Volkslied
,
das für den Gesang gedichtete und wirklich gesungene Erzeugnis der Volkspoesie. Diese bildet den Gegensatz zu der Kunstpoesie, bei welcher der Dichter mit Bewußtsein den Forderungen der Kunst hinsichtlich ihrer innern wie äußern Gestaltung zu genügen sucht. Letztere kann erst entstehen, wenn zur poetischen Kraft [* 3] höhere Bildung hinzutritt; bis dahin ist die ganze Poesie eines Volkes nur Volkspoesie, und die meisten Völker bleiben bei derselben stehen. Auch bei den Völkern, wo die Kunstpoesie sich entwickelt, geht die Volkspoesie immer voraus und ¶
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erhält sich auch nachher neben jener. Die Volkslieder
gehen aus dem Teil des Volkes hervor, den wir als die ungebildete Masse
jenem entgegensetzen, in welchem aber die nationale Eigentümlichkeit sich am schärfsten erhält, so daß aus den Volksliedern
der Charakter der Völker, denen sie angehören, in großer Wahrheit und Bestimmtheit entgegentritt. Die
Einfachheit der rhythmischen und metrischen Formen ergibt sich aus dem Ursprung des Volksliedes
, nicht weniger auch die Einfachheit
des Ausdrucks und die frische, kräftige Natürlichkeit.
Die Natur des Volksliedes
bringt es mit sich, daß sich meist weder der Verfasser noch die Zeit der Entstehung ermitteln
läßt; auch findet sich ein Volkslied
höchst selten in seiner ältesten Gestalt vor, weil sich
Text und Weise meist nur durch mündliche Überlieferung erhalten haben, daher wir auch oft ein und dasselbe Lied in sehr verschiedener
Gestalt wiederfinden. Nicht zu verwechseln ist übrigens die wahre Volkspoesie mit jener Poesie des Volkes, die wir
gewöhnlich mit dem Namen Gassenhauer bezeichnen.
Letztere ist zwar ebenfalls ein freies Erzeugnis des Volkes, aber nicht aus dem Gefühl, sondern aus dem Verstand hervorgegangen
und nur von vorübergehendem Interesse. Häufig aber schließt ein echtes Volkslied
mit angehängtem, nachgedichteten Versen, die
es zum Gassenhauer machen und sich eine Zeitlang erhalten; namentlich sind es historische Lieder, die den
Übergang von der einen zur andern Gattung bilden, besonders aus späterer Zeit. Wiewohl ohne poetischen Wert, sind sie doch
für die Erforschung der Geschichte und besonders der Sittengeschichte einer Nation von hoher Bedeutung.
Die Germanen waren schon in den ältesten Zeiten ein sanglustiges und liederreiches Volk. Den Stoff ihrer Lieder nahmen sie aus der Götter- und Heldensage, aus der Tiersage, wozu noch Rätsel, neckende Wechsellieder etc. kamen. Die Völkerwanderung verschlang wohl die meisten dieser alten Lieder;
dagegen lieferte sie einen gewaltigen neuen Sagenstoff, in
welchem zugleich die Mehrzahl der Überreste älterer Sagen aufging. So ging im 6.-8. Jahrh. wieder eine
bedeutende Anzahl allitterierender epischer Volkslieder
aus der deutschen Heldensage und der Tiersage hervor;
weitern Stoff bot die Zeitgeschichte;
ausdrücklich erwähnt werden Spottlieder.
Erhalten ist von der Volksdichtung dieses Zeitraums ein
Bruchstück, das »Hildebrandslied«. Im 9. Jahrh. fanden eine Verengerung des Gebiets der Volkspoesie und
eine Änderung ihrer Form statt. Schon von Anfang an hatte die christliche Kirche gegen diese Lieder wegen ihres heidnischen
und weltlichen Ursprungs und Inhalts geeifert, auch bereits Versuche gemacht, geistlichen Inhalt in althergebrachte Form zu
gießen. Im 9. Jahrh. trat sie dem Volkslied
aber mit eignen Schöpfungen, mit einer Kunstpoesie entgegen, der
sich nun auch die Höfe und der Adel zuwendeten, so daß die Volksdichtung denjenigen Klassen überlassen blieb, die einer gelehrten
Bildung entbehrten.
