russ. Bělorussy, die kleinste der drei Hauptgruppen des russ.
Volksstammes (s.
Russen), hat ihre Wohnsitze in Westrußland,
[* 2] und zwar in
Teilen der Gouvernements Grodno,
Wilna,
[* 3] Witebsk, Smolensk,
Tschernigow sowie in den Gouvernements Mohilew und Minsk.
Über die Sprachgrenzen s.
Russische Sprache;
[* 4] über die eingestreuten poln. und jüd. Elemente s.
Polen (Volksstamm). Die Zahl der Weißrussen beträgt etwa 4½ Mill.,d. i. 6,1 Proz. aller
Russen. Sammlungen der
Volkslitteratur enthalten: Schein, Bělorusskija narodnyja pěsni (Petersb. 1874);
ders., Materialy dlja izučenija byta
i jazyka russkago naselenija sěvero-zapadanago kraja
(Tl. 1, Bd. 1
u. 2, ebd. 1887, 1890);
Die
Geschichte
Weißrußlands behandelte Antonowitsch, Monografii po istorii zapadnoj i jugozapadnoj Rossii (Bd.
1, Kiew 1885);
Batjuschkow, Bělorussija i Litwa (Petersb. 1891).
¶
das herrschende slawische Volk im russischen Reich, führt seinen Namen nach den normännischen, in Schweden
[* 7] angesessenen
Rus, welche im 9. Jahrh. die Begründer des jetzigen russischen Staats wurden. Die Russen sind keineswegs reine
Slawen der Abstammung nach, sondern in ihrer ethnischen Bildung durch zahlreiche Nachbarvölker und aufgeschlürfte Volksstämme
beeinflußt. Den Russen des Ostens und Nordens (Großrussen) hat finnisches und türkisches Wesen beeinflußt, der Russe des
mittlern Westen (Weißrusse) verrät litauische und polnische Einflüsse, während die südwestlichen Provinzen Rußlands, bewohnt
von den Kleinrussen, am wenigsten fremde Beimischungen zeigen.
Unter einem Nachfolger des WarägersRurik, Wladimir d. Gr. (980-1015), wurde der erste Versuch gemacht, die verschiedenen ihm
unterworfenen Völkerschaften zu einer Nation zusammenzuschweißen, und gleichzeitig das griechische Christentum eingeführt
(988), welches bis heute die herrschende Konfession der Russen geblieben ist. Indessen gelang die Verschmelzung der
verschiedenen Slawenstämme zu einer einheitlichen Nation noch nicht, und im Beginn des 13. Jahrh. zerfiel Rußland in zehn
unabhängige Teilfürstentümer.
Russen (Großrussen, Kl
* 9 Seite 14.46.
Als dann 1224 Dschengis-Chans Enkel Batu das Reich der Goldenen Horde von Kiptschak gründete und die slawischen Stämme des Ostens
besiegte, entstand ein mächtiges Hemmnis für die Entwickelung zum politischen und ethnischen Einheitsstaat,
und der slawischen Bevölkerung
[* 8] wurden zahlreiche mongolische Elemente zugeführt. Diese mongolische Einwirkung, die erst 1480 mit
der Abschüttelung des Mongolenjochs ihr Ende nahm, hat namentlich die großrussische
¶
mehr
Bevölkerung stark beeinflußt und ist in derselben noch heute bemerkbar. Nur langsam erholte sich Rußland nach der
Befreiung vom asiatischen Joch unter der FührungMoskaus, dessen Sprache
[* 10] seit Peter d. Gr. die eigentliche Schriftsprache der
Russen wurde.
Die Zahl der Russen im europäischen Rußland wird von Rittich zu 52,183,207 angegeben, unter
71,500,000 Einw. überhaupt. Doch bilden diese 52 Mill. Russen keine ethnisch einheitliche
Rasse, sondern sie sind nach körperlichen, sprachlichen und Charaktereigenschaften in drei wohl voneinander geschiedene
Gruppen getrennt.
