Volksbücher
,
kurze prosaische Bearbeitungen deutscher und roman. Sagenstoffe, die sich
vom Ende des Mittelalters bis auf die Neuzeit in der Gunst des
Volks erhalten haben. Sie wurden nicht auf dem gewöhnlichen
buchhändlerischen Wege vertrieben, sondern, mit schlechten Holzschnitten ausgestattet, «gedruckt
in diesem Jahre», von Hausierern und auf den Jahrmärkten feilgeboten. Zum größten
Teil beruhen die
Volksbücher
auf deutschen Prosafassungen, die den mittelalterlichen Romanstoffen im 15. und 16. Jahrh.
gegeben wurden, und die ursprünglich auch auf die vornehmsten
Kreise
[* 2] berechnet waren. So setzte man, mit engem Anschluß
an das mittelhochdeutsche Epos Wirnts von Gravenberg, den «Wigalois» in
Prosa um (1472; erster Druck, Augsb. 1493),
ebenso den «Tristan», aber nicht nach der Bearbeitung Gottfrieds von Straßburg, [* 3] sondern nach der Eilharts von Oberge (Augsb. 1484 u. ö.; neu hg. von Pfaff, Tüb. 1881); endlich den «Wilhelm von Österreich» [* 4] von Johann von Würzburg [* 5] (Augsb. 1481). Von der deutschen Heldensage erschienen untergeordnete und rohe poet. Bearbeitungen einzelner Stücke wiederholt im Druck (das «Heldenbuch», s. d., 1491 u. ö.; der «Kleine Rosengarten» oder «König Laurin», 1509; «Hörnern Seyfried», um 1540; ein Lied «von Diderick von Bern", , [* 6] um 1560), während die bedeutendsten aus ihr hervorgegangenen Dichtungen, wie das Nibelungenlied, unbeachtet blieben; nur ein ziemlich gleichgültiger Teil der Nibelungensage, Siegfrieds Jugendgeschichte, gestaltete sich, und zwar erst spät, zu dem prosaischen Volksbuche vom gehörnten Siegfried (s. d.). Dagegen ward unmittelbar zum Volksbuche der Reineke Vos (s. d.) in seiner damaligen poet.
Gestalt (Lüb. 1498). Auf deutsche Sage und Geschichte beziehen sich das gereimte Volksbuch von
dem Ritter von
Staufenberg (um 1480; überarbeitet von Fischart, 1588), das prosaische von
Kaiser
Friedrich
Barbarossa (zuerst 1519) und das von
Herzog Ernst (Straßb.,
o. J.;
Erfurt
[* 7] 1502), das auf einer lat. prosaischen Fassung, nicht
auf einem deutschen Gedicht beruht; ebenso gründet sich
Heinrich
Steinhöwels zum Volksbuch gewordene Bearbeitung des
Apollonius
von Tyrland (Augsb. 1471) nicht auf das deutsche Gedicht
Heinrichs von der Neustadt,
[* 8] sondern auf die ältere
lat. Erzählung von unbekanntem Verfasser. Dem
Inhalt nach schließen sich zunächst an die wunderbaren Reiseabenteuer dieser
beiden
Bücher verschiedene
Reisebeschreibungen, unter denen die Marco
Polos und
Mandevilles als Volksbücher
beliebt waren.
Dasjenige Stoffgebiet aber, das der Litteratur der deutschen Volksbücher
ihr charakteristisches
Gepräge giebt, waren die zahlreichen
Übersetzungen aus dem
Französischen, die im 15. und 16. Jahrh. die beliebteste Lektüre
des
Adels bildeten, nicht selten von Fürstinnen verfaßt wurden und den noch heute gelesensten Volksbücher
zu
Grunde liegen;
auch hier ließ man die großen alten Epen des Karolingischen Sagenkreises unberührt;
wenigstens blieb das Volksbuch vom heil. Karl (geschrieben 1551; neu hg. von Bachmann und Singer, Tüb. 1889) damals ungedruckt, und nur jüngere Auswüchse der Karlssage wurden in deutschen Drucken verbreitet;
so die Haimonskinder (Simmern 1535; nach niederländ. Quelle [* 9] Köln [* 10] 1604), «Fierabras» (Simmern 1533),
«Ogier» (durch Konrad Egenberger von Wertheim, Frankf. 1571),
«Loher und Maller» (durch Elisabeth von Nassau, um 1437; erster Druck, Straßb. 1513; neue Bearbeitung von Simrock, Stuttg. 1868),
«Oliwier und Artus» und «Valentin und Orsus» (von dem Berner Wilh. Ziely, gedruckt Bas. 1521).