Mehrere Jahrhunderte hindurch werden nun deutsche Volkslieder
der Aufzeichnung für unwert erachtet, obwohl die Kunstpoesie
selbst das sprechendste Zeugnis gibt, daß die Volkspoesie in der ersten Hälfte des 9. Jahrh.
eine ganz besondere Schöpferkraft entwickelt und auch ferner ein frisches Leben bewahrt hat. Die hohe formelle Vollendung,
zu der sich die höfische Kunstdichtung bald erhob, wirkte ihrerseits veredelnd auf die Volksdichtung zurück, wie sich dies
in den bedeutendsten Schöpfungen der mittelhochdeutschen Volkspoesie, den um 1200 entstandenen Dichtungen
des Volksliedes
, wie in dem »Nibelungenlied«, der
»Gudrun« und dem »Alphart«, zeigt.
Später eignete sich das Volk besonders solche Sagen an, welche dem wundersüchtigen Geschmack der Zeit oder der durch die höfische
Kunst eingebürgerten Liebesromantik zusagten, wie z. B. »Albertus Magnus«, »Der Tannhäuser«, »Der getreue Eckart«, »Heinrich
der Löwe« etc. Die gesellschaftlichen und religiösen Zustände, welche schwer auf dem
Volk lasteten, förderten wohl Satiren und Spottverse, aber nicht epische Volkslieder
, und zudem that die Buchdruckerkunst dem
epischen Gesang insofern Eintrag, als sie ausführlichere prosaische Erzählung und Besprechung historischer Ereignisse und
Zustände begünstigte. So kommt es, daß in dieser Periode namentlich die an historische Begebenheiten
und Personen sich anlehnenden Balladen und Romanzen sowohl an Anzahl als an Verbreitung und Wert zurückstehen.
Nur an den Grenzen [* 5] des Reichs, unter den Freiheitskämpfen der Dithmarschen und der Schweizer, erwachten kräftige und echt volksmäßige historische Lieder. Desto voller und reicher erblühte dagegen die lyrische Volkspoesie. Schon im 14. Jahrh. gedenkt die »Limburger Chronik« zahlreicher Lieder dieser Gattung, die sich ziemlich eng an die Weise des Minnegesangs anschließen. Bald aber entfaltete die Volkslyrik sich freier und weiter, und alles, was das menschliche Herz bewegt, zog sie in ihren Kreis. [* 6]
Das Empfinden dieser Volkssänger, Handwerksgesellen, fahrenden Schüler und Schildknechte, Hirten, Jäger
und Ackerleute, reicht jedoch tiefer, ihr Denken weiter als die Kunst ihrer Rede, und die Knappheit, Lückenhaftigkeit und der
springende Gang
[* 7] ihrer Lieder sind zum Teil eine Wirkung ihrer Unbeholfenheit, die namentlich in der ungeschickten Handhabung
ihrer Vers- und Strophenformen zu Tage tritt, während das alte Volkslied
sich gerade durch die feinste und strengste
Metrik auszeichnete.
Eine ziemliche Anzahl von Volksliedern
dieser Periode wurde bereits im 14. und 15. Jahrh. niedergeschrieben und noch weit
mehr gegen Ende des 15. und im Anfang des 16. Jahrh. Schon in diesem und noch mehr im 17. Jahrh. verfällt
das Volkslied
infolge eindringender Roheit und Gemeinheit in immer tiefere Verderbnis. Was noch im 17. Jahrh. an neuen Volksliedern
hinzutritt (z. B. während des Dreißigjährigen Kriegs), ist größtenteils ungeschlacht oder gar nur platte Reimerei.
Bessere Lieder aus dieser Zeit oder gar aus dem 18. Jahrh., wie »Prinz Eugenius, der edle Ritter« (1717),
gehören zu den seltenen Ausnahmen. Doch eben als das Volkslied
abzusterben begann, trat eine neue Kunstlyrik vermittelnd
ein, und zwar diesmal durch das Medium der Musik. Bereits gegen die Mitte des 16. Jahrh. bildeten sich Gesellschaften, die sich
reihum bei den einzelnen Mitgliedern versammelten und nach künstlichen, von den Niederlanden, Venedig
[* 8] etc. nach Deutschland
[* 9] gekommenen, mehrstimmig gesetzten Melodien Lieder sangen, und so entstanden die sogen. Gesellschaftslieder,
lyrische Kunstdichtungen des verschiedensten Inhalts, die sich immer weiter von den Volksliedern
entfernten und zur völligen
Verdrängung derselben aus den gebildeten Kreisen wesentlich beitrugen.