1) Die Großrussen oder Moskowiter; ihre Gesamtzahl im europäischen Rußland beträgt 34,389,871 Seelen. Sie sitzen in zusammenhängendem
Ganzen im mittlern Teil des Reichs und senden einen breiten, ununterbrochenen Streifen nach SO. über den
untern Don bis zu den Nordabhängen des Kaukasus. Außerdem wird der russische Teil der Bevölkerung von Taurien aus Großrussen
in einer Zahl von 470,991 gebildet. In einigen Teilen des kleinrussischen Gebiets bilden die Großrussen starke Bruchteile,
so in Cherson 152,587, in Jekaterinoslaw 60,960 und in Charkow 497,131 Seelen.
Auch der größere Teil der über Sibirien verbreiteten Russen muß diesem Stamm zugerechnet werden. Die Großrussen sind ein kräftiger
Menschenschlag mit blondem oder braunem Haar,
[* 11] blauen oder braunen Augen. IhrePhysiognomie ist grob geschnitzt, die Nase
[* 12] dick,
oft kolbig, die Wangen sind rot, der Körperbau gedrungen, Hals kurz, Nacken stark, Schultern breit, Beine
kurz, Neigung zur Wohlbeleibtheit vorhanden. Was den Charakter betrifft, so sind dessen Grundzüge praktischer Verstand, wehmütige
Heiterkeit, Zähigkeit im Festhalten eines Begriffs oder Zustandes.
Der Russe hat Geist genug, um einen Gegenstand rasch zu erfassen, aber nicht Ausdauer genug, um in die Tiefe
zu dringen und ganz Herr desselben zu werden. Der praktische Verstand macht den Großrussen zu einem ausgezeichneten Kaufmann
und tüchtigen Handwerker; die Reize der Natur ziehen ihn nur da an, wo sie seinem Zweck dienen. Überall zeigt sich bei ihm
Hang zum Realistischen, weshalb er auch weniger zum Märchenglauben als zum Aberglauben (besonders Glauben
an Anzeichen) geneigt ist.
Geistererscheinungen, Botschaften aus dem Jenseits, poetische Sagen finden bei ihm weniger Anklang, dagegen glaubt er so fest
an den Teufel und verschiedene Haus- und Walddämonen wie an die Heiligen und die Wunder. Die Mongolenherrschaft, der nachfolgende
politische Druck und die Leibeigenschaft haben zu lange und zu schwer auf dem Volke gelastet, um seiner
Fröhlichkeit ihren ursprünglichen heitern Charakter zu lassen, und so geht ein Zug
der Wehmut durch alle Russen, der sich in den
Volksliedern ausspricht, die alle in Moll sind.
Besonders hervorstechend ist die Zähigkeit der Großrussen, welche, in vielen Fällen eine Tugend, doch
wieder der Aufklärung entgegentritt. Besonders zeigt sich dieselbe in dem unterwürfigen Vertrauen, mit dem der Russe an seinem
Kaiser hängt, dessen Person ihm gleich Gott unfehlbar ist. Mit derselben Zähigkeit bewahrt er das Patriarchalische des Familienlebens.
Die Glieder
[* 13] der Familie entwickeln sich nicht selbständig, sondern stehen immer in einem Abhängigkeitsverhältnis
zu dem Vater oder dem ältesten Bruder, der dessen Stelle vertritt, doch sind Mangel an Selbständigkeit im Urteilen und Handeln
von der einen, Willkür und Selbstüberschätzung von der andern Seite die Folgen eines solchen Verhältnisses.
Mißtrauen hegt der Russe nur gegen eine Klasse von Leuten, das sind die
Tschinowniks (Beamten), sonst
ist er offenherzig, gastfrei, aber auch träge, unordentlich, dem Trunk stark ergeben. Seine Anhänglichkeit bildet aus
ihm den besten Vater und Gatten, macht ihn dankbar für erwiesene Wohlthaten, zu einem treuen Freund. Zu den Schattenseiten
des russischen Charakters gehören noch Streben nach materiellen Genüssen, Neigung zu Betrug und Diebstahl,
Bestechlichkeit.
