Volkszählungen
,
zum Unterschied von der mittelbaren Erforschung des Standes der Bevölkerung [* 3] durch Schätzung und Berechnung (vgl. Bevölkerung, S. 851) die unmittelbare Auszählung aller Glieder [* 4] einer vorhandenen Bevölkerung. Solche Zählungen sind schon im Altertum veranstaltet worden, so in Ägypten [* 5] unter Amasis 500 v. Chr., dann in Israel unter dem König David; doch beschränkte man sich damals nur auf die Ermittelung der waffenfähigen Mannschaft. In Rom [* 6] war unter Augustus eine umfassende Zählung angeordnet worden. Im Mittelalter kommen Zählungen der Bevölkerung eines Landes nicht vor, während seit Beginn des 15. Jahrh. in verschiedenen Städten gelegentliche Auszählungen veranstaltet wurden.
Für Ermittelung der
Bevölkerung der damaligen Zeit können heute neben den freilich mangel- und lückenhaften Kirchenbüchern
nur noch mittelbare Anhaltspunkte benutzt werden. Erst mit dem 18. Jahrh. werden in einigen
größern
Ländern
Zählungen mit nachträglichen
Revisionen an der
Hand
[* 7] der Zivilstandsregister ausgeführt.
So fanden in
Schweden
[* 8] schon seit 1748 umfassende
Aufnahmen statt, und 1749 wurde für den
Zweck der Volkszählungen
eine eigne Tabellenkommission
ins
Leben gerufen.
Regelmäßig wiederkehrende Zählungen finden statt in den Vereinigten Staaten [* 9] von Nordamerika [* 10] seit 1790, in England seit 1800, Frankreich seit 1801, Preußen [* 11] seit 1816 (Zollverein seit 1834), Holland seit 1819, Sardinien [* 12] seit 1838, Schweiz [* 13] seit 1841, Belgien [* 14] seit 1846. Zu unterscheiden sind: a) die faktische (thatsächliche) oder ortsanwesende Bevölkerung, b) die Wohnbevölkerung, c) die einheimische oder rechtliche Bevölkerung. »Unter der faktischen Bevölkerung ist die Summe jener Personen zu verstehen, welche am Zählungsort zur Zeit der Zählung anwesend waren. Unter der Wohnbevölkerung begreift man jene Personen, welche im Zählungsort gewöhnlich verweilen, also die faktische Bevölkerung mit Hinzurechnung der zur Zeit der Zählung nur vorübergehend Abwesenden und Abrechnung der nur vorübergehend Anwesenden. Unter der einheimischen Bevölkerung wird jene verstanden, welche im Zählungsort das Heimatsrecht, die Zuständigkeit besitzt, soweit eine solche neben der Staatsbürgerschaft überhaupt gesetzlich besteht.« Die Kenntnis jeder dieser Arten der Bevölkerung hat für bestimmte Zwecke ihre Bedeutung, so die rechtliche für Wehrpflicht und Einkommensteuer, die Wohnbevölkerung für indirekte Besteuerung, Zollabrechnungen in Zollvereinsstaaten (Zollabrechnungsbevölkerung), die thatsächliche Bevölkerung für die allgemeine Kontrolle.
Der statistische Kongreß zu Petersburg [* 15] stellte die Forderung auf, es sollten die Erhebungen, deren Nachweis kein Kulturstaat unterlassen dürfe, umfassen: a) Vor- und Zunamen, b) Geschlecht, c) Alter, d) Verhältnis zum Haupte der Familie oder des Haushalts, e) Zivilstand, f) Beruf oder Beschäftigung, g) Religionsbekenntnis, h) im gewöhnlichen Verkehr gesprochene Sprache, [* 16] i) Kenntnis des Lesens u. Schreibens, j) Herkunft, Geburtsort und Staatsangehörigkeit, k) Wohnort und Art des Aufenthalts am Zählungstag (ob dauernd oder vorübergehend anwesend, resp. abwesend), l) Blindheit, Taubstummheit, Blödsinn und Kretinismus, Geisteskrankheit.