Eine zweckmäßige Auswahl derselben bietet Hoffmanns von Fallersleben »Die deutschen Gesellschaftslieder
des 16. und 17. Jahrhunderts« (Leipz. 1844). Der heutige Volksgesang hat eine lebendige Quelle
[* 10] nur noch in den Alpen,
[* 11] wo Burschen
und Mädchen bei ihren Tänzen und Spielen ihre kleinen »Schnaderhüpfeln« zu selbsterfundenen oder vorhandenen Melodien singen.
Nachdem Percy durch die Herausgabe altenglischer Volkslieder
(»Reliquies of ancient
poetry«, 1765) die
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Aufmerksamkeit wieder auf das Volkslied gelenkt hatte, begann der Göttinger Dichterbund, namentlich Bürger, das Volkslied auch bei uns in die Kunstpoesie einzuführen, und Nicolai, der darin Unheil für den guten Geschmack witterte und eine Sammlung deutscher Volkslieder unter dem Titel: »Eyn feyner kleyner Almanach voll schönerr echterr liblicherr Volkslieder« (Berl. 1777-78, 2 Bde.) herausgab, durch die er das in seiner Blöße zu zeigen hoffte, wandte die allgemeine Aufmerksamkeit und Neigung dem Volkslied erst recht zu. Zugleich weckte Herder durch seine »Volkslieder« (Leipz. 1778-79, 2 Bde.) Geschmack und Verständnis der Zeit für die Schönheiten des Volksgesangs.
Die erste umfassende Sammlung deutscher Volkslieder gaben Brentano und Arnim unter dem Titel: »Des Knaben Wunderhorn« (Heidelb. 1806-1808, 3 Bde.; neubearbeitet von Birlinger, Wiesb. 1873-77, 2 Bde. und Boxberger, Berl. 1883; nach der ersten Ausg. hrsg. von Wendt, das. 1873),
freilich mit manchen eigenmächtigen Veränderungen. Verdienstlich war auch Büschings und v. d. Hagens »Sammlung deutscher Volkslieder« (Berl. 1807, mit Melodien),
eine planlose Kompilation dagegen Erlachs »Volkslieder der Deutschen« (Mannh. 1834-36, 5 Bde.). Die besten Sammlungen sind die von Erk (»Deutscher Liederhort«, Berl. 1855) u. Uhland (»Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder«, Stuttg. 1844-1845, 2 Bde.; 2. Aufl. 1881),
wozu neuerdings noch G. Scherers »Jungbrunnen« (Berl. 1875) und F. Böhmes »Altdeutsches Liederbuch« (Leipz. 1877) kommt. Eine wichtige Volksliederhandschrift aus dem 15. Jahrh. mit den Melodien, das sogen. »Lochheimer Liederbuch« (jetzt in der gräflich Stolbergschen Bibliothek zu Wernigerode [* 13] befindlich),
wurde, von F. W. Arnold kritisch bearbeitet, in Chrysanders »Jahrbuch für musikalische Wissenschaft«, Bd. 2 (Leipz. 1867),
veröffentlicht. Sammlungen historischer Volkslieder besitzen wir von O. L. B. Wolff (Stuttg. 1830),
Rochholz (»Eidgenössche Liederchronik«, Bern [* 14] 1835),
Soltau (Leipz. 1836 u. 1856) und Körner (Stuttg. 1840); die beste ist die von R. v. Liliencron (»Die historischen Volkslieder der Deutschen«, Leipz. 1865-69, 4 Bde.),
v. Ditfurth sammelte in mehreren Ausgaben die historischen Volkslieder der letzten Jahrhunderte. Eine Auswahl gibt die Sammlung von Simrock: »Deutsche [* 15] Volkslieder« (2. Aufl., Basel [* 16] 1887) und v. Liliencrons »Deutsches Leben im V. um 1530« (Stuttg. 1885). Als gute Sammlungen von Volksliedern einzelner Landesteile sind zu nennen: Meinerts »Alte deutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens« (Hamb. 1817);
Hoffmanns von Fallersleben und E. Richters »Schlesische Volkslieder mit Melodien« (Leipz. 1842);
Reifferscheids »Westfälische Volkslieder« (mit Melodien, Heilbr. 1879);
»Deutsche Volkslieder aus Oberhessen« von Böckel (Marb. 1885);
»Volkslieder aus dem Erzgebirge« von A. Müller (Annab. 1883);
Anastasius Grüns »Volkslieder aus Krain« [* 17] (Leipz. 1850);
»Deutsche Volkslieder aus Kärnten«, gesammelt von Pogatschnigg (Graz [* 18] 1879, 2 Bde.);
»Volkslieder aus Steiermark« [* 19] von Rosegger (mit Melodien, Preßb. 1872) und Schlossar (Innsbr. 1881);
Hartmanns »Volkslieder in Bayern, [* 20] Salzburg [* 21] und Tirol [* 22] gesammelt« (Leipz. 1883 ff., mit Melodien);
»Deutsche Volkslieder aus Böhmen« [* 23] (hrsg. von Hruschka, Prag [* 24] 1888);
»Elsässische Volkslieder« von Mündel (Straßb. 1884);
»Schweizerische Volkslieder« von Tobler (Frauenf. 1882-84, 2 Bde.).