Die Wohnung des gemeinen Russen ist in der Regel ein einstöckiges Blockhaus (in den holzarmen Gegenden die halb in die Erde
eingegrabene Lehmhütte, Semljanka genannt), und solche Blockhäuser aneinander gereiht an beiden Seiten der Straße bilden
ein langes, einförmiges Dorf ohne Anpflanzungen. Der Eingangsthür gegenüber, in einer Ecke, steht das
Bild eines Heiligen, vor dem ein Licht
[* 14] brennt. Jeder Eintretende verbeugt sich vor dem Heiligenbild und bekreuzt sich, ehe er
die Bewohner des Hauses begrüßt, die dem Gast zur Bewillkommnung vor allem »Salz
[* 15] und Brot«
[* 16] (Chlebsol) darreichen.
Dampfbäder sind sehr beliebt und allenthalben anzutreffen. Der Russe ist genügsam und seine Lebensart
dürftig. SchwarzesBrot aus ungebeuteltem Mehl,
[* 17] Grütze, Sauerkraut, saure Kohlsuppe (Mschtschi und Borschtsch), Kuchen aus Buchweizen,
Zwiebeln, Knoblauch, Fische
[* 18] und Pilze
[* 19] sind seine gewöhnliche Nahrung. Sein Lieblingsgetränk ist der Kwas, den man bereitet, indem
man Kleie und Mehl in Wasser gären läßt und bisweilen manche veredelnde Zuthaten hinzufügt; aber auch
Branntwein und Thee werden viel konsumiert und der letztere gleich unserm Bier in öffentlichen Theehäusern (Tschajnaja) ausgeschenkt.
2) Die Kleinrussen (Malorossi) nehmen in einem geschlossenen Ganzen den südwestlichen Teil des europäischen Rußland ein,
mit Ausschluß der Krim
[* 20] und der anstoßenden Landschaften des Festlandes. Im äußersten Südosten, in Bessarabien,
sind sie mit Rumänen gemischt; ein größeres zusammenhängendes kleinrussisches Gebiet finden wir noch am Ostufer des AsowschenMeers, das der sogen. Tschernomorischen Kosaken, welche durch Katharina II. vom Dnjepr dorthin versetzt wurden.
Ihre Zahl in diesen Ländern beträgt 2,800,000 Seelen; sie verbreiteten sich aber auch über die Karpathen und wohnen als Bojken
und Huzulen (360,000 Seelen) in den nordungarischen Komitaten. Die Anzahl aller Kleinrussen beträgt hiernach
etwa 17½ Mill. Über ihre Sprache s. Kleinrussische Sprache und Litteratur. Obgleich in allen Behörden und Schulen nur die
großrussische Sprache angewandt wird, herrscht die kleinrussische doch im Volksverkehr. Nach der Körperbeschaffenheit stehen
die Kleinrussen sowohl den Polen als den Großrussen als besonderer slawischer Typus gegenüber, wiewohl
ihre politischen Geschicke bald mit dem einen, bald mit dem andern dieser beiden Völker verbunden waren, ohne daß dadurch
ein Aufgeben der besondern Nationalität herbeigeführt wurde. Erst neuerdings macht sich in Rußland eine größere Annäherung
auf geistigem Gebiet zwischenKlein- und
¶
mehr
Großrussen geltend, während in Galizien der Ruthene dem Polen entschieden feindlich gegenübersteht. Mit dem Großrussen verbindet
den Kleinrussen die griechische Religion, doch ist er weit mehr Ackerbauer als der Moskowiter und von diesem auch körperlich
geschieden. Der Kleinrusse, der Nachkomme der am Dnjepr ehemals angesessenen Poljanen, zeigt den slawischen Typus
sehr rein und ist ziemlich frei von Mischungen geblieben. Er ist größtenteils schwarzhaarig, mit dunkeln Augen und feinen
Gesichtszügen, spitzer Nase, hagerer Gestalt.
