Titel
Volksschule
,
Stadt- oder
Landschule, welche, soweit dies auf der
Stufe der bildungsfähigen Kindheit (vom vollendeten 6. bis
zum vollendeten 14. Jahr) geschehen kann, diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten lehrt und zu derjenigen
Bildung erziehend
mitwirkt, deren ein jeder
Mensch auch in den niedern Lebensständen als
Glied
[* 3] eines gebildeten
Volkes bedarf.
Schon
in dieser Begriffsbestimmung liegt angedeutet, daß die Volksschule
weder in den aristokratischen
Staaten des
Altertums, wo die bürgerlichen
Rechte nur einer bevorzugten Minderheit gewährt, der Mehrheit der Unfreien aber versagt waren, noch auch im Feudalstaat
des
Mittelalters gedeihen, sondern ihren wahren Lebensboden nur in dem neuern
Staate, der rechtlich verfaßten
Volksgemeinde, finden konnte.
Demgemäß gehören die Anfänge der Volksschule
den
Jahrhunderten des Überganges (16. und besonders 17.) vom
Mittelalter zur Neuzeit
an, und erst in unsrer Zeit begannen selbst die gebildeten
Staaten nach dem Vorgang
Deutschlands
[* 4] das Volksschul
wesen durchgreifend
gesetzlich zuordnen.
Vor der Reformationszeit war der
Gedanke an eine allgemeine Volksschule
nur von wenigen erleuchteten
Geistern geahnt worden; so dachte
Karl d. Gr. an einen allgemeinen Volksunterricht durch die
Priester, und ähnliche
Pläne
faßten hier und da wohldenkende höhere und niedere
Geistliche oder städtische Obrigkeiten des
Mittelalters, ohne aber ein
rechtes Entgegenkommen für diese
Ideen zu finden.
Erst die
Reformation brachte das
Bedürfnis einer allgemeinen
Volksbildung, die indes im
Lesen der
Heiligen Schrift
fast ausschließlich ihr
Ziel fand, allgemeiner zum Durchbruch. Dadurch wurden mittelbar die
Reformatoren,
Luther an der
Spitze,
die Begründer der deutschen als deren
Lehrer durchweg die
Küster oder niedern
Kirchendiener wirkten. Der unmittelbare Einfluß
der
Reformatoren kam mehr den gelehrten, sogen. lateinischen
Schulen zu gute. Die
Stürme des Dreißigjährigen
Kriegs unterdrückten fast überall die schwachen
Ansätze der Volksschule
, erweckten aber zugleich mit neuer
Kraft
[* 5] das allgemeine
Bedürfnis
besserer
Volksbildung, welche W. Ratich und besonders J. A.
^[Johann
Amos]
Comenius (s. d.) als das wichtigste
Anliegen der Zeit
verkündeten.
Schon während der letzten Kriegsjahre gab Herzog Ernst der Fromme von Gotha [* 6] (s. Ernst 13) das noch heute beachtenswerte Vorbild einer trefflichen Schuleinrichtung, dem nach und nach die übrigen deutschen Fürsten, besonders im protestantischen Norden, [* 7] folgten. Zu dieser Zeit wurden in verschiedenen deutschen Ländern die ersten staatlichen Verordnungen über die allgemeine Schulpflicht erlassen. Seit Beginn des 18. Jahrh. übernahm Preußen [* 8] auch auf diesem Gebiet die Führung, wozu namentlich der Einfluß des Spener-Franckeschen Pietismus mitwirkte.
Friedrich
Wilhelm I. erließ 1736
Principia regulativa für das Landschulwesen, die den
Grundsatz der allgemeinen Schulpflicht
gesetzlich feststellten,
Friedrich H. 1763 das Generallandschulreglement. Beide
Fürsten begünstigten
auch die freilich noch sehr dürftigen Anfänge des Seminarwesens, welches seitdem sich parallel mit der Volksschule
fortentwickelt
hat. Von ihrem
Beispiel oder auch vom
Geiste der Zeit angeregt, der
Aufklärung des
Verstandes über alles galt, folgten nach
und nach die übrigen deutschen
Fürsten, namentlich in
Österreich,
[* 9]
Bayern,
[* 10]
Baden
[* 11] und in
Württemberg,
[* 12] wo
die Volksschule
schon früher verhältnismäßig hoch entwickelt war. In betreff der anregenden Einflüsse, welche
auch das Volksschulwesen von der philanthropischen
Bewegung seit 1770 erfuhr, darf auf den
Artikel
»Pädagogik« erwiesen werden.