Die Geschichte Hugo Capets behandelt der gleichfalls von Elisabeth von Nassau bearbeitete «Hug Schapler» (Straßb. 1500); durch Heidenkämpfe und den obligaten Verräter Gendellet erinnert an Züge der Karlssage die Liebesgeschichte von «Pontus und Sidonia», übersetzt durch Eleonore von Österreich (um 1450; erster Druck, Augsb. 1498). Franz. Adels- und Lokalsage, mit einem Undinenmärchen verbunden, erzählt das Volksbuch von Melusine (s. d.),
aus Couldrettes Dichtung übersetzt (1456) durch Thuring von Ringoltingen; die ritterliche Version einer altchristl. Sage ist der «Kaiser Octavian» (Straßb. 1535),
bearbeitet von Wilhelm Salzmann; andere Ritterromane sind die «Magelone», übersetzt durch Veit Warbeck (Augsb. 1539; Neudruck von Bolte, Weim. 1894) und nach verlorener Vorlage «Herzog Herpin» (Straßb. 1514). Das Märchenmotiv von den dankbaren Tieren verbindet mit Ritterabenteuern der «Edle Ritter Brissonet» (Straßb. 1559; gedruckt erst Nürnb. 1656),
aus unbekannter Quelle. Auch die Leiden [* 11] der «Geduldigen Helena», ein Stoff, der dem Epos von Mai und Beaflor verwandt ist, wurden aus dem Französischen in ein deutsches Volksbuch verwandelt (ebd. 1508). Der durch Marquard vom Stein übersetzte «Ritter vom Turm» [* 12] (Bas. 1493) enthält eine bedeutende Anzahl lehrhafter kleiner Erzählungen, die den Kern des didaktischen Werkes bilden. Solche Erzählungen, deren Ursprung oft in die ältesten orient. Litteraturen hinaufreicht, wanderten durch das ganze Mittelalter von einem Volk zum andern und wurden auch sonst wiederholt in Sammlungen vereinigt. Die beiden verbreitetsten Sammlungen dieser Art, die Gesta Romanorum ¶
mehr
(s. d.) und die Sieben weisen Meister (s. d.), traten gleichfalls in die Reihe der deutschen Volksbücher
, daneben
aber entstanden auch neue Sammlungen ähnlicher Art, wie «Der Seele Trost»,
eine Tugendlehre nach den Zehn Geboten (Augsb. 1478),
und, angeregt auch durch die humanistischen Facetienbücher, Joh. Paulis «Schimpf und Ernst» (Straßb. 1522 u. ö.; neue Ausg. von Österley, Stuttg. 1866; erneuert von Simrock, Heilbr. 1876),
dem sich die reichhaltige Schwankbücherlitteratur des 16. Jahrh. anschloß (s. Schwankbücher). –Aus dem ital. «Filocopo» des Boccaccio ist «Florio und Biancafiora» (Metz [* 14] 1499),
aus dem Lateinischen des Petrarca die «Griseldis» durch Steinhöwel
(Augsb. 1471) u. a. übersetzt u. s. w.
Ebenso stammt aus lat. Quelle und nicht aus dem ältern deutschen Gedicht das prosaische Volksbuch von
Salomon und Marcolf (Nürnb. 1487; s. Salman und Morolt). Marcolfs derber und schmutziger Mutterwitz, der so charakteristisch
ist für die volkstümliche deutsche Litteratur des 15. und 16. Jahrh., macht sich auch in einigen originellen Volksbücher
geltend.