Die schönste Charakteristik des deutschen Volksliedes verdanken wir Uhland (in den »Schriften zur Geschichte und Sage«, Bd. 3, Stuttg. 1886);
vgl. außerdem Vilmar, Handbüchlein für Freunde des deutschen Volkslieds (3. Aufl., Marb. 1886);
Kertbeny, Volksliederquellen in der deutschen Litteratur (Halle [* 25] 1851);
Hoffmann von Fallersleben, Unsre volkstümlichen Lieder (2. Aufl., Leipz. 1859).
Auch die Engländer, Dänen, Schweden [* 26] und Spanier besitzen derartige Sammlungen, und in neuerer Zeit haben bei den slawischen Völkerschaften, besonders bei den Böhmen und Serben, einzelne hervorragende Männer, wie Hanka, Czelakowsky und Karadschidsch, für die Bewahrung der nationalen Poesie mit Eifer und Erfolg gewirkt. Spanische [* 27] Volkslieder und Romanzen haben Diez (Berl. 1821), Beauregard Pandin (das. 1823), Geibel (das. 1843), Geibel und Heyse (»Spanisches Liederbuch«, das. 1852) übersetzt. Im Urtext haben J. Grimm (»Silva de romances viejos«, Wien [* 28] 1815),
Bohl de Faber (»Floresta de rimas antiguas castellanas«, Hamb. 1821 bis 1825, 3 Bde.) und Depping und F. Wolf (»Romancero castellano«, 2. Aufl., Leipz. 1844-46, 3 Bde.) reiche Sammlungen herausgegeben. Portugiesische Volkslieder hat Bellermann (Leipz. 1864, mit Übersetzung) veröffentlicht. Die »Egeria« von W. Müller und Wolfs (Leipz. 1829) enthält italienische Volkslieder im Original; neue Sammlungen gaben Kopisch (»Agrumi«, mit Übersetzung, Berl. 1838), W. Kaden (Stuttg. 1878) und Badke (Bresl. 1878). Eine Sammlung sizilischer Volkslieder gab Pitré (Palermo [* 29] 1870, 2 Bde.), rätoromanische Volkslieder aus dem Engadin Flugi (Straßb. 1874) heraus. Volkslieder aus der Bretagne haben Keller und v. Seckendorff (Tüb. 1841) sowie M. Hartmann und Pfau (Köln [* 30] 1851) übersetzt. Altfranzösische Volkslieder gaben O. L. B. Wolff (Leipz. 1831), M. Haupt (das. 1877) und K. Bartsch (Heidelb. 1881) heraus.
