Wirkerei
[* 1] (franz. Bonneterie), ein Zweig der Textilindustrie, welcher, wie die Weberei, [* 2] die Verflechtung von Fäden zu Bekleidung und ähnlichen Stoffen bezweckt, sich aber von dieser wesentlich dadurch unterscheidet (s. Gewebe), [* 3] daß nicht zwei sich rechtwinkelig kreuzende Fadensysteme (Kette und Schuß), sondern entweder nur ein einziger Faden [* 4] oder ein System von parallelen Fäden zur Bildung des Stoffes dient. Hiernach teilt man die Wirkwaren in zwei Hauptgruppen: Kulierwaren und Kettenwaren.
Bei beiden geschieht die Verschlingung der Fäden durch Bildung von Maschen ähnlich wie beim Stricken und Häkeln, was als charakteristische Eigenschaft aller Wirkwaren eine bedeutend größere Elastizität, als sie den Geweben eigen ist, zur Folge hat. Von den Begriffen des Strickens und Häkelns läßt sich der des Wirkens namentlich seit Einführung der Strickmaschine [* 5] nicht mehr scharf trennen, da letztere ebensogut als Wirkmaschine [* 6] aufgefaßt werden könnte. Wie in der Weberei Hand- und Maschinenstühle unterschieden werden, so stehen sich auch Hand- und mechanische Wirkerstühle gegenüber, von denen die erstern mehr nur ein Werkzeug in der Hand [* 7] des Arbeiters sind, während der mechanische Stuhl alle Bewegungen selbstthätig ausübt, so daß der Arbeiter ihn nur zu beaufsichtigen hat.
Die Maschenbildung bei der Kulierware erfolgt fast genau so wie beim Stricken, indem durch die Ösen, welche den fertigen Warenteil auf der Arbeitskante begrenzen, der Faden in Form von neuen Ösen durchgezogen wird, welche das Zurückgehen der alten Maschen verhindern und dann wieder in die Rolle der letztern eintreten etc.; während jedoch beim Stricken jede Masche einzeln gebildet wird [* 1] (Fig. 1), indem der Faden mit der Stricknadel durch je eine fertige Öse hindurchgezogen wird, erfolgt beim Kulieren die Bildung einer ganzen Maschenreihe gleichzeitig, indem durch ebensoviel Nadeln, [* 8] als Maschen vorhanden sind, der Faden gleichzeitig durch sämtliche alle Maschen in Form von Ösen hindurchgezogen wird. Da nun der zu Ösen gelegte Faden viel länger ist als die Breite [* 9] der Ware, so würde er sich entweder dehnen, oder durch sämtliche Nadeln durchziehen müssen, was wegen der stattfindenden Reibung [* 10] unmöglich ist; man bringt daher den Faden zunächst durch die festliegenden Nadeln und eigentümlich geformte bewegliche Stahlplatten (Platinen) in die Form einer Wellenlinie, welche dieselbe Länge hat, wie ein über die ganze Breite gehender Faden in der Ware, faßt dann sämtliche Wellen [* 11] gleichzeitig durch Hakennadeln, welche vorher durch die alten Maschen geschoben sind, und zieht den Faden in Form von neuen Maschen durch die alten hindurch.
Bei dieser Bewegung ist dafür zu sorgen, daß die alte Masche über den Haken abgleiten kann; derselbe hat daher meist die in [* 1] Fig. 2 dargestellte Form. Der umgebogene Teil a ist elastisch und kann durch geringe Kraft [* 12] so weit zusammengedrückt werden, daß die Spitze in die Nute b kommt; diese Operation wird durch einen besondern Teil, die Presse, [* 13] ausgeführt, einer messerartigen Schiene n besteht [* 1] (Fig. 3 a) und gleichzeitig sämtliche Haken schließen kann, nachdem sie Fäden genommen haben. Von andern Nadelsystemen für Wirkerstühle ist die Zungennadel [* 1] (Fig. 4) noch gebräuchlich, bei welcher der Haken ohne Zuhilfenahme der Presse durch eine Zunge d geschlossen wird, welche in aufgeklapptem Zustand gezeichnet ist.
Der Vorgang beim Kulieren ist nun folgender: Auf den sämtlichen Nadeln befinden sich Maschen der alten Ware w [* 1] (Fig. 3 a), welche durch die Platinen p in deren Einschnitt e erfaßt werden;
hierauf wird der Faden f um das Kinn d der letzten Platine herum und vor sämtlichen Platinen über den Nadeln hingelegt.
