Zitterlähmung
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Schüttellähmung, s. Lähmung.
Zitterlähmung
4 Wörter, 48 Zeichen
Zitterlähmung,
Schüttellähmung, s. Lähmung.
(Paralysis), in der medizinischen Wissenschaft Bezeichnung der aufgehobenen Leistungsfähigkeit muskulöser oder nervöser Organe; die bloß herabgesetzte Leistungsfähigkeit bezeichnet man als Parese. Im gewöhnlichen Leben und bei den ältern Ärzten wird das Wort Lähmung jedoch in einem viel weitern und unbestimmten Sinn gebraucht, nämlich für jede Art von aufgehobener oder verminderter Thätigkeit irgend eines Teils am lebenden Körper überhaupt. In diesem Sinn spricht man z. B. noch von einer Lungenlähmung, wenn die Lunge [* 3] nicht mehr funktioniert, weil ihre krankhafterweise mit einer wässerigen Flüssigkeit erfüllten Luftbläschen keine Luft mehr aufnehmen, also nicht mehr zur Atmung dienen können, oder von einem gelähmten Arm, wenn dieser wegen Schmerzen oder Gelenksteifigkeit nicht bewegt werden kann, obschon seine Muskeln [* 4] und Nerven [* 5] an sich noch funktionsfähig sind.
Halten wir uns an den engern wissenschaftlichen Begriff der Lähmung, so tritt diese entweder als Empfindungslosigkeit (Anaesthesia) oder als Bewegungslosigkeit (Lähmung im engsten Sinn, Paralysis, Akinesia) auf. Von der Empfindungslosigkeit werden keineswegs die Gefühlsnerven allein betroffen, sondern auch der Sehnerv, der Gehörsnerv, die Geruchs- und Geschmacksnerven sind unter gewissen Verhältnissen gelähmt und büßen also das Vermögen ein, die spezifischen Empfindungen, welche sie für gewöhnlich zu vermitteln haben, uns zum Bewußtsein zu bringen.
Die nächste Ursache der ist in sehr verschiedenen Umständen zu suchen. Entweder ist ein wirklicher Kraftmangel im Nervensystem, besonders im Gehirn [* 6] und Rückenmark als in den Zentralorganen des letztern, vorhanden, oder die Leitung des vom Gehirn und Rückenmark ausgehenden Bewegungsimpulses in den Bewegungsnervenfäden ist behindert und aufgehoben, z. B. durch Druck einer Geschwulst auf den Nerv, durch mechanische Trennung des Zusammenhangs des Nervs, oder es fehlt der zum Zustandekommen mancher Muskelkontraktionen erforderliche Anstoß von gewissen Empfindungsnerven aus: die sogen. Reflexlähmung, oder endlich das Muskelgewebe selbst ist bei sonst normaler Beschaffenheit des Nervensystems durch krankhafte Vorgänge, welche in ihm stattfinden, zur Zusammenziehung unfähig geworden: die neuerdings sogen. myopathische Lähmung im Gegensatz zu der vorhin angeführten neuropathischen Lähmung. Das Bild der Lähmung gestaltet sich im konkreten Fall je nach dem davon ergriffenen Teil sehr verschieden;
auch gestalten sich die Symptome der Lähmung je nach dem Sitz der lähmenden Ursache im Gehirn (cerebrale Lähmung) oder im Rückenmark (spinale Lähmung) oder im Verlauf eines Nervenstammes (peripherische Lähmung) im einzelnen Fall sehr verschieden.
Manchmal kann der Kranke das gelähmte Glied [* 7] willkürlich gar nicht bewegen; aber dasselbe bewegt sich lebhaft auf Reflexreize (z. B. bei der sogen. Schüttellähmung, Paralysis agitans) oder auf elektrische Reize, vorausgesetzt, daß das Muskelgewebe noch nicht sekundär entartet ist. Lähmungen, welche nur Eine Körperhälfte treffen, nennt man halbseitige Lähmungen (Hemiplegia); sie haben ihre Ursache meist in einer Störung des großen Gehirns. Andre Lähmungen betreffen nur die untere Körperhälfte (Querlähmung, Paraplegia) und haben ihren Ausgangspunkt gewöhnlich im Rückenmark.
Selten ist der Arm oder das Bein rechterseits zugleich mit dem Bein oder Arm linkerseits gelähmt und umgekehrt (gekreuzte Lähmung, Paralysis cruciata). Lähmungen, welche plötzlich auftreten (meist halbseitige Lähmungen), bezeichnet man gewöhnlich als Schlagflüsse. Diejenigen Momente, welche Lähmung verursachen können, sind sehr verschiedener Art: bald sind es krankhafte organische Veränderungen in der Substanz des Gehirns, des Rückenmarks oder der Nervenstämme, wie bei Entzündungen, Blutaustritten, Druck von Geschwülsten, Erweichung;
bald sind es chemische, namentlich giftige, Einwirkungen auf die genannten Teile (z. B. die Lähmung infolge von Pfeilgift, von Muskarin oder Bleivergiftung), bald auch unbekannte dynamische Störungen (Gemütserschütterungen etc.).