Eine Geschichte des französischen Volksliedes schrieb J. ^[Julien] Tiersot (Par. 1889). Rumänische Volkslieder sammelte Helene Vacaresco (übersetzt von Carmen Sylva, Bonn [* 31] 1889). Neugriechische Volkslieder haben W. Müller (aus Fauriels Sammlung mit den Originaltexten, Leipz. 1819, 2 Bde.), Kind (das. 1849), Schmidt (das. 1877), serbische Volkslieder Talvj (neue Ausg., das. 1853, 2 Bde.), südslawische E. Harmenig (Jena [* 32] 1885) übersetzt. Ferner sind zu erwähnen: die Sammlungen slawischer Volkslieder von Wenzig (Halle 1830 u. a. O.), Götzes »Stimmen des russischen Volkes« (Stuttg. 1828),
Bodenstedts »Die poetische Ukraine« (das. 1845),
Altmanns »Balalaika« (Berl. 1863),
»Kleinrussische Volkslieder« (deutsch von Staufe-Simiginowicz, Leipz. 1887),
»Die Volkslieder der Polen« von W. P. (das. 1833). Die Volkslieder der polnischen Oberschlesier sammelten Roger (Breslau), [* 33]
Erbrich (das. 1869),
Hoffmann von Fallersleben (Kassel [* 34] 1865). »Volkslieder der Wenden in der Ober- und Niederlausitz« in der Ursprache und mit Übersetzung und den Melodien gaben L. Haupt und J. E. ^[Johann Ernst] Schmaler (Grimma [* 35] 1843-44, 2 Bde.),
holländische Volkslieder im Original Hoffmann von Fallersleben in den »Horae belgicae«, Bd. 1 u. 2 (Bresl. 1833),
»Alte niederländische Lieder aus Belgien« [* 36] Willems (Gent [* 37] 1846) heraus. Die trefflichste Sammlung dänischer Volkslieder lieferte Svend H. Grundtvig (zum Teil von Warrens ins Deutsche übersetzt, Hamb. 1858); »Dänische Heldenlieder, Balladen und Märchen« übersetzte W. Grimm (Heidelb. 1811),
»Norwegische, isländische, färöische Volkslieder der Vorzeit« Warrens (Hamb. 1866),
der auch »Schottische Volkslieder« (das. 1861) übertrug. »Schwedische Volkslieder« übersetzte Mohnike (Berl. 1830) und »Altschwedische Balladen, Märchen und ¶
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Volkslied,
Bezeichnung für diejenigen strophischen, durch den Gesang verbreiteten Gedichte, die in allen Kreisen des Volks bekannt und beliebt sind. Die Dichter des echten Volkslied sind selten bekannt, da sie ohne litterar. Ehrgeiz nur für das Bedürfnis und aus dem Herzen des Volks dichteten und nicht für Aufzeichnung ihrer Namen und Verse sorgten; doch sind neuerdings auch Erzeugnisse der Kunstdichtung so populär geworden, daß sie als Volkslied gelten können, wie Goethes «Heidenröslein», Uhlands «Guter Kamerad», Heines «Lorelei», Eichendorffs «Zerbrochenes Ringlein». Da während des ganzen Mittelalters die Bildung der verschiedenen Stände annähernd gleichartig war, spielte das Volkslied damals eine weit größere Rolle als heutzutage, es deckte sich zeitweilig mit dem gesamten poet. Schaffen unseres Volks; leider ist uns das deutsche Volkslied des Mittelalters, eben weil es nicht aufgeschrieben wurde, erst aus dem 14. und 15. Jahrh. in reichern Resten bekannt. ¶
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Das älteste erhaltene deutsche Volkslied ist das Hildebrandslied (s. d.), das schon seine springende Darstellung als rechtes Volkslied erweist. Daß es auch volkstümliche Liebeslieder gab, wäre nicht zu bezweifeln, auch wenn uns nicht der erhaltene Name «winileod» ihre Existenz seit dem 8. Jahrh. verbürgte. Später drangen aus den Versen der Vaganten (s. d.), die oft auch deutsche Lieder in ihrem Repertoire gehabt haben, Lieblingsgattungen dieser Studentenpoesie, namentlich das Kneiplied und der poet. Wettgesang in die deutsche Volksdichtung ein.
Als mit der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. in hölfisch-ritterlichen Kreisen zum erstenmal eine weltliche Kunstpoesie in deutscher Sprache [* 39] aufkam, schloß sich diese trotz aller roman. Einflüsse in ihren schönsten Erzeugnissen an das lebendige deutsche an. Dem Nibelungenlied, der Gudrun und andern Epen aus der deutschen Heldensage liegen alte epische Volkslied zu Grunde. Die ältesten einstrophigen Lieder des bayr.-österr. Minnesangs, die teils anonym, teils unter dem Namen des Kürenbergers, Dietmars von Aist u. a. erhalten sind, zeigen in ihrer köstlichen Einfachheit und Natürlichkeit überraschende Anklänge an die noch heute in jenen Gegenden blühenden improvisierten Schnadahüpfl.
