[* 1] Hauptstadt des gleichnamigen russisch-poln.
Gouvernements, ehedem Hauptstadt der
RepublikPolen sowie später
des Herzogtums Warschau und zuletzt des
KönigreichsPolen, liegt halbmondförmig am linken Weichselufer, 30 m über dem
Strom,
Knotenpunkt der
EisenbahnenWarschau-Wien, Warschau-Bromberg,
Kowel-Mlawa (Weichselbahn), Warschau-Terespol und Warschau-St.Petersburg. Gegenwärtig wird Warschau in eine große Lagerfestung umgewandelt, da auf dem linken Weichselufer
die
Citadelle mit den 6 umliegenden
Forts durch 2
Linien von
Forts (zusammen 11) verstärkt wird, während auf dem rechten
UferPraga, das nur ein
Fort gegenüber der
Citadelle besaß, 4 vorgeschobene Werke erhalten soll.
Nähert man sich der Stadt auf dem rechten Weichselufer, so gelangt man zunächst nach der Vorstadt
Praga, die vorzugsweise
von
Juden und kleinen Leuten bewohnt und sehr schmutzig ist. Hier befinden sich die
Bahnhöfe
[* 9] der
Petersburger, der Terespoler
und der Weichselbahn, ferner die 1867 erbaute griechisch-kath.
Kirche und der meist mit
Weiden bepflanzte
Alexanderpark. Die
Verbindung von
Praga mit Warschau wird durch zwei große
eiserne Brücken vermittelt, von denen die eine, auf fünf
Pfeilern ruhend und 507 m lang, für den
Verkehr des
Publikums bestimmt ist, während die andre (1873 erbaut) nur
zur
Verbindung der
Bahnhöfe dient. In weitem
Bogen
[* 10] umsäumt das eigentliche Warschau das gegenüberliegende
Ufer, auf dem sich unmittelbar
an der
Brücke
[* 11] das frühere königliche
Schloß aus terrassenartig angelegten
Gärten erhebt, ein stattlicher
Bau von bedeutender
Ausdehnung.
[* 12] Es wurde von
Siegmund III. erbaut, von
August II. vergrößert, von
StanislausPoniatowski beendigt
und enthält große
Säle, schöne Gemälde und
Skulpturen, eine
Bibliothek und das polnische
Archiv.
Eine dritte große Verkehrsader geht vom Schloßplatz aus durch die Senatorenstraße über den
Theater- und Bankplatz durch
die Elektoral- und
KühleStraße bis zum
Thor von
Wola, von dem aus noch eine mehrere
Kilometer lange Vorstadt fortläuft. Auf
diesem Zug
liegen: das große
Theater
[* 15] mit seinen
Musik- und Ballsälen, das
Rathaus (nach dem
Brand von 1863 neu
erbaut), der
Palast der
FamilieZamojski (von
August II. für seine natürliche Tochter, die Gräfin Orzelska, gebaut), die kaufmännische
Ressource, die
PolnischeBank, mehrere
Kirchen (die Reformatenkirche, 1623 von
Siegmund III. gebaut; die Borromeuskirche, im italienischen
Stil der
Renaissance 1841-49 gebaut).
Eine vierte Verkehrslinie läuft von der vorigen im rechten
Winkel
[* 16] durch die Methstraße über den Krasinskischen Platz und
Garten
[* 17] in das von langen
Straßen durchschnittene Judenviertel. In vielen
Häusern dieser
Straßen sind große
Niederlagen, deren
Waren bis tief nach Rußland hinein versandt werden.
GroßeHotels und
Restaurationen, fast nur von
Juden
frequentiert, bieten einen originellen Anblick. Wie der
SächsischeGarten, mitten in der Stadt gelegen, der besser gekleideten
Gesellschaft zu
Promenaden dient, so der Krasinskische der weniger eleganten jüdischen, die von jenem
Park polizeilich zurückgewiesen
wird.
Außer den erwähnten Stadtteilen sind noch besonders hervorzuheben: die
Königs- und die Marschallsstraße,
die
JerusalemerAllee, der evangelische Kirchenplatz, der des Kindlein Jesu-Hospitals. In diesem Teil haben ihren Sitz: die
PolnischeLandwirtschaftlicheKreditbank, in einem prächtigen (1854 errichteten) Gebäude, die Stadtkreditbank, die
Feuerversicherungen,
die
Verwaltungen der
Eisenbahnen. Von den öffentlichen Gebäuden verdienen Erwähnung die evangelische
Kirche und dasHospital
des Kindleins Jesu (seit 1754). An den
SächsischenGarten grenzt der
Haupt-
produktenmarkt Warschaus mit dem Bazar und einer Menge kleiner Läden (das sogen. Eiserne Thor). Nach der Weichsel zu liegen große
Fabriken: eine Eisenfabrik, eine Dampfmühle, Gasfabrik, chemische Fabriken, Sägemühlen, Asphaltfabriken etc. Von der schon
erwähnten, mit schönen Villen gezierten Ujasdower Allee gelangt man zur Sternwarte
[* 20] und zum botanischen Garten, ausgezeichnet
durch schöne Anlagen (berühmte Orchideensammlung). An ihn stoßen die kaiserlichen Parke von Lazienki und Belvedere, jener
auf einer Insel in einem kleinen, durch Kunst geschaffenen See (einst AsylLudwigs XVIII. zur Zeit seines Exils), dieser auf einer
Anhöhe malerisch gelegen.