Vor allen andern ist in dieser
Beziehung der
Domherr v.
Rochow (s. d. 1) mit
Ehren zu nennen.
Noch mächtiger war die gegen Ende des Jahrhunderts von Pestalozzi (s. d.) ausgehende Anregung, welche seit den Unglückstagen von Jena [* 13] und Tilsit [* 14] zu einer wirksamen Umgestaltung der in Preußen und demnächst im übrigen Deutschland [* 15] führte, die leider durch die Verwickelungen der folgenden Jahrzehnte ins Stocken geriet. Unter den preußischen Pestalozzianern war längere Zeit Harnisch (s. d.) der einflußreichste, gab aber die Leitung in dem Maß an den liberalen Pestalozzianer Diesterweg (s. d. 2) ab, wie er sich der kirchlichen Reaktion zuneigte.
Das Jahr 1848 erweckte große
Hoffnungen für die in den
Verdacht des Liberalismus gekommene und daher seit länger zurückgesetzte
Volksschule;
um so empfindlicher war der
Rückschlag der
Reaktion, unter deren Einfluß der
Minister v.
Raumer im
Oktober 1854 die sogen. drei
Regulative, für
Seminar-,
Präparanden- und Volksschulwesen, verfaßt vom Geheimrat
Stiehl, erließ.
Diese offenbar einseitigen, aber von sachkundiger
Hand
[* 16] zeugenden Vorschriften waren in den folgenden
Jahren Gegenstand heftiger
Kritik, werden aber jetzt, nachdem sie durch die allgemein als vortrefflich anerkannten Bestimmungen
des
Ministers
Falk
(Oktober 1872, entworfen vom Geheimrat
Schneider) abgelöst sind, ruhiger und sachlicher beurteilt.
Seit 1872 ist sehr viel für die äußere und innere Hebung [* 17] der in Preußen geschehen, aber auch die Größe des Bedürfnisses erst recht zu Tage getreten, dem nach verschiedenen Richtungen hin noch lange nicht genügt ist. Das im Artikel 26 der Verfassung von 1850 verheißene und lang ersehnte Unterrichtsgesetz, für welches schon 1817 von Süvern und später unter den Ministern v. Ladenberg (1848-50) und v. Mühler (1862-72) Vorlagen ausgearbeitet waren, ist unter dem Minister Falk (1872-79) abermals im Entwurf fertig gestellt, aber, wie man annimmt, wegen finanzieller und politischer Bedenken von der Staatsregierung dem Landtag nicht vorgelegt worden.
Statt dessen hat man durch eine
Reihe von Einzelgesetzen, unter denen als wichtigstes das Schulaufsichtsgesetz vom voransteht,
klarere
Stellung der Volksschule
zu den Behörden des
Staats und der
Kirche wie bessere
Ausstattung der Volksschule
selbst
und ihrer
Lehrer angestrebt: nicht ohne anerkennenswerten Erfolg, aber doch auch nicht mit der durchgreifenden
Wirkung, daß
dadurch das
Bedürfnis eines Volksschulgesetzes als erledigt angesehen werden könnte. Die meisten kleinern deutschen
Staaten,
deren einfachere Verhältnisse das Vorgehen erleichterten, sind in neuester Zeit in dieser Hinsicht über
Preußen hinausgeschritten, so:
Oldenburg
[* 18] (1855),
Sachsen-Gotha (1863),
Baden (1868-1874),
Hamburg
[* 19] (1870),
Württemberg (1835-73),
Königreich
Sachsen
[* 20] (1873),
Hessen,
[* 21]
Sachsen-Weimar und
Koburg
[* 22] (1874),
Meiningen
[* 23] (1875). Die meisten dieser
Gesetze dehnen die Schulpflicht
auch auf den Besuch der
Fortbildungsschulen bis zum 16. oder 17. Lebensjahr aus, die in
Bayern und
Württemberg
schon früher mit teilweisem Besuchszwang bestanden.
In Österreich-Ungarn, [* 24] wo die Verhältnisse in den verschiedenen Kronländern sehr voneinander abweichen, ist nach Aufhebung des Konkordats von 1855 im J. 1867 das Volksschulwesen gesetzlich neu geregelt und seitdem Gegenstand sorgfältiger Pflege, aber auch erbitterter Parteikämpfe gewesen. Die grundlegenden Gesetze sind in Ungarn [* 25] das von 1868, in Österreich das Reichsgesetz vom mit der Novelle vom Neue Gesetze über das Volksschulwesen sind überhaupt fast von allen ¶
mehr
europäischen Staaten in den beiden letzten Jahrzehnten erlassen worden, so in Großbritannien [* 27] (England 1870, 1875 u. 1876, Schottland 1872, Irland 1877), Frankreich Italien [* 28] (1877), Niederlande [* 29] (1878), Belgien [* 30] (1879 u. 1884). In den meisten dieser Gesetze ist der Grundsatz der allgemeinen Schulpflicht, wenn auch in verschiedener Begrenzung, angenommen.