Die einstrophigen, meist lehrhaften Sprüche unter Spervogels Namen geben ein Bild der volkstümlichen Gnomik. Mehrstrophige Volkslied wurden wohl meist zum Tanz gesungen; unter den Gedichten Gottfrieds von Neifen sind einige einfache Balladen dieser Art erhalten; aber auch die Lieder Neidharts, die Tanzleiche Tannhäusers, Ulrichs von Winterstetten u. a. lassen den Charakter der volksmäßigen Tanzpoesie durchschimmern. Seine Beziehungen zur Natur schöpfte der Minnesang aus dem Volkslied Walthers schönste Lieder sind in Anlehnung an das Volkslied, freilich mit der technischen Meisterschaft reifster Kunst gedichtet.
Als um 1300 das Kunstinteresse des Adels verschwand und der philiströse Meistergesang (s. d.) das Erbe der höfischen Kunstdichtung antrat, da konzentriert sich das eigentliche poet. Leben der gesamten Nation im V., das im 14. und 15. Jahrh. seine höchste Blüte [* 40] erreicht. Es wirkt zwar unbeholfen und roh, aber dafür entschädigt seine naive Ursprünglichkeit und sein stofflicher Reichtum. Im 14. Jahrh. berichtet uns die wertvolle Limburger Chronik, welch eine Fülle kurzer neuer Lieder aufkam und sich schnell verbreitete.
Sehr wesentlich waren dabei die Melodien, die man meist nach dem Inhalt des Gedichts, für das sie zuerst verwendet waren, benannte; besonders beliebt waren der Hildebrandston, auf den man das umgearbeitete Hildebrandslied sang, der Herzog-Ernst-Ton, die Berner Weise, die ursprünglich in Liedern von Dietrich von Bern üblich war; dann der Benzenauer, der Bruder-Veits-Ton, ein altes Landsknechtslied, der Bruder Claus, der Papierton, der Ton vom Schuttensamen, vom Lindenschmied, der Wisbeckenton, der von Wilhelm von Nassau u. s. w. Die Beliebtheit dieser Weisen war so allmächtig, daß die geistlichen Lieder der Zeit, um populär zu werden, sich gern an die Melodie und oft parodisch auch an die Anfangsworte sehr weltlicher Volkslied anschlossen; so sang man weltlich «Innsbruck, [* 41] ich muß dich lassen», geistlich «O Welt, ich muß dich lassen»; weltlich «Den liebsten Buhlen, den ich han, der liegt beim Wirt im Keller», geistlich «Den liebsten Buhlen, den ich han, der ist in Himmels Throne». Noch das prot. Kirchenlied konnte sich von diesem Brauch nicht losmachen; es erschienen im 16. Jahrh. ganze Sammlungen solcher geistlicher «Gassenbauer, Reiter- und Bergliedlein».
Übergroß war die Mannigfaltigkeit des Inhalts. Die Heldensage lebte in Bänkelsängerliedern fort. Novellenstoffe des Mittelalters behandelten die Lieder vom Bremberger, vom Möringer, vom Tannhäuser, vom Grafen von Rom; [* 42] der Ulinger erzählt das Blaubartmärchen. Lieblingshelden des Volkslied sind kecke Strauchdiebe und Stegreifritter, wie Eppelein von Geilingen, der Lindenschmied, der Schuttensamen, der Raumensattel, Albrecht von Rosenburg und der arme Schwartenhals.
Historische Volkslied begleiten die polit. Ereignisse, die Freiheitskämpfe der Schweizer und Ditmarschen, Maximilians Werbung um das Fräulein von Bretagne, die Thaten Sickingens und Frundsbergs und dauern bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges fort, gern illustriert auf fliegenden Blättern verbreitet. Oft nennt sich in der letzten Strophe der Landsknecht- und Reiterlieder ein «frummer Landsknecht» als Verfasser. Den einzelnen Festen gelten Volkslied, zumal dem Martinstage: die Martinslieder berühren sich mit der Zechpoesie, von deren Reichtum Fischarts berühmte «Trunkne Litanei» im Gargantua einen Begriff giebt;
es gab geradezu Orden, [* 43] Zunftgesetze der Trinker, die Anfänge unseres Comments, wie denn unsere heutigen Studentenlieder vielfach im 15. und 16. Jahrh. wurzeln.
