Titel
Volksvertr
etung.
Eine solche besteht jetzt in allen europäischen Staaten mit Ausnahme Rußlands, Montenegros, Monacos und der Türkei. [* 2] Allerdings gab der jetzt regierende Sultan Abd ul Hamid bald nach seinem Regierungsantritt eine Verfassung, dieselbe ist aber jetzt thatsächlich wieder aufgehoben, da die Reichsversammlung, bestehend aus einem Senat (vom Sultan auf Lebenszeit ernannte Mitglieder, deren Zahl die Hälfte der Deputierten nicht überschreiten darf) und einer Deputiertenkammer (1 Abgeordneter anf je 50,000 männliche Einwohner, welche in geheimer Wahl auf 4 Jahre gewählt werden), seit 1877 nicht mehr einberufen worden ist. In Amerika [* 3] haben jetzt alle Staaten, die ja nach Abschaffung des Kaisertums in Brasilien [* 4] jetzt sämtlich Republiken sind, Volksvertretungen, in Afrika [* 5] nur Liberia [* 6] und die beiden Burenrepubliken. In Asien [* 7] hat nur ein einziger Staat, Japan, [* 8] eine Repräsentativverfassung, indem durch Erlaß vom ein Oberhaus und Unterhaus geschaffen wurden. In Australien [* 9] bestehen in sämtlichen englischen Kolonien Nachbildungen der englischen Verfassung, nur daß, wie in Amerika, in Ermangelung eines Erbadels das Oberhaus aus Wahlen auf Zeit hervorgeht.
Von den einheimischen Staaten haben Hawai [* 10] und Tonga Volksvertretungen, ersteres mit zwei Kammern, letzteres mit einer. Im allgemeinen herrscht das Zweikammersystem vor. Die deutsche Reichsverfassung nimmt mit dem aus Bevollmächtigten der einzelnen Staaten bestehenden Bundesrat und einem vom Volk auf breitester Basis gewählten Reichstag eine eigenartige Stellung ein; Norwegen, [* 11] Finnland, Liechtenstein [* 12] und Luxemburg, [* 13] Costarica, die Dominikanische Republik, Guatemala, [* 14] Honduras, [* 15] der Oranje-Freistaat, Salvador, [* 16] Serbien [* 17] und Bulgarien haben nur eine Kammer.
Die Verfassungen, nach welchen die in den vornehmsten konstitutionellen Staaten gewählt wird, und welche die Rechte derselben abgrenzen, sind nach den letzten stattgefundenen Veränderungen in folgendem kurz dargestellt, ebenso die Parteiverhältniffe, in welche die Volksvertretungen sich gegenwärtig gliedern.
(Belgien.) Nach der Konstitution vom besteht die Nationalversammlung aus dem Senat und der Kammer der Repräsentanten. Die letztere zählt 138 unmittelbar von den Bürgern gewählte Abgeordnete. Die Wähler müssen mindestens 21 Jahre alt sein und den durch das Wahlgesetz bestimmten direkten Steuerbetrag (nicht unter 21 Frank) zahlen. Die Abgeordneten werden auf 4 Jahre gewählt (1 Abgeordneter auf 40,000 Seelen), von denen alle ¶
forlaufend
957
2 Jahre die Hälfte ausscheidet. Sie beziehen diäten, monatlich 423 Frank. Wählbar ist jeder 25 Jahre alte Belgier (durch Geburt oder Naturalisation), der in Belgien seinen Wohnsitz bat und einen Steuerbetrag von mindestens 42 Fr. zahlt. Der Senat wird nach Maßgabe der Bevölkerung [* 19] einer jeden Provinz durch dieselben Wahlkollegien wie die Repräsentantenkammer gewählt und zwar auf 8 Jahre und alle 4 Jahre zur Hälfte erneuert. Erbesteht aus der Hälfte der Mitgliederzahl der Repräsentantenkammer (66) und erhält keine Diäten.
Ein Senator muß Belgier, 40 Jahre alt sein und mindestens 2116 Fr. direkte Steuern zahlen. In den Provinzen, wo die Zahl der Bürger, welche diese Steuer zahlen, nicht das Verhältnis von 1 auf 6000 erreicht, wird sie durch die Höchstbesteuerten vervollständigt. Beide Kammern verhandeln öffentlich, wählen ihr Bureau selbst, beschließen nach absoluter Stimmenmehrheit, und kein Mitglied darf für seine Äußerungen zur Rechenschaft gezogen werden. Das Budget wird jährlich fest- ! gesetzt, die Repräsentantenkammer wählt die Mit-! glieder des Rechnungshofes und hat das Recht der Ministeranklage vor dem Kassationshof.