In allen Staaten Europas ist gesetzlich anerkannt, daß die Volksschule
, zunächst Anstalt der bürgerlichen Gemeinde oder besonderer
Schulverbände, der Aufsicht und Leitung des Staats untersteht, welcher auch durch seine Seminare für die Heranbildung der
Lehrer sorgt und den unbemittelten Schulverbänden durch Zuschüsse aus Staatsmitteln zu Hilfe kommt. Die konfessionelle Erziehung
unter leitender Mitwirkung der betreffenden Kirchen ist dabei in Deutschland, Österreich-Ungarn und Skandinavien vom Staat verbürgt,
auch wo in sogen. paritätischen Schulen, welche indes bisher eine verschwindende Minderheit bilden, die Kinder verschiedener
Bekenntnisse als gleichberechtigt vereinigt sind. In andern Staaten, wie Großbritannien, Frankreich, Niederlande etc., wird
dagegen die religiöse Bildung grundsätzlich der Familie und der Kirche überlassen.
Die Gemeinden üben ihre Rechte in Schulangelegenheiten durch ein gewähltes Kollegium (Schulvorstand, Schuldeputation etc.) aus; der Staat führt seine Aufsicht durch Orts- und Kreisschulinspektoren und in höherer Instanz durch besondere Aufsichtsbehörden, in welchen neben den rechtskundigen auch schulkundige Räte Sitz und Stimme haben (Schulabteilung der Provinzialregierungen, Oberschulkollegium, selten noch die staatskirchlichen Konsistorien).
Die Inspektoren waren früher in Deutschland fast ausschließlich Geistliche, nämlich die Ortspfarrer und Superintendenten (Dekane etc.) oder Erzpriester. Seit dem Gesetz vom welches die Aufsicht über das Schulwesen ausschließlich für Sache des Staats erklärt, hat man in Preußen begonnen, weltliche Inspektoren, besonders auch ständige Kreisschulinspektoren, zu bestellen. Die Zahl der letztern beläuft sich gegenwärtig in ganz Preußen auf etwa 240 gegen 700 geistliche Kreisschulinspektoren. Im Königreich Sachsen, in Österreich, Schweden [* 31] und mehreren kleinern deutschen Staaten ist das Institut der weltlichen Schulaufsicht in der Kreisinstanz, in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, auch in den Vereinigten Staaten [* 32] von Nordamerika [* 33] ist die weltliche Schulaufsicht überhaupt unter Ausschluß jeder geistlichen Mitwirkung streng durchgeführt.
Doch gibt es in allen diesen Ländern neben der öffentlichen, staatlichen Volksschule
noch ein mehr oder weniger umfangreiches privates,
namentlich kirchliches Volksschulwesen. Ein vergleichendes Urteil über die Leistungen der Volksschule
bei den
verschiedenen Völkern ist im Augenblick schwer, wenn nicht unmöglich zu fällen. Noch bis 1870 und vielleicht bis 1880 konnte
man unbedenklich sagen, daß Deutschland mit dem germanischen Norden, der protestantischen Schweiz,
[* 34] den Niederlanden in dieser
Hinsicht den ersten Rang behauptete.
Auch ist anzunehmen, daß der Vorsprung von Menschenaltern, den Deutschland auf diesem Gebiet vor den
übrigen Nachbarn voraus hatte, von diesen nicht sprungweise eingeholt werden kann. Es stehen ferner sowohl im romanischen
Süden und Südwesten Europas als im slawischen Osten dem Wirken der Volksschule
noch so überwiegende Hindernisse entgegen, daß in
diesen Ländern ein rascher und durchgreifender Fortschritt der Volksbildung nicht zu erwarten ist. Dagegen
wird in England und Schottland wie in
Frankreich mit solchem Nachdruck und mit so reichem Aufwand von Mitteln an der Hebung der
Volksschule
gearbeitet, daß dort schon innerhalb der lebenden Generation eine wesentliche Verschiebung des allgemeinen Bildungsstandes
nicht ausbleiben kann.