Rätsel- und Wunschlieder, wie das Traugemundslied, weisen in viel ältere Zeit zurück. Das Leben der Natur wird meist besungen in Verbindung mit der Liebe. Sie bildet natürlich das Hauptthema des Volkslied: von der derben Zote bis zur zartesten Sehnsucht, von ausgelassener Lust bis zu tiefster Trauer, schlägt es alle Töne des Liebesliedes episch und lyrisch an.
Im Laufe des 16. Jahrh. sinkt das Volkslied schnell: es wird roh und unproduktiv; nur die histor. Lieder reichen ins 17. Jahrh. herein; aber sie zeigen da alle Mängel des verkommenen Geschmacks, schmücken sich kokett mit modischen Fremdwörtern und gespreizten Redensarten, und die dauernde Popularität eines Volkslied des 18. Jahrh., des «Prinz Eugenius» (1717), ist eine Ausnahme. Die bessern Stände wenden sich vom Volkslied ab und pflegen, wenn nicht die durch Opitz und die Schlesischen Schulen vertretene gelehrte Kunstpoesie, dann das sog. Gesellschaftslied.
Während der Minnesang stets nur einstimmige Weisen hatte, war im V. schon um 1500 Dreistimmigkeit des Gesangs beliebt. Durch H. Isaac, Ludw. Senffl, Geo. Forster und andere Meister des Kontrapunkts trat dafür im Laufe des 16. Jahrh. Vier- und Fünfstimmigkeit ein; aus den Niederlanden, Frankreich und namentlich Italien [* 44] drangen dazu künstliche Melodien ein, die technische Anforderungen stellten, denen nur durch größte Übung und tüchtige Schlung zu genügen war.
So bildeten sich bereits gegen die Mitte des 16. Jahrh. «Kränzchen», Gesellschaften, die sich abwechselnd bei den einzelnen Mitgliedern versammelten und bei deren Zusammenkünften der jedesmalige Bewirter einen Kranz trug. Die metrisch genauen Texte, die man zu den neuen Melodien erfand und die sich vom alten Volkslied je länger je mehr durch zierliche Tändelei und Künstelei unterschieden, nennt man Gesellschaftslieder. Die meisten der zahlreichen mit Musiknoten versehenen Liedersammlungen des 16. und 17. Jahrh. (so von Oeglin 1512, Ott 1533, Forster 1539 fg., das Lochheimer Liederbuch u. s. w.) enthalten neben echten Volkslied eine wachsende Anzahl ¶
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solcher Gesellschaftslieder, ebenso das wertvolle «Ambraser Liederbuch» (nach einem Druck von 1582 hg. von Bergmann, Stuttg. 1845),
das keine Noten enthält. Eine Auswahl bietet Hoffmann von Fallersleben in seinen «Deutschen Gesellschaftsliedern des 16. und 17. Jahrh.» (2. Aufl., Lpz. 1860).
Auf unsere Klassiker wirkte das verachtete und vergessene Volkslied wie ein erfrischender Jungbrunnen. Durch Percys «Reliques of ancient English poetry» (1765) wurden Herder und Bürger mächtig angeregt. Herders Schüler, Goethe, sammelte in Straßburg [* 46] elsässische Volkslied und dichtete sein «Heidenröslein» im Stile des Volkslied Die erste größere Sammlung deutscher Volkslied, Nicolais «Feyner kleyner Almanach vol schönerr echterr liblicherr Volkslied» (2 Bde., Berl. 1777‒78; neu hg. von Ellinger in den «Berliner [* 47] Neudrucken», 1888),
sollte zwar die erwachende Liebe zum Volksgesange lächerlich machen,war aber immerhin eine nützliche Vorarbeit. Sie wurde schnell überholt durch Herders «Volkslieder» (2 Bde., Lpz. 1778‒79),
die seine für das Volkslied begeisterten Aufsätze in den «Fragmenten» und den «Blättern von deutscher Art und Kunst» ergänzten. Weit reichhaltiger war die von den Heidelberger Romantikern (Cl. Brentano und Ach. von Arnim herausgegebene Sammlung «Des Knaben Wunderhorn» (3 Bde., Heidelb. 1806‒8; neu bearbeitet von Birlinger und Crecelius, 2 Bde., Wiesb. 1874); doch sind hier die alten Texte allzu willkürlich, selbst stillos gemodelt. Indes durch diese Arbeit drang Interesse für unser Volkslied in die weitesten Kreise. [* 48]