Die Kammern versammeln sich alljährlich. Die beiden Hauptparteien in der Repräsentantenkammer sind die der Klerikalen und der liberalen, wozu noch die kleinern der Protestanten und Sozialisten kommen, welche beide mit den Liberalen stimmen. Die Klerikalen oder Katholiken zählen gegenwärtig 97, die Liberalen 41Stnmnen;die erstern leiten seit mehr als4Jahren die Regierung. Der Senat besteht aus 50 Katholiken und 19 Liberalen. ^Bulgarien.) Die Nationalversammlung (Narodno Sobranje) geht nach dem Gesetz vom 17. (29.) De;. 1880, abgeändert 12. (24.) Dez. 1883, aus direkten und allgemeinen Volkswahlen hervor, und zwar kommt ein Abgeordneter auf je 10,000 Eimv.
Die Legislaturperiode umfaßt 3 Jahre. Wahlfähig ist jeder! Bulgare nach Vollendung des 21. Lebensjahres, wähl-! bar nach
Vollendung des 30. Lebensjahres, wenn er im Besitz der Elementarbildung ist. Militärpersonen bei der Fahne und Beamte sind
nicht wahlfähig. Handelt es sich um Gebietsveränderung, Verfassungsänderung, Wahl eines Fürsten, Einsetzung
einer Regentschaft, so ist die Große Nationalversammlung (Weliko Narodno Sobranje) einzuberufen, welche doppelt soviel Mitglieder
zählt wie die gewöhnliche Volksvertr
etung. Die gegenwärtige Sobranje wurde im Oktober 1890 gewählt, sie Zählt 295 Mitglieder. Es bestehen
in derselben zwei Parteien, die Anhänger der Regierung und die Opposition.
Die erstern zählen gegenwärtig nicht weniger als 260. Die hervorragendsten Mitglieder der Regierungspartei, die zugleich die antirussische ist, sind, nachdem der General Mutkurow (bis 1891 Kriegsminister) im März 18^)1 gestorben ist, Stambulow, Stransky, Salobotschew, Tontschew; die Führer der Opposition, der russischen Partei, sind Karcnvelow und Raooslawow. l Dänenlark.^ Nach der Verfassung vom revidiert besteht der Reichstag aus dem Landsthing (Erste Kannner) und dem Folkething (Zweite Kammer).
Das Landsthing zählt 66 Mitglieder, von denen 12 auf Lebenszeit vom König ernannt, 7 von Kopenhagen, [* 20] 45 in den Wahlbezirken der Städte und des Landes, 1 von Bornholm, 1 von den Färöer in mittelbarer Wahl auf 8 Jahre gewählt werden, so daß nach 4 Jahren immer die Hälfte ausscheidet. Die Wahlen geschehen mit Zensus für das Wahlrecht und Quotientenwahlen, wonach auch die Minoritäten der Wahlmänner reprä sentiers werden. Die Anzahl der Mitglieder des Folkethings soll in dein Verhältnis von 1 auf 16,000 Einw. stehen und ist jetzt,102.
Bei der Wahl derselben (auf 3 Jahre) sind die Ämter nach ihrer Bewohnerzahl in Wahlkreise geteilt, 2 in 4, 10 in 5, 3 in 6,2 in 7, 1 (Born Holm) in 2, die Hauptstadt Kopenhagen in 9, die Färöer bilden einen Wahlkreis. Zur Wahlberechtigung sind 30, zur Wählbarkeit25 Lebensjahre erforderlich. Die Kammern versammeln sich alljährlich. Sämtliche Mitglieder des Landsthings und des Folkethings erhalten Diäten (7 Mk. 50 Pf. für den Tag während der Sitzungen nebst Reisegeldern).
Das jährliche Budget ist zuerst dem Folkething vorzulegen. Jedes Thing hat das Recht der Initiative. Kein Gesetzesentwurf ist als angenommen zu betrachten, ehe er nicht dreimal vom Thing verhandelt worden ist. Die Mitglieder sind unverantwortlich und unantastbar, es fei denn, daß das Thing selbst eine Verantwortung bewilligt. Der Zusammentritt des Reichstags erfolgt alljährlich 1. Okt. am Sitz der Regierung, doch darf der König diesen Termin in besondern Fällen um 2 Monate hinausschieben und auch einen andern Ort dafür bestimmen.
Das Folkething kann die Minister vor dem Reichsgericht anklagen und kann dem König das Anklagerecht auch gegen andre gestatten. Für irgend welche Vergehen (ausgenommen bei Ergreifung auf frischer That) kann kein Mitglied ohne Einwilligung seines Things zur Verantwortung außerhalb desselben gezogen wer^ den. Zu dem Reichsgericht stellt das Landsthing eine Anzahl von ihm selbst gewählter Mitglieder. Zwischen beiden Häusern besteht ein fortwährender Kampf; das gegenwärtige Ministerium unter Estrup behauptet, daß dem Folkething nicht, wie in England, das Recht über Finanzangelegenheiten zu bestimmen zusteht, sondern daß der König mit dem Landsthing das Folkething überstimmen können.