Sodann werden die Platinen p der Reihe nach gesenkt, so daß ihre Vorsprünge g den Faden zwischen zwei benachbarten Nadeln zu Schlingen [* 1] (Fig. 3 b) durchdrücken, welche liegen bleiben, wenn die Platinen sich wieder heben, nachdem sie die gehörige Fadenmenge auf die Nadeln verteilt haben. Durch eine eigentümliche Bewegung der Platine nach links wird nun die neue Schlinge in den Haken der Nadel geschoben, dann durch den Druck der Presse der Haken geschlossen und durch weitere Linksbewegung der Platine die alte Masche über den Haken abgeschlagen. Geht nun die Presse wieder in die Höhe, so öffnet sich der Haken durch seine Elastizität, die neugebildete Masche kann durch die Platine herausgezogen, unter die Kehle e gefaßt und nach rechts bewegt werden, worauf sich der Vorgang von neuem wiederholt. Die Maschenbildung bei der Kettenware wird am leichtesten verständlich durch Betrachtung der [* 1] Fig. 5 (S. 688), welche einige Maschen der Kettenware zeigt,
[* 1] ^[Abb.: Fig. 1. Maschenbildung beim Stricken.]
[* 1] ^[Abb.: Fig. 2. Hakennadel.]
[* 1] ^[Abb.: Fig. 3 a u. b. Kulieren.]
[* 1] ^[Abb.: Fig. 4. Zungennadel.] ¶
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bei der die Fortschreitung der Arbeit im Sinn des Pfeils stattfindet. Die Kettenware entsteht aus der Verbindung paralleler Fäden
in ähnlicher Weise wie bei der Kulierwirkerei
durch Bildung von Schleifen in den Kettenfäden und Verbindung derselben mit den
Schleifen der Nachbarfäden zu Maschen. Die zur Ausführung dieser Arbeit nötigen Teile sind ebenfalls
Hakennadeln, Platinen und Presse (Fig. 6). Die Platinen haben jedoch eine etwas andre Form, da sie nicht mehr zum Verteilen
des Fadens, sondern nur noch zur Bewegung der Masche auf der Nadel dienen. Als neue Teile treten aber hier noch die Loch-, Ketten-
oder Maschinennadeln f hinzu, welche, untereinander parallel, um 45° gegen den Horizont
[* 15] geneigt sind und
dieselbe Teilung (Entfernung voneinander) haben wie die Hakennadeln. Durch jede dieser Nadeln läuft ein Kettenfaden nach der
Hakennadel und kann durch sie um letztere herumgeschlungen werden. Zur Erzeugung der Maschenverschlingung
[* 14]
(Fig.
5) sind nun folgende Bewegungen mit jedem Faden zu machen: Zunächst wird die alte Schleife von der Kehle
der Platine erfaßt und nach dem Befestigungsteil der Nadel zu-, also nach rechts gezogen;
diese Position stellt [* 14] Fig. 6 dar.
Dann werden die Lochnadeln um eine Nadelteilung z. B. nach rechts verschoben [* 14] (Fig. 7, von f1 ^[f1] nach f2 ^[f2]), hierauf gehoben, nochmals nach rechts geschoben, von f2 ^[f2] nach f3 ^[f3], über der Hakennadel gesenkt u. endlich in ihre Anfangslage f1 ^[f1] zurückgebracht. Der Faden liegt nun in Form einer Schlinge über der Hakennadel 2; er muß jetzt noch in den Haken geschoben werden, was durch die Platine geschieht, welche ihn auch, nachdem die Presse den Haken geschlossen hat, durch die alte Masche hindurchzieht und damit die alte Masche vollendet und die neue beginnt.
In dem Muster [* 14] Fig. 5 ist, wie leicht zu verfolgen, die Masche abwechselnd auf einer von zwei benachbarten Nadeln gebildet, wodurch die einfachste mögliche Kettenware entsteht. Selbstverständlich sind aber auch andre Legungen des Fadens möglich, indem z. B. zwischen drei, vier oder mehr Nadeln gewechselt wird, welche auch mit Überspringung einzelner Nadeln benutzt werden können. Hierdurch ist die Möglichkeit geboten, die Kettenware in der verschiedensten Weise auszuführen, namentlich sie leichter oder dichter zu wirken, je nachdem es für den speziellen Zweck vorteilhaft ist.
Die zum Wirken von Kettenware dienenden Teile sind ebenfalls in einer Maschine [* 16] zusammengestellt, dem Kettenwirkstuhl, welcher, wenn alle Bewegungen noch direkt durch die Hand des Arbeiters erfolgen, Handkettenstuhl heißt. Von Wirkwaren (Strumpfwaren) verlangt man im allgemeinen, daß sie elastisch, um sich den Körperteilen gehörig anzuschmiegen, aber auch dicht sind, um eine vollkommene Decke [* 17] zu bilden. Ware, welche diese Bedingungen erfüllt, nennt man geschlossene Ware; zu ihrer Herstellung ist es nötig, die Fadenstärke im richtigen Verhältnis zur Nadelstärke und Nadelteilung zu wählen.
Ist der Faden zu schwach, so erhält man hungrige oder gezwungene, ist er zu stark, volle oder völlige Ware, welche nur in einzelnen Fällen passend sind. Eine Einteilung findet ferner nach der Art der Vollendung von Gebrauchsgegenständen statt; z. B. unterscheidet man die Kulierwaren in reguläre Ware, d. h. solche, welche ihre fertige Form schon während des Wirkens erhält, und in geschnittene Ware, deren Form man aus einem größern Warenstück herausschneidet.