Bei Geisteskranken tritt sehr häufig eine eigentümliche, den gesamten Körper nach und nach in ihren Bereich ziehende auf, zu welcher Blödsinn hinzutritt, und welche den Ausgang der Krankheit in Tod herbeiführt. Dies ist die sogen. Dementia paralytica, welche meist auf Hirnschwund und Verdickung der Hirnhäute beruht. Als essentielle Kinderlähmung bezeichnet man eine von Heine zuerst beobachtete Krankheit, welche vorzugsweise, wenngleich nicht immer, bei Kindern auftritt, unter hohem Fieber, Kopfschmerz, Delirien, einer akuten Infektionskrankheit ähnlich beginnt und zu einer dauernden schlaffen Lähmung größerer oder kleinerer Muskelgruppen führt.
Die Muskeln sind elektrisch nicht erregbar, sie verfallen einem raschen Schwunde, die Empfindung der ergriffenen Arme oder Beine bleibt erhalten. Anatomisch liegt diesen Erscheinungen eine herdweise auftretende Entzündung des Rückenmarks zu Grunde, welche die vordern grauen Hörner betrifft, welche die Bewegungsnerven beeinflussen; diese Lähmung gehört demnach, wenigstens in den meisten Fällen, zu den Speziallähmungen. Die Ursachen der Krankheit sind unbekannt, über die Behandlung kann nur ¶
nach sorgfältiger Diagnose für jeden einzelnen Fall entschieden werden. Auch bei Erwachsenen kommt eine ähnliche, ebenfalls mit Fieber, Kopfschmerz, Erbrechen beginnende Lähmung vor, welche Strümpell als akute atrophische Spinallähmung der Erwachsenen bezeichnet; sie ist ebenfalls durch Rückenmarksentzündung bedingt, kann indessen leicht mit den Symptomen einer Nervenentzündung verwechselt werden. Verschieden hiervon, aber jedenfalls in naher Beziehung steht die akute aufsteigende Spinallähmung (Landrysche Paralyse), welche vorwiegend junge Männer von 20-35 Jahren befällt.
Sie beginnt mit allgemeiner Mattigkeit, Appetitmangel, mäßigem Fieber; es folgen alsdann reißende Schmerzen im Rücken und den Extremitäten, welche zuweilen wochenlang andauern, worauf ziemlich plötzlich sich Lähmung der Beine, alsdann der Armmuskeln, der Muskeln des Rumpfes, zuweilen der Hals- und Nackenmuskeln einstellt, so daß die Kranken sich nicht mehr bewegen können. Das Gefühl bleibt erhalten, ebenso die elektrische Erregbarkeit der Muskeln. Sehr oft tritt unter dem Fortschreiten der auf die Atmungsmuskulatur, besonders des Zwerchfells, der Tod ein und zwar so schnell, daß in den schlimmen Fällen die Krankheit unter hohem Fieber in 8-14 Tagen abläuft. In leichtern Fällen kehrt allmählich die Brauchbarkeit der gelähmten Glieder [* 9] zurück, es kann volle Heilung erfolgen.
Ein Symptomenkomplex, dessen letztes Hauptsymptom auf Lähmung der Bein-, Arm- und besonders der Blasen- und Mastdarmmuskulatur beruht, ist die Rückenmarksschwindsucht (Tabes dorsalis, s. d.). In gewisser Beziehung dieser chronischen Krankheit ähnlich ist die 1875 von Erb zuerst bekannt gemachte spastische Spinalparalyse (primäre Seitenstrangsklerose, Tabes dorsal spasmodique). Diese Form der Lähmung befällt vorwiegend die Beine, beginnt mit den leichtesten Graden der Bewegungsstörung und ist dadurch ausgezeichnet, daß die Muskeln nicht den Unterschenkel schlaff herabhängen lassen, sondern durch alle künstlichen Bewegungen, Druck, Klopfen, in einen Reflexkrampf versetzt werden, welcher das Bein in Streckung, den Fuß in Beugung [* 10] bringt und jedem Versuch einer passiven Beugung einen Widerstand entgegensetzt.
Meist zieht sich der Krankheitsverlauf über Jahre hin, zuweilen tritt unter geeigneter Behandlung durch prolongierte warme Bäder und galvanischen Strom Besserung oder gar Heilung ein. Nur ein wissenschaftlich gebildeter Arzt wird mit Erfolg die Heilung der Lähmung unternehmen können. Den meisten und sichersten Erfolg darf man bei entsprechender Anwendung des elektrischen Stroms auf die gelähmten Teile erwarten. Außerdem werden Hautreize, Gymnastik, Massage, indifferente Thermen und innerlich Strychnin und Brucin angewandt (vgl. Bulbärparalyse, Gehirnhautentzündung, Nerven-, Rückenmarkskrankheiten, Schlagfluß).
Vgl. Leyden, Klinik der Rückenmarkskrankheiten (Berl. 1874-76, 2 Bde.);
Eulenburg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten (2. Aufl., das. 1878);
Hertzka, und Krampf (Pest 1870);
Remak, Methodische Elektrisierung gelähmter Muskeln (Berl. 1856).