Wahrnehmung
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Wald - Waldburg-Zeil

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Seite 18.987. ursprünglich und auch heute noch im Sprachbewußtsein kaum von
Empfindung (d. h. eigentlich Herausfindung)
unterschieden, hat doch den etwas andern
Sinn, daß sie ein aktives Auffassen von
Objekten bezeichnet, während
Empfindung bloß
ein passives Getroffenwerden von
Reizen besagt. Die höchste
Stufe der Wahrnehmung
wird passend mit einem vom klarsten
Sinne hergenommenen
Ausdruck
»Anschauung« genannt (daher
Anschauungsunterricht); die nach innen gewendete Wahrnehmung
(innere Wahrnehmung gleich
Selbstbeobachtung oder innerer
Erfahrung) wird von der äußern Wahrnehmung
unterschieden. Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß sie
eine große Anzahl von qualitativ verschiedenen
Empfindungen zur einheitlichen Auffassung eines
»Dinges« vereinigt, und zwar
stützt sie sich bei dieser ihrer vornehmsten Aufgabe auf zwei
Momente: ein objektives (1) und ein subjektives
(2). 1) Das wiederholte Auftreten gleicher oder ähnlicher Empfindungskomplexe zusammen mit der ergänzenden Thätigkeit
von
Vorstellungen bewirkt von der objektiven Seite her die Entstehung der Dinglichkeit in der Wahrnehmung.
Eine
Apfelsine ist für uns
nicht eine rote
Kugel,
¶
mehr
sondern mit dem Anblick dieser roten Kugel verbinden sich unmittelbar die Vorstellungen der Schwere, Süße, Rauheit u. dgl.,
so daß daraus die Wahrnehmung
einer Apfelsine wird. Man darf hier kaum von einem »unbewußten Schlusse« sprechen, da die Mittelglieder
fehlen, vielmehr handelt es sich um eine Summe von Associationen, deren Ineinandergreifen am besten als
Prozeß der Verschmelzung bezeichnet wird. Die elementare Verschmelzung zwischen augenblicklichen Empfindungen und erwachenden
Empfindungsresiduen wird dadurch nicht gestört, daß beider Inhalte in gewissen Punkten voneinander abweichen, denn weder
brauchen alle in einer Wahrnehmung
thatsächlich enthaltenen Empfindungen benutzt zu werden, noch die sich anheftenden Residuen früherer
Eindrücke unverändert jene Eindrücke widerzuspiegeln (s. Vorstellung, S. 969), wobei die Auswahl von
dem Übergewicht des einen oder des andern Faktors abhängen dürfte. Ein solches Ineinandergreifen von Gegenwärtigem und
Vergangenem ermöglicht den festen Dingbegriff und die Entwickelung sogen. Allgemeinvorstellungen.
2) Durch diesen objektiven Thatbestand entsteht ganz allmählich bei dem Heranwachsenden eine Wahrnehmung
von Objekten.
Das Kind lernt durch das Zusammenprallen beabsichtigter Bewegungen mit äußern Widerständen sein Selbstbewußtsein vom Weltbewußtsein
scheiden und eine in Wahrnehmungen
vermittelte Macht außer sich anerkennen, deren Beziehungen zu dem eignen Leben schließlich
den Kausalitätsbegriff entstehen lassen. Einen wichtigen Beitrag hierzu und zur subjektiven Theorie der Wahrnehmung
überhaupt liefert
die Raumanschauung (s. d.).
Vgl. Dilthey, Glaube an die Realität der Außenwelt (Berl. 1890).