, die durch Zuteilung von Landwehrdivisionen voraus- sichtlich auf je drei Divisionen gebracht werden; im ganzen würden 47 Infanterietruppendivisionen ge- bildet werden können mit 97 Infanteriebrigaden. Ferner würden 8 Kavallerietruppendivisionen zu. se 2 Kavallcriebrigaden formiert werden; jeder dieser Divisionen würden 2 reitende Batterien und Iäger- bataillone zugewiesen werden. 14 Artilleriebrigaden zu 1 Korps- und 3 Divisionsartillerieregimentern ¶