Wahhâbīten
(unrichtig: Wehabiten oder Wahâbiten), die Anhänger einer in der Mitte des 18. Jahrh. aus dem centralen Hochlande Arabiens (Nedschd) ausgegangenen religiösen Bewegung, welche auf die religiösen und polit. Verhältnisse Arabiens großen Einfluß übte. Der Stifter der wahhâbitischen Reformation, Mohammed Ibn Abd al-Wahhâb, aus dem Stamm der Temimiten, wurde Anfang des 18. Jahrh. in der Provinz Nedschd geboren. Als Kaufmann machte er viele Reisen welche er zum Verkehr mit den großen orthodoxem Theologen in den Hauptstädten mohammed. Wissenschaft (Damaskus, Bagdad, Medina u. a. m.) benutzte.
Seine Bestrebung ging dahin, den Islam von aller in späterer Zeit eingedrungenen Verderbnis zu reinigen und sowohl in dogmatischer wie auch in praktischer Beziehung die alte Sunna (s. d.) in ihrer ursprünglichen Reinheit und Einfachheit herzustellen. In erster Reihe bekämpfte er die abgöttische Verehrung des Propheten, den Glauben an die Notwendigkeit der Fürbitte bei Gott, die Verehrung der Heiligen und ihrer Gräber und Reliquien sowie alle an diesen Kultus sich knüpfenden Vorstellungen.
Alle Mohammedaner, welche den reinen Monotheïsmus durch solche als Menschenverehrung gekennzeichnete Momente trüben, wurden als Muschrikin («die dem einzigen Gott Genossen zugesellen») gebrandmarkt. Die Lebensweise der patriarchalischen Zeit sollte wiederhergestellt werden, der Krieg gegen die Ungläubigen seine hervorragende Stelle in der Bethätigung des Islams wieder erhalten, die obligate Almosensteuer (Zakât) wieder in alter Weise entrichtet und aller Luxus verpönt werden. Dagegen ward in rigorosester Weise auf die strenge Einhaltung aller m Koran und im Hadîth (s. d.) begründeten Pflichten gedrungen. - Ibn Abd al-Wahhâb oder Wabhâbî, wie man ihn zu nennen pflegte, kam nach seiner Rückkehr in die nedschdische Heimat durch seine Lehre, [* 2] welche er auch in theol.
Schriften theoretisch begründete und entwickelte, in Konflikt mit den herrschenden Kreisen und mußte mit seinen Getreuen erst aus Horaimala, bald auch aus Ejâna auswandern. Sie wandten sich (etwa ums Jahr 1750) nach Darija (unrichtig Dheraja), dessen junger Fürst, Saûd ibn Abd al-azîz, die Flüchtigen freundlich aufnahm. Wahhâbi starb um 1787 in Darija. Saûd fand in kurzer Zeit unter den Beduinen viele Anhänger, deren Tapferkeit ihm bald die Herrschaft über das innere Arabien sicherte.
Als nach Saûds
Tode (1765) dessen Sohn
Abd al-azîz (1765-1803) den
Thron
[* 3] bestieg, unterwarf er die
Provinzen
Bahrain und Oman. Seine Eroberungen in
Arabien nahmen einen wachsenden
Umfang ein; selbst der Großscherif von Mekka, der 1790 gegen
die einen Kriegszug begann, war genötigt, Frieden zu schließen. 1801 überfiel die
Armee der Wahhâbiten
unter
Führung Saûds, des
Sohnes
Abd al-azîz’,
Kerbela, die heilige Stadt der Schiiten (s. d.), und zerstörte, im
Sinne der
Lehren
[* 4] der Wahhâbiten
, die Grabesstätte des Husein.
Durch die Eroberung von Taif, 1803, kam Mekka in ihre Gewalt. Im selben Jahre wurde
Abd al-azîz ermordet. Ihm folgte sein
Sohn Saûd II. (1803-14), der das Werk der Unterwerfung
Arabiens mit der Eroberung Medinas vervollständigte.