Nach den letzten Wahlen sitzen im Landsthing 52-54 Mitglieder auf der Rechten, 10-12 auf der Linken, 2 sind Sozialisten. Im Folkething sitzen 26 Mitglieder auf der Rechten, 60 auf der Linken, 14 gehören zur verwandten Partei Bergs (s. d.) und 4 sind Sozialisten, welche in der Regel mit der Linken stimmen. l Teutschcs Reichs Nach der Verfassungsurkunde vom in Kraft [* 21] seit 4. Mai '1871, modifiziert wird die gesetzgebende Gewalt über Streitkräfte, Finanzen, Handel, Verkehrswesen, Heimatswesen und Rechtspflege ausgeübt durch den Bundesrat in Verbindung mit dem Reichstag.
Der Bundesrat besteht aus 58 von den Oberhäuptern der das Reich bildenden Bundesstaaten ernannten Bevollmächtigten (17 von Preußen, [* 22] 6 von Bayern, [* 23] je 4 von Sachsen [* 24] und Württemberg, [* 25] je 3 von Baden [* 26] und Hessen, [* 27] je 2 von Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig [* 28] und je 1 von den übrigen Staaten). Elsaß-Lothringen [* 29] ist im Bundesrat durch stimmberechtigte Bevollmächtigte nicht vertreten, doch können vom Statthalter zur Vertretung von Vorlagen aus dem Bereich der dortigen Landesgesetzgebung und zur Wahrung der Interessen des Reichslandes Kommissare abgeordnet werden.
Gegenwärtig sitzen zwei solche Konnnissare im Bundesrat. Der Bundesrat hat keineswegs den Charakter eines Oberhauses oder einer Ersten Kammer, wie in andern konstitutionellen Staaten. Er ist nicht nur ein gesetzgebender Körper, sondern auch ein Regierungskollegium und eine verwaltende und ausführende Stelle. Die Mitglieder haben in Gemäßheit der Instruktionen zu stimmen, welche ihnen ihre Regierungen, deren Mandatare sie sind, erteilten, und über die zur Ausführung der ¶
forlaufend
958
Neichsgcsetze erforderlichen Verwaltungsvorschriften' zu beschließen. Die Vorlagen sür den Reichstag werden nach den Beschlüssen des Bundesrates an den Reichstag gebracht und in demselben durch Mitglieder des Bundesrates oder durch besondere, von letzterm ernannte Kommissare vertreten. Die Mitglieder haben das Recht, jederzeit im Reichstag zu erscheinen und dort die Ansichten ihrer Regierungen zu vertreten. Den Vorsitz im Bundesrat hat der Reichskanzler.
Der Reichstag besteht aus 397 Mitgliedern, vom deutschen Volk durch allgemeine und direkte Abstimmung auf 5 Jahre gewählten Abgeordneten, welche keine Diäten erhalten. Zur Wahlberechtigung wie zur Wählbarkeit sind 25 Lebensjahre erforderlich. Die Beamten des Reichstags für die Legislaturperiode 1890 95 sind 1 Präsident, 2 Vizepräsidenten, 8 Schriftführer, 2 Quä'storen und 1 Direktor. Weiteres s. Bd. 4, S. 837. Der deutsche Reichstag steht gegenwärtig in seiner achten Legislaturperiode.
Seit den ersten Wahlen 1871 haben sowohl hinsichtlich der Teilnahme der Bevölkerung an den Wahlen als hinsichtlich der Zahl und Stärkeverhältnisse der Parteien sich ganz außerordentliche Veränderungen vollzogen. Während 1871 die bei den entscheidenden Wahlen abgegebene Stimmenzahl 4,154,200 betrug, erreichte'dieselbe 1890: 7,337,900, ein schlagender Beweis für die wachsende Teilnahme am politischen Leben, wenngleich dabei auch in Betracht zu ziehen ist, daß die Bevölkerung Zwischen 1871 und 1890 von 41 auf 46.8 Mill. und die Zahl der Wahlberechtigten von 7,975,800 auf 10,145,900 stieg.
