Titel
Wischnu
(Vishnu), in der ind.
Mythologie der zweite Gott der drei zu einem
System
(Trimûrti) vereinigten großen indischen
Götter
Brahma, Wischnu
und
Siwa, jetzt der verehrteste und volkstümlichste aller indischen großen und kleinen
Götter.
In den wedischen Liedern spielt er keine bedeutende
Rolle; Wischnu
ist hier ein
Name des
Sonnengottes, es wird von ihm gepriesen,
daß er die ganze weite
Welt in nur drei
Schritten (d. h.
Aufgang, höchster
Stand,
Untergang der
Sonne)
[* 2] durchmessen habe.
In der epischen Zeit erscheint er als der Liebling des arischen
Volkes, als der
Held unter den
Göttern,
während
Indras Bedeutung zurückgedrängt ist.
Seinen Haupteinfluß auf die
Erhaltung der Welt übt er durch seine Awatâras
(Herabsteigungen,
Inkarnationen), eine
Lehre,
[* 3] die ihren Ursprung dem
Bedürfnis des indischen
Volkes nach einem persönlichen
Erlöser verdankt. »So oft eine
Erschlaffung des
Gesetzes und eine
Erhebung des Unrechts eingetreten ist,
kommt Wischnu
herab in irgend einer Gestalt«, heißt es im
Mahâbhârata. In diesen Herabsteigungen nimmt der Gott bald tierische,
bald menschliche, bald übermenschliche Form an und gebietet in jeder über wunderbare Fertigkeiten. Die
Inder erkennen zehn
Herabsteigungen an: neun haben sich bereits ereignet, die zehnte steht noch aus. Die zehn Verkörperungen
sind:
1) Als
Fisch rettet Wischnu
den
Manu und belehrt ihn über das höchste
Wesen, die Entstehung der
Welt etc. (die
Legende ist eine
Variation
der
Flutsage des
Mahâbhârata).
2) Als Schildkröte sichert er der Menschheit wieder einige der in der Flut verlornen Güter; zu diesem Zweck begibt er sich auf den Meeresgrund und dient dem Berg Mandara zum Stützpunkt, den die Götter und Dämonen mit der Spitze auf seinen Rücken stellen, um damit das Milchmeer zu quirlen, worauf die Kuh des Überflusses, die Weingöttin Wârunî u. a., schließlich die Götterspeise oder das Lebenselixir (amrita) als Butter auf die Oberfläche kommen, worauf die Götter, mit neuer Kraft [* 4] erfüllt, ¶
mehr
3) Als Eber gräbt Wischnu
die ins Urmeer versunkene Erde heraus und trägt sie auf seinen Hauern an den alten Ort.
4) Als Mann-Löwe (halb Mensch, halb Löwe) erschlägt er einen Dämon.
5) Als Zwerg überlistet er den Beherrscher der Dämonen, den König Bali, indem er sich die Bitte um so
viel Land gewähren läßt, als er mit drei Schritten durchmessen könne; Wischnu
dehnte sich nun riesenhaft aus und durchschritt
mit drei Schritten Erde, Luft und Himmel.
[* 6]
6) Als Paraçu-Râma (d. h. Râma mit der Streitaxt) rottet Wischnu
das ganze Geschlecht der Kschatrijas aus und begründet so das
Übergewicht der Brahmanen.
7) Als Râma ist Wischnu
der Held des Epos Râmâyana (s. d.), dessen Hauptinhalt die Thaten des inkarnierten Gottes bilden.
8) Die Krischna-Verkörperung bildet den Höhepunkt des Wischnu
kultus und ist am mannigfaltigsten in den Purânas behandelt.
Krischna ist eine der wildesten Schöpfungen orientalischer Einbildungskraft, aber in hohem Grad bezeichnend für die
Anschauungen der Inder. Eine ganze Reihe von Heldenthaten werden von Krischna verrichtet, unter anderm greift er auch in den
großen Kampf der Kurus und Pandus ein, welcher den Hauptinhalt des Mahâbhârata (s. d.) bildet. Krischna ist Liebling der Hirten
und Hirtenmädchen; sein Liebesidyll mit der Hirtin Râdhâ bildet den Inhalt des lyrischen Dramas »Gitagowinda«
von Dschayadewa (s. d.).
9) Für die neunte Inkarnation besteht kein allgemein anerkannter Name; unter dem Namen Buddha-Inkarnation legte ihr die Sekte der Bauddha-Waishnavas einige Bedeutung bei. Bei den Tamulen ist aber gerade die Ausrottung des Buddhismus Zweck dieser neunten Inkarnation.
10) Die erst in der Zukunft stattfindende Kalki-Inkarnation soll den Untergang der völlig degenerierten
Welt und den Anfang einer neuen Menschheit herbeiführen; erst nach ganz später Tradition erscheint Wischnu
dabei auf einem weißen
Pferd
[* 7] mit einem zweischneidigen Schwert. - Waishnava nennt sich eine der größten Hindukonfessionen; sie spaltet sich in zahlreiche
Sekten, denen aber die Verehrung Wischnus
als des obersten der drei großen Götter gemeinsam ist.
Vgl. besonders Muir, Original Sanskrit texts (Bd. 4, S. 63-298).