Nur selten können die Gegenstände des Gebrauchs so weit fertig gewirkt werden, daß man sie unmittelbar danach verwenden kann; zumeist müssen sie aus einzelnen Teilen zusammengenäht werden. Bei regulärer Ware werden die äußersten geschlossenen Maschen direkt durch eine wenig bemerkbare Naht verbunden, während bei Schnittware weiter zurückliegende Maschen gefaßt werden müssen, wodurch stark auftragende Nähte entstehen, welche die letztere Ware weniger geschätzt machen als erstere.
Die Wirkwaren können glatt oder gemustert sein, wobei unter Muster eine Auszeichnung gewisser Figuren durch veränderte Maschenbildung verstanden wird. Farbmuster können auch in glatter Ware erreicht werden durch Benutzung verschiedenfarbig bedruckter Fäden, welche abwechselnd nach einer Anzahl Maschenreihen zur Verwendung kommen: man erhält dadurch die sogen. Ringelware;
es läßt sich aber auch langgestreifte Ware erzielen, indem man mit verschiedenen Farben je über eine gewisse Anzahl Nadeln kuliert.
Durch Kombination beider Mittel sind auch beliebige Farbenmuster möglich. Als Beispiel der durch veränderte Maschenbildung bei der Kulierware entstehenden Muster mögen die Preßmuster dienen. Sie entstehen unter Benutzung der sogen. Preßmaschine, einer Presse, welche nicht alle Nadelhaken gleichzeitig zupreßt, sondern einige offen läßt; auf diesen werden die alten Maschen nicht abgeschlagen, sondern häufen sich zu etwa 3-8 bis zu dem Moment, wo sie ebenfalls gepreßt und von der neuen Masche aufgenommen werden.
Die so entstehenden Erhöhungen bilden ein die Fläche unterbrechendes Muster. Die Kettenware, welche mit Ausnahme von Bändern fast immer Schnittware ist, kann außer den bereits angedeuteten verschiedenen Legungen noch dadurch sehr variiert werden, daß man statt Einer Kette, deren sämtliche Fäden gleiche Bewegung erhalten, deren mehrere von verschiedener Bewegung nimmt. Hierdurch ist eine große Abwechselung in den Mustern möglich. Außer dem in [* 14] Fig. 5 dargestellten halben einfachen Trikot werden auf Kettenstühlen gewirkt z. B. einlegiger Atlas [* 18] in Seide [* 19] oder feiner Baumwolle [* 20] zu Sommerhandschuhen, Tuch oder Kettentuch (Buckskin), welches nachträglich appretiert wird, englisches Leder, wollener Samt oder Plüsch etc.
Geschichtliches. Der Vorläufer des Wirkens, das Handstricken, soll in Italien [* 21] schon 1254 bekannt gewesen sein; einige führen es sogar bis auf die Griechen zurück. Das Wirken und zwar das Kulierwirken ist nach allgemeiner Annahme eine englische Erfindung,
[* 14] ^[Abb.: Fig. 5. Maschen der Kettenware.
Fig. 6 u. 7. Herstellung der Kettenware.
Fig. 6.
Fig. 7. Oberansicht von
Fig. 6.] ¶
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nämlich die eines Studierenden der Theologie in Cambridge, Namens William Lee, welcher 1589 den ersten Handkulierstuhl baute. In England zu wenig unterstützt, begab sich Lee nach Rouen [* 23] und Paris, [* 24] wo er mehrere Stühle einrichtete und der Gründer der dortigen Wirkindustrie wurde, welche hauptsächlich von Protestanten betrieben wurde. Viele von denselben flüchteten nach der Aufhebung des Edikts von Nantes [* 25] nach Deutschland [* 26] und führten hier die ein. Die spätern Erfindungen waren meist nur unwesentlich und hauptsächlich auf Herstellung neuer Muster und der sogen. Rund- oder Schlauchstühle gerichtet, auf welchen schlauchartige Wirkwaren ohne Naht erzeugt werden (s. Strickmaschine).
Die Wirkwaren werden in großer Mannigfaltigkeit aus Wolle, Baumwolle, Leinen, Seide dargestellt. Fabrikmäßiger
Betrieb für den Export ist in England, als dem ältesten Sitz der Industrie, sehr ausgebildet, und der Hauptfabrikort ist Nottingham.
[* 27] Frankreich liefert besonders seidene Strümpfe. In Deutschland ist die Wirkerei
namentlich in und bei Chemnitz
[* 28] (baumwollene Strumpfwaren,
baumwollene, wollene, leinene und seidene Handschuhe) konzentriert. Für wollene Ware ist Apolda
[* 29] Hauptsitz.
Außerdem sind Zeulenroda, das nördliche Böhmen,
[* 30] die Umgegend von Nürnberg
[* 31] und Erlangen,
[* 32] Kalw, Reutlingen
[* 33] und Berlin
[* 34] zu nennen.
Vgl. Willkomm, Technologie der Wirkerei
(2. Aufl., Leipz. 1887, 2 Bde.).