Bei dem ersten Zusammentreten des Reichstags 1871 gab es 12 Parteien, uud diese Zahl besteht auch noch heute, nachdem jedoch eine Partei im Laufe der Zeit sich mit zwei ihr nahestehenden Gruppen verschmolzen, eine andre, die der liberalen Reichspartei, verschwunden, eine dritte, die der Antisemiten, seit 1887 neu entstanden ist. Zusammenstellung des Reichstags in den Legislaturperioden 1871-90: 1871 1381 1590 1890 Teutschkonservative 57 50 70 Deutsche Reichspartei [* 31] (Freikonscrv.) I 37 28 19 liberale Reichsftartci L berale Vereinigung j Deutsch- j ^^ 4 ! Fortschrittspartei )) freisinnige. 46 0 ! Zentrum 61 100 105 Polen 13 18 16 Sozialdemolratcn 2 12 35 Volkspartei 1 9 9 Weifen 9 10 11 Elsässer 15 15 10 Dänen 1 2 1 Antisemiten - - 5 Nnbestimmt .. .. - - 8 Auffallend ist das mächtige Anwachsen des Zentrums, ebenso das der Fortschrittspartei, verhältnismäßig noch bedeutender ist aber die Zunahme der Zahl der Sozialdemokraten, wogegen die einst so starke Partei der Nationalliberalen auf ein Drittel, die der Elsässer auf zwei Drittel ihrer ehemaligen Stärke [* 32] gesunken sind und auch die konservativen Parteien nicht unerheblich eingebüßt haben.
Daß die gegenwärtige Zusammensetzung des Reichstags indes keineswegs ein getreues Bild der unter den Wählern vertretenen politischen Richtungen widerspiegelt, beweist die nachfolgende Zusammenstellung der für die Kandidaten der einzelnen Parteien abgegebenen Stimmen (in Tausenden). Deutschkonservative Deutsche Neichspartci liberale Ncichdpartei Nationalliberale j Liberale Vereidigung j Teutsch- j Fortschrittspartei j freisinnige. Zentrum Polen Cozialdemokratcn Vulkspartei Welsen und Partikularsten. .. . Glsässer Dänen Antisemiten Unbestimmt und zersplittert. .. . Danach entfielen die meisten gültigen Stimmen zunächst auf Kandidaten des Zentrums, der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen, der Deutschfreisinnigen und der Teutschkonservativen, in größerm Abstand folgt dann die Reichspartei, in noch weiterm die Polen, Volkspartei, Welsen, Elsässer 2c. Es ergibt sich daraus, daß ein die Kopfzahl der Wähler nach ihren politischen Richtungen wahrhaft entsprechend vertretener Reichstag sich in Gemäßheit der obigen Stärkeverhältnisse zusammensetzen sollte.
Daß dies nicht der Fall ist, darf man freilich im Hinblick auf die gewaltig angeschwollene Stimmenzahl der Eozialdemokraten nicht beklagen. Neben den Sozialdemokraten ist besonders das Anwachsen der Deutschfreisinnigen und des Zentrums auffallend, während die stimmen der Elsässer auf sehr erheblich weniger als die Hälfte heruntergegangen sind. Bemerkenswert ist das Anwachsen der süddeutschen demokratischen Partei, welche bei den Wahlen von 1887 keinen einzigen Kandidaten durchbrachte, seit 1890 aber durch 10 Abgeordnete vertreten ist, und deren Stimmenzahl seit 1870 um das Achtfache anwuchs.
^Frankreichs Nach der Verfassung vom wiederholt ergänzt, zuletzt wird die Nationalversammlung von zwei Kammern gebildet, welche sich jährlich versammeln, dem Senat und der Deputiertenkammer. Der Senat besteht aus 300 Mitgliedern, von denen 247 durch besondere Wahlkommissionen der Departements und Kolonien auf 9 Jahre gewählt find und alle 3 Jahre zu ewem Drittel erneuert werden. Die übrigen53sind lebenslängliche Senatoren, der Rest der75 ursprünglich von der Nationalversainmlung und dem Senat auf Lebenszeit gewählten Senatoren, welche unabsetzbar sind, aber seit 1884 nach ihrem Aussterben ebenso wie die übrigen ergänzt werden.
Bei Beginn der ersten Session werden die gewählten Senatoren in drei an Zahl gleich starke »Serien geteilt und hierauf durch das Los die Serien bestimmt, welche nach Ablauf [* 33] des ersten und zweiten Trienniums zu erneuern sind. Die Deputiertenkammer besteht aus 584 Mitgliedern (je 1 für 70,000 Einw.), worunter 6 aus Algerien, [* 34] 10 aus den Kolonien, welche departementsweise seit 1885im Negedes Listenskrutiniums durch direkte allgemeine Wahlen auf 4 Jahre gewählt werden. Nach dem Gesetz vom sind zur Wahlberechtigung 21, zur Wählbarkeit 25 Lebensjahre erforderlich. Aktive Militärs sind weder wahlberechtigt noch wählbar, ebenso sind die meisten Staatsbeamten nicht wählbar. Der Senat teilt mit der Deputiertenkammer die Initiative bei der Abfassung der Gesetze, doch müssen die Finanzgesetze zuerst der Deputiertenkammer vorgelegt und von ihr genehmigt werden. Der Senat tritt als Gerichtshof zusammen, um den ¶