Wahrnehmung,
ursprünglich und auch heute noch im Sprachbewußtsein kaum von Empfindung (d. h. eigentlich Herausfindung) unterschieden, hat doch den etwas andern Sinn, daß sie ein aktives Auffassen von Objekten bezeichnet, während Empfindung bloß ein passives Getroffenwerden von Reizen besagt. Die höchste Stufe der Wahrnehmung wird passend mit einem vom klarsten Sinne hergenommenen Ausdruck »Anschauung« genannt (daher Anschauungsunterricht); die nach innen gewendete Wahrnehmung (innere Wahrnehmung gleich Selbstbeobachtung oder innerer Erfahrung) wird von der äußern Wahrnehmung unterschieden. Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß sie eine große Anzahl von qualitativ verschiedenen Empfindungen zur einheitlichen Auffassung eines »Dinges« vereinigt, und zwar stützt sie sich bei dieser ihrer vornehmsten Aufgabe auf zwei Momente: ein objektives (1) und ein subjektives (2). 1) Das wiederholte Auftreten gleicher oder ähnlicher Empfindungskomplexe zusammen mit der ergänzenden Thätigkeit von Vorstellungen bewirkt von der objektiven Seite her die Entstehung der Dinglichkeit in der Wahrnehmung. Eine Apfelsine ist für uns nicht eine rote Kugel,
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sondern mit dem Anblick dieser roten Kugel verbinden sich unmittelbar die Vorstellungen der Schwere, Süße, Rauheit u. dgl., so daß daraus die Wahrnehmung einer Apfelsine wird. Man darf hier kaum von einem »unbewußten Schlusse« sprechen, da die Mittelglieder fehlen, vielmehr handelt es sich um eine Summe von Associationen, deren Ineinandergreifen am besten als Prozeß der Verschmelzung bezeichnet wird. Die elementare Verschmelzung zwischen augenblicklichen Empfindungen und erwachenden Empfindungsresiduen wird dadurch nicht gestört, daß beider Inhalte in gewissen Punkten voneinander abweichen, denn weder brauchen alle in einer Wahrnehmung thatsächlich enthaltenen Empfindungen benutzt zu werden, noch die sich anheftenden Residuen früherer Eindrücke unverändert jene Eindrücke widerzuspiegeln (s. Vorstellung, S. 969), wobei die Auswahl von dem Übergewicht des einen oder des andern Faktors abhängen dürfte. Ein solches Ineinandergreifen von Gegenwärtigem und Vergangenem ermöglicht den festen Dingbegriff und die Entwickelung sogen. Allgemeinvorstellungen.
2) Durch diesen objektiven Thatbestand entsteht ganz allmählich bei dem Heranwachsenden eine Wahrnehmung von Objekten. Das Kind lernt durch das Zusammenprallen beabsichtigter Bewegungen mit äußern Widerständen sein Selbstbewußtsein vom Weltbewußtsein scheiden und eine in Wahrnehmungen vermittelte Macht außer sich anerkennen, deren Beziehungen zu dem eignen Leben schließlich den Kausalitätsbegriff entstehen lassen. Einen wichtigen Beitrag hierzu und zur subjektiven Theorie der Wahrnehmung überhaupt liefert die Raumanschauung (s. d.).
Vgl. Dilthey, Glaube an die Realität der Außenwelt (Berl. 1890).