Schon jetzt darf die Zahl der Analphabeten in diesen Staaten, die bei der Aushebung zum Heer oder bei der
Eheschließung sich herausstellt, als bezeichnend für den gegenwärtigen Stand der Volksschule
nicht mehr angesehen werden. Als Unterrichtsfächer
der Volksschule gelten außer der Religionslehre, die wiederum in biblische Geschichte, Bibellesen, Katechismus, Kirchengeschichte und
Kunde geistlicher Lieder sich gliedert, allgemein: Muttersprache (Schreiben, Lesen, Grundlagen der Sprachlehre),
Rechnen und Elemente der Raumlehre, Naturkunde (Naturgeschichte und Naturlehre), Geographie, Geschichte (mit besonderer Rücksicht
auf Vaterland und Heimat), Singen, Zeichnen;
für die Knaben Turnen, für die Mädchen weibliche Handarbeiten.
Auch für die Mädchen sucht man immer allgemeiner das Turnen einzuführen; doch beschränkt das Mädchenturnen bisher sich fast ganz auf städtische Schulen, in denen es nicht einmal allgemein durchgeführt ist. Handarbeit auch für Knaben ist in Finnland, Frankreich und Ungarn allgemein, in Österreich, Schweden, Italien und England vielfach eingeführt. Auch in Deutschland wird dafür eifrig gestrebt; aber die Schulverwaltungen haben bisher diesen Unterrichtszweig als solchen abgelehnt und die Förderung dieses unter Umständen gewiß sehr heilsamen Bildungsmittels den dafür zusammengetretenen Vereinen überlassen, die jedoch in mehreren Staaten (Königreich Sachsen, neuerdings auch Preußen) Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln beziehen.
Eine zweite Sprache [* 35] wird, abgesehen von Grenzgebieten und mehrsprachigen Staaten (Schweiz, Belgien, Ungarn etc.), nur in wenigen städtischen Volksschulen gelehrt, wie z. B. in Hamburg das Englische. [* 36] In einigen Ländern sind mit den Schulen besondere Schulsparkassen oder Sammelstellen für öffentliche Sparkassen verbunden, namentlich in Frankreich, Belgien, England. In Deutschland ist auch diese Einrichtung als amtliche Schulsache nicht anerkannt und demgemäß nicht sehr verbreitet.
Die Trennung der Geschlechter in der Volksschule ist in den Ländern romanischer Zunge meist streng durchgeführt. In Deutschland, Skandinavien, England ist der gemeinsame Unterricht der Knaben und Mädchen auf dem Land überwiegend. Man verfährt nach dem Grundsatz (Preußen, allgemeine Verfügung vom »Für mehrklassige Schulen ist rücksichtlich der obern Klassen Trennung der Geschlechter wünschenswert. Wo nur zwei Lehrer angestellt sind, ist eine Einrichtung mit zwei oder drei aufsteigenden Klassen derjenigen zweier, nach den Geschlechtern getrennter Klassen vorzuziehen.« Die städtische, mehrklassige Volksschule geht vielfach über in die Form der Mittelschule (preußische Bezeichnung), Bürgerschule (Österreich) oder Sekundärschule (Schweiz), École moyenne (Belgien) oder École primaire supérieure (Frankreich), in der meist neben der Muttersprache noch eine fremde Sprache gelehrt und in der Mathematik, dem Realunterricht (Chemie neben Physik, erweitertes Geschichtspensum) und dem Zeichnen über das Ziel der einfachen Volksschule hinausgegangen wird.
Vgl. Schneider und v. Bremen, [* 37] Das Volksschulwesen des preußischen Staats (Berl. 1886-87, 3 Bde.);
Keller, Geschichte des preußischen Volksschulwesens (das. 1873);
Heppe, Geschichte des deutschen Volksschulwesens (Gotha 1858-60, 5 Bde.);
Sander, Lexikon der Pädagogik (2. Aufl., Bresl. 1889);
Buisson, ¶
mehr
Dictionnaire de pédagogie, etc. (Par. 1878-87, 4 Bde.);
Hauffe, Volksschulwesen u. Lehrerbildung in Österreich (Gotha 1887);
Schröder, Das Volksschulwesen in Frankreich (Köln [* 39] 1884-87, 2 Bde.);
Jolly, Die französische Volksschule unter der dritten Republik (Tübing. 1884);
Lauer, Entwickelung des niederländischen (seit 1857) und des belgischen (seit 1842) Volksschulwesens (beide Berl. 1885);
»Pädagogischer Jahresbericht« (Leipz., seit 1847; jetzt hrsg. von Richter).