Die Grundzüge des slawischen Charakters, Heiterkeit, Sorglosigkeit, Bequemlichkeit, zeigen sich auch bei dem Kleinrussen,
jedoch gepaart mit Verschlossenheit, namentlich gegenüber dem Fremden und Großrussen, den er als Unterdrücker
betrachtet. Der Kleinrusse ist ein sehr poetisch angelegter Mensch; seine Volkslieder atmen Innigkeit, Schwärmerei, Verständnis
des Schönen im Menschen und in der Natur; ihr Rhythmus ist lebhaft und bewegt. Diese poetische Ader macht den Kleinrussen auch
religiöser als den Großrussen, aber auch zum Aberglauben, vorzüglich Sagenglauben, geneigter. In jedem
Dorf erzählt man sich von Totenerscheinungen und Vampiren.
Das Familienleben gestaltet sich beim Kleinrussen ganz anders als beim Großrussen, denn die Familienglieder erhalten so bald
wie möglich ihre Selbständigkeit. Dadurch ist auch die Individualität bei diesem Stamm sehr stark entwickelt, während der
Großrusse durch Associationsgeist hervorragt. Die Wohnorte sind ohne Straßen unordentlich durcheinander
geworfen; das Wohnhaus
[* 22] (Chata) besteht aus Fachwerk
[* 23] von Lehm und Holz,
[* 24] mit Stroh oder Schilf gedeckt, und ist meist weiß angestrichen
und sauber, von einem Blumen- und Gemüsegarten umgeben. Die Hauptbeschäftigungen der Kleinrussen sind Ackerbau, Viehzucht,
[* 25] Fischfang, Gartenkultur, Bienenzucht
[* 26] und Fuhrmannsgewerbe. Für mechanische Arbeiten haben sie wenig Talent.
Zur Erntezeit wandern viele mit der Sense und der Bandurka (kleine Geige) in südlichere Gegenden. Der Tschumak (Fuhrmann) handelt
zugleich mit Salz, das er von den Seestädten mit zurückbringt, und mit Fischen.
3) Die Weißrussen, vielleicht so genannt nach den weißen Filzhüten und der weißen Kleidung des Landvolkes, sind
der kleinste der drei russischen Hauptstämme. Sie werden im S. von den Kleinrussen, im O. und NO. von den Großrussen, im
W. von Litauern und Polen begrenzt. Überwiegend wohnen sie in den GouvernementsWitebsk, Smolensk, Mohilew, Minsk, Grodno und Wilna,
doch auch in Tschernigow, Suwalki, Samara, Charkow, aber hier nicht die Mehrheit bildend. Ihre Zahl beträgt
3,592,057. Die Weißrussen zeigen flachsblonde Haare,
[* 27] graue oder lichtblaue Augen, spärlichen Bartwuchs, kurze, flache Nase,
was auf Mischung mit Finnen hinweist, die einst (noch von Nestor gekannt) in diesen Gegenden lebten.
Bemerkenswert sind die häufigen Fälle von Albinismus unter den Weißrussen, namentlich in der Gegend von
Minsk. Die Weißrussen gelten als Nachkommen der slawischen Kriwitschen; sie kamen erst 1772 an Rußland und standen bis dahin
unter polnischer Herrschaft, die in Sitten und Gebräuchen sich noch bemerkbar macht, während die Sprache ungebrochen blieb.
Die Weißrussen sind friedliche, arbeitsame, gutmütige Leute mit großem Hang zur Einsamkeit; ihre Dörfer
zählen selten mehr als 20 Häuser, die große Mehrzahl hat nur 3-4 Höfe.
Die Häuser sind klein, eng, düster, aus Holzbalken errichtet. Da der Boden des Landes sehr unfruchtbar ist, so haben die Weißrussen
oft mit
Entbehrung, ja Hungersnot zu kämpfen; ihr Los ist kein beneidenswertes, und der polnische Adlige
wie der jüdische Wucherer und Hausierer haben dafür gesorgt, das Volk auf eine tiefe Stufe herabzudrücken, auf der es Trost
im reichlichen Branntweingenuß sucht. Unter solchen Umständen sind sie für Industrie und Handel unempfindlich geblieben.
Die Sprache hält die Mitte zwischen Kleinrussisch und Polnisch. IhreReligion ist unter dem Einfluß der
polnischen Herrschaft die römisch-katholische geworden. Litteratur vgl. S. 81.