Jetzt erteilte die
Pforte dem Pascha von
Ägypten,
[* 5]
Mehemed Ali, den
Befehl, behufs Wiedernahme der beiden heiligen
Städte (Mekka
und Medina) den Wahhâbiten
den
Krieg zu erklären. Unter Anführung Tußuns, des zweiten
Sohnes des Paschas, landete die
ägypt. Expedition Ende 1811 in
Arabien, rückte in Hidschas ein und eroberte nach harten Kämpfen mit den arab.
Stämmen 1814 Mekka
und Medina wieder.
Die Wahhâbiten
boten 1816 Frieden an, den jedoch
Mehemed Ali nicht ratifizieren wollte. Er sandte seinen Adoptivsohn Ibrahim Pascha
nach
Arabien; derselbe drang bis nach Nedschd vor, eroberte nach fünfmonatiger
Belagerung Darija, nahm
den als Nachfolger des
Abd al-azîz seit 1814 herrschenden
Abdallâh gefangen und schickte ihn nach
Konstantinopel,
[* 6] wo er hingerichtet
wurde (1818). Ibrahim Pascha suchte zunächst die religiösen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Wahhâbiten
und
den
Sunniten beizulegen und die Wahhâbiten
mit letztern zu versöhnen. Er setzte einen ägypt.
Gouverneur in Darija ein und kehrte nach
Ägypten zurück. Sofort riefen die Wahhâbiten
1820 Turkî, den Sohn des hingerichteten
Abdallâh,
als Herrscher aus, der bald darauf von seinem Vetter Meschârî ermordet wurde. Auch die Herrschaft des Meschârî dauerte
nur kurze Zeit, da
¶
mehr
Turkis Sohn Faißal ihn bald wieder stürzte. Aber auch Faißal mußte (1832) die Flucht ergreifen, als der ägypt.
General Khurschid Pascha in Arabien einrückte. Ein großer Aufstand brachte Faißal wieder auf den Thron, aber er wurde von
Khurschid gefangen genommen und in Ketten nach Ägypten geschickt, wo er bis zum Regierungsantritt des
Abbâs Pascha eingesperrt blieb. Um diese Zeit entkam er von neuem. Er soll um 1870 gestorben sein. Sein Sohn Abdallâh folgte
ihm in der Regierung; ihn verdrängte später sein Bruder Saûd. Das Gemeinwesen der Wahhâbiten
mit der dasselbe charakterisierenden
religiösen und socialen Richtung besteht noch heute auf seiner ursprünglichen puritanisch-zelotischen
Grundlage. An Umfang ist das Reich der Wahhâbiten
auf seine nedschdische Heimat eingeschränkt, wo es noch 316 Ortschaften im Umfang
von 523098 qkm mit etwa 1133000 Seelen umfassen mag. - Außer Arabien ist der Wahhâbismus als religiöses System auch nach
Indien eingedrungen. Gegen 1826 verkündete Sejjid Ahmed (geb. 1786 in Rai Bareli in der Provinz Oudh) die
religiösen Principien der Wahhâbiten
und predigte den Religionskrieg gegen die Sikh. Sein Schüler und Genosse Mohammed Ismail (geb. 1781 in
Dehli) gab der neuen Lehre weitere Begründung in seinen Werken: «Stärkung des Glaubens» (Takwijat al-îmân) und «Der gerade
Weg» (Sirât mustakîm). Im südl. Indien ist das Bekenntnis der Wahhâbiten
noch heute vertreten. -
Vgl. Histoire des Wahabis depuis leur origine jusqu’à la fin de 1809 (Par. 1810);
Burckhardt, Notes on the Bedouins and Wahabys (Lond. 1830; deutsch Weim. 1830-31);
Wahhâbiten
G. Palgrave, Narrative of a year’s journey through Central and Eastern
Arabia 1862-63 (2 Bde., Lond. 1865;
deutsch, 2 Bde., Lpz. 1867-68);
d’Avril, L’Arabie contemporaine (Par. 1868);
Zehme, Arabien und die Araber seit hundert Jahren (Halle [* 8] 1875).