Alle übrigen
Erhebungen sollten je nach gegebenen besondern Bedürfnissen angestellt werden. Aus praktischen
Gründen dürfen
nicht zu viele
Fragen gestellt und dieselben nicht auf solche Gegenstände erstreckt werden, bei denen
die Beantwortung mit
Zweifeln zu kämpfen hat oder ein zu tiefes Eindringen in Familienverhältnisse erforderlich wäre. Als
Zeit der Volkszählungen
sollte eine solche gewählt werden, zu welcher der größte Teil der
Bevölkerung sich zu
Hause aufhält.
Meist hat man einen
Tag des
Monats
Dezember gewählt. Wünschenswert ist eine häufige Wiederholung der
Volkszählu
ngen; doch nötigt der hohe für dieselben erforderliche Kostenaufwand zu Beschränkungen. Wenigstens sollten
die
Zählungen einmal innerhalb eines Jahrzehnts und zwar in den
Jahren vorgenommen werden, deren Endzahl die Zahl zehn oder
deren Vielfaches ist. Es zählten seither alle zehn Jahre: Belgien,
Dänemark,
[* 17]
Italien,
[* 18]
Niederlande,
[* 19]
Norwegen
(am 1., bez. 31. Dez.),
Großbritannien
[* 20] (am 3. April) nebst den britischen
Kolonien und die
Vereinigten Staaten von
Nordamerika (1. Juni); das
Deutsche Reich
[* 21] (früher alle drei Jahre),
Schweden und
Frankreich dagegen alle fünf Jahre.
Die
Durchführung der Volkszählungen
kann entweder
durch die
Verwaltung erfolgen, welche zu dem
Zweck eigne
Agenten bestellt (so in
Belgien,
Frankreich,
Großbritannien,
den
Vereinigten Staaten von
Nordamerika), oder man stützt sich auf die ausgedehnteste Mithilfe der Bewohner selbst, welchen
man die Ausfüllung der Erhebungsformulare überläßt, und wobei sich die
Verwaltung auf die
Kontrolle durch die Zählungskommission
beschränkt (so im
Deutschen
Reich und in den größern Ortschaften von
Österreich).
[* 22]
Verwandt werden in der neuern Zeit mehr und mehr die Zählkarten (bulletins individuels), d. h. Formulare, welche je eine Person umfassen, die strengste Individualisierung, sowie Einfachheit in der Fragestellung und in der Beantwortung ermöglichen. Die Haus- oder Haushaltungslisten (bulletins de menage), welche noch meist angewandt werden, bilden dagegen in ihrer Zusammensetzung eine Gewähr für gewisse gegenseitige Kontrollen, doch können letztere dadurch geboten werden, daß die Karten durch Verzeichnisse ergänzt werden, welche die Haushaltungslisten ersetzen und über das Verhältnis der Familie oder des Haushalts Aufschluß geben. Die Verarbeitung (Aufbereitung) des Urmaterials erfolgt in einigen Ländern durch die politische oder geistliche Verwaltung (so in Österreich, Frankreich, Schweden, Schweiz, Niederlande), in andern Ländern (Deutsches Reich, Ungarn, [* 23] Italien, Belgien, Großbritannien) durch sachkundige Organe von wohlorganisierten statistischen Büreaus. Vgl. E. Engel, Die Methoden ¶
mehr
der Volkszählung
(Berl. 1861);
Derselbe, Die Aufgaben des Zählwerkes im Jahr 1880 (in der »Zeitschrift des königlich preußischen Statistischen Büreaus« 1879);
»Konferenz der Direktoren der statistischen Büreaus deutscher Städte« (Berl. 1879);
die betreffenden Teile der »Preußischen Statistik« und der »Statistik des Deutschen Reichs«;
Körösi, Projet d'un recensement du monde (Par. 1881);
v. Scheel, Zur Technik der (in den »Jahrbüchern für Nationalökonomie« 1869).