Heute noch unübertroffen ist Uhlands meisterhafte Sammlung «Alte hoch- und niederdeutsche Volkslied» (2 Bde., Stuttg. und Tüb. 1844‒45; 3. Aufl., 4 Bde., 1892). Eine kleinere Auswahl enthält das «Liederbuch aus dem 16. Jahrh.» von Goedeke und Tittmann (Lpz. 1867; 2. Aufl. 1881); andere Sammlungen veranstalteten Simrock (1851; 2.Aufl.,Bas. 1887),
Mittler (Marb. 1855),
Geo. Scherer u. s. w. Die alten Melodien teilt mit Franz M. Böhme in dem schönen «Altdeutschen Liederbuch» (Lpz. 1877) und R. von Liliencron in seiner vortrefflichen Auslese «Deutsches Leben im V. um 1530» (in Kürschners «Deutscher Nationallitteratur», Bd. 13); auch Kretzschmer und Zuccalmaglio («Deutsche Volkslied mit ihren Originalweisen», 2 Bde., Berl. 1840),
Erk und Irmer («Die deutschen Volkslied mit ihren Singweisen», 2. Ausg., Lpz. 1843),
Erk («Deutscher Liederhort», neue Ausg. von Böhme, ebd. 1893‒94) u. a. berücksichtigen die Melodien. Auf die histor. Lieder beschränkt sich Liliencrons großes Werk «Die historischen Volkslied der Deutschen» (4 Bde., Lpz. 1865‒69), zu dem Freiherr von Ditfurth in mehrern Sammlungen, die auch Kriegslieder des 18. und 19. Jahrh. enthalten, Nachträge brachte. Die besten Sammlungen für einzelne Landesteile lieferten: für die Schweiz [* 49] Tobler (2 Bde., Frauenfeld 1884), für Schwaben E. Meier (Berl. 1855) und Birlinger (Freiburg [* 50] 1864), für die Alpenländer Hartmann ( Volkslied, in Bayern, Tirol und Salzburg gesammelt», Bd. 1, Lpz. 1884),
L. von Hörmann («Schnaderhüpfln aus den Alpen», 2. Aufl., Innsbr. 1882), Greinz und Kapferer (Lpz. 1889 u. 1890), für Kärnten Pogatschnigg und Herrmann (2 Bde., Graz 1879; neue Ausg. 1884),
für Österreich [* 51] Tschischka (Pest 1844),
für Steiermark Schlossar (Innsbr. 1881), für Siebenbürgen Schuster (Hermannst. 1865), für das Elsaß Weckerlin («Chansons populaires de l’Alsace», deutscher Text mit franz. Übersetzung, Par. 1883),
Mündel (Straßb. 1884),
für Hessen [* 52] Böckel («Deutsche Volkslied aus Oberhessen», Marb. 1885) und Lewalter (Hamb. 1890‒91),
für Franken Ditfurth (Lpz. 1855),
für das Vogtland Dunger («Rundâs und Reimsprüche aus dem Vogtlande», Plauen [* 53] 1876), für das Erzgebirge Alfr. Müller (Annaberg [* 54] 1883), für das Kuhländchen Meinert (Wien 1817), für Böhmen Hruschka und Toischer (Prag 1888 fg.), für Schlesien [* 55] Hoffmann von Fallersleben und E. Richter (Lpz. 1842), für den Harz Pröhle (Stuttg. 1863), für Westfalen [* 56] Al. Reifferscheid (Heilbr. 1878), für Westpreußen [* 57] Treichel (Danz. 1895), für Ostpreußen Frischbier (Königsb. 1877), für Niederdeutschland Uhland und de Bouck (Hamb. 1883). Die wertvollsten Untersuchungen über das Volkslied stellte Uhland an (im 3. und 4. Bande seiner «Schriften zur Dichtung und Sage»). Kurz orientieren Vilmar, «Handbüchlein für Freunde des deutschen Volkslied» (3. Aufl., Marb. 1886),
und Kinzel, «Das deutsche Volkslied des 16. Jahrh.» (Berl. 1885).
Auch andere europ. wie nichteurop.Nationen haben einen großen Reichtum an Volkslied. Die Erkenntnis der Volkspoesie förderten besonders die Lieder der Serben (s. Serbische Litteratur) und Finnen (s. Finnische Sprache und Litteratur und Kalewala).–
Vgl. Talvj (Therese von Jakob), Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volkslied german. Nationen, mit einer Übersicht der Lieder außereurop.
Völkerschaften (Lpz. 1840).