Eine schöne Orangerie, die KaiserAlexander II. vom FürstenRadziwill für 80,000 Rubel angekauft hat, ziert
denPark. Jenseit desselben liegen vor der Stadt noch mehrere Schlösser von Privatleuten (Marcellin, Wierzbno, Willanowa).
Warschau hat etwa 85 Kirchen und Kapellen, darunter 6 griechisch-katholische, eine lutherische und eine reform. Kirche, sowie mehrere
Synagogen. Die Stadt zählt 1882: 3658 Grundstücke, welche der Herdsteuer und den damit zusammenhängenden
Stadtabgaben unterliegen.
Die Einnahmen aus der Besteuerung derselben ergeben 13¼ Mill. Rubel. Die Bevölkerung
[* 21] beträgt (1885) 454,298 Seelen, darunter
mehr als ⅓ Katholiken und ⅓ Juden. Die industrielle Thätigkeit ist sehr ansehnlich. Maschinenbau, Tabaksindustrie, Leder-,
Metallverarbeitung, Zuckerfabrikation werden in großem Maßstab
[* 22]
betrieben. An Unterrichtsanstalten sind folgende
vorhanden: eine Universität (mit Bibliothek von 200,000 Bänden, botanischem Garten, Sternwarte, speziellen Kabinetten und Sammlungen), 6 Gymnasien,
ein Realgymnasium, das kaiserliche Marieninstitut (Töchterschule), 4 weibliche Gymnasien, 2 männliche Progymnasien, 3 weibliche
Progymnasien, ein Lehrerseminar und 147 Privatschulen, eine Tierarzneischule, Zeichenschule, ein Taubstummen- und Blindeninstitut,
eine Sonntags-Handelsschule, Handelsschule, einige Handwerkerschulen.
Von Wohlthätigkeitsanstalten sind besonders die Große Wohlthätigkeitsgesellschaft (1814 gegründet,
mit 80,000 Rub. jährlichen Einkünften), das Findelhaus und die Spitäler hervorzuheben. Warschau ist jetzt der Sitz eines Generalgouverneurs
(zugleich Kommandeur des 4. Militärbezirks), des 5. und 6. Armeekorpskommandos, eines griechisch-orthodoxen Erzbischofs und
eines römisch-katholischen Bischofs, eines Zivilgouverneurs, des Kurators des Warschauer Lehrbezirks, einer
Oberrechnungs- und einer Gerichtskammer sowie eines deutschen Berufskonsuls.
Geschichte. Die Stadt Warschau wird 1224 zuerst urkundlich erwähnt. Die Herzöge von Masovien residierten meist hier; mit ihrem
Aussterben 1526 fiel Masovien und mit ihm an Polen zurück. Bereits um 1550 von König Siegmund II. August
zur Residenz erhoben, war es seit der Zeit faktisch die
Hauptstadt Polens. Als 1573 Polen sich in ein Wahlreich verwandelte, wurde der erste Wahltag, auf welchem man Heinrich vonAnjou
erwählte, bei Wola, einem Dorf in der Nähe Warschaus, gehalten, und fast alle Wahlreichstage fanden seitdem daselbst statt.
Um 1655 besetzten die Schweden
[* 24] Warschau zum erstenmal, 1656 kam es jedoch wieder in polnische Hände. In demselben
Jahr (1656) ward bei Warschau vom 28.-30. Juli die dreitägige Schlacht zwischen der schwedisch-brandenburgischen Macht und dem
König JohannKasimir von Polen geschlagen, infolge deren sich die Stadt durch Kapitulation ergab.
Unter August II. und August III. ward Warschau sehr verschönert und belebt, indessen litt es während des NordischenKriegs ungemein. Karl XII. besetzte Warschau ohne Kampf. 1703 ward zu Warschau auf AnlaßSchwedens ein Konföderationskongreß
gehalten, der mit dem Frieden zu Warschau vom zwischen Karl XII. und StanislausLeszczynski endete. 1711 wurde dort auch
der Friede zwischen August II. und den Konföderierten unter russischer Vermittelung geschlossen und durch
den großen Pacifikationsvertrag vollzogen.