So im Eulenspiegel (s. d.), dessen ursprüngliche niederdeutsche Fassung verloren
ist, dann in den «Schildbürgern» (s. d.). Verwandter Art sind auch zwei gereimte
Volksbücher
, welche nach Art des ältern «Pfaffen Amis» eine Reihe von Schwänken an die Namen zweier Pfarrherren knüpfen: nämlich «Der
Pfarrer vom Kalenberge» (s. Kahlenberg),
verfaßt durch Philipp Frankfurter (um 1400; erster Druck um 1500),
und «Peter Leu von Hall», [* 15] auch «Der andere Kalenberger» genannt, verfaßt durch Achilles Jason Widmann (gedruckt zuerst in Frankf. um 1557),
beide neu hg. in von der Hagens und in Bobertags «Narrenbuch». Im Volksbuch vom «Neidhart Fuchs» [* 16] (gedruckt um 1530) leben die Reibereien des Minnesingers Neidhart von Reuental mit den österr. Bauern fort; «Der Finkenritter» (Straßb., um 1559) ist ein Vorläufer der Münchhausenschen Lügen und Aufschneidereien; dem «Eulenspiegel» endlich sind nachgebildet zwei Schwanksammlungen, die die Späße bekannter Personen sammeln, der «Klaus Narr» des Mansfeldischen Pfarrers Wolfg.
Bütner (Eisleben
[* 17] 1572) und der «Hans Clawert» des Trebbiner Stadtschreibers Barthol. Krüger (Berl. 1587).
Aber auch mehrere Volksbücher
ernsten Inhalts sind in Deutschland
[* 18] neu entstanden, darunter neben Jörg Wickrams selbsterfundenem Ritterroman
«Ritter Galmy» (Straßb. 1539), der die Beliebtheit
eines Volksbuchs genoß, so wertvolle und bedeutende Werke wie der Fortunatus (s. d.)
und der Dr. Faust (s. d.),
die beide das Elend schildern, in das Zauberkünste den Menschen stürzen. Wie
das Volksbuch vom Dr. Faust, schildert schon im 15. Jahrh. der ursprünglich niederdeutsche «Bruder Rausch» die, hier freilich
unbewußte, Freundschaft mit dem Teufel, aber noch in einer heidnisch mildern und humoristischen Auffassung (gedruckt hochdeutsch
zuerst Straßb. 1515). Einen Vertrag mit dem Teufel enthält auch die durch Georg Thym gereimte Sage von
Thedel Unverferd von Walmoden (Magdeb. 1550; neu hg. von P. Zimmermann, Nr. 72 der
«Hallischen Neudrucke», Halle
[* 19] 1888), die mit der Sage von Heinrich dem Löwen
[* 20] sich berührt. Der Bericht eines Ungenannten über
das Erscheinen des Ahasverus oder des Ewigen Juden (s. d.) in Hamburg
[* 21] und an andern Orten (Lpz. 1602) wuchs
erst allmählich durch Zusätze aus dem kurzen und magern ernsten Kern zu dem viel gelesenen und übersetzten Volksbuche heran
und kam über das zusammenhangslose Aufzählen aller möglichen Zeugnisse nicht
zu einheitlicher Darstellung. Dagegen fesselt
durch gelungene Abrundung die liebliche Erzählung von der Pfalzgräfin Genoveva (s. d.),
in ihrer gegenwärtigen Gestalt eine Übertragung aus dem Niederländischen und vielleicht das jüngste aller Volksbücher.
Schon der junge Goethe erkannte den unverwüstlichen poet. Schatz, den die unscheinbaren Volksbücher
in sich bergen: dafür zeugen sein
«Faust» und sein «Ewiger Jude»;
seinem Beispiel folgte der Maler Müller in seiner «Genoveva».
Aber erst die
romantische Schule nahm sich der Wiedererweckung der vergessenen Volksbücher
gründlich an: Tieck zumal erneuerte «Magelone» und «Die
Schildbürger», behandelte «Octavian», «Genoveva»
und «Fortunat» dramatisch;
und J. ^[Joseph] Görres widmete den Volksbücher
eine ausgezeichnete litterarhistor.
Würdigung («Die deutschen
Volksbücher»
, Heidelb. 1807). Auch die schwäb.
Dichter liebten die Volksbücher:
Uhland griff den «Fortunat» episch an, aus den Händen G. Schwabs ging die erste größere Sammlung
und Erneuerung hervor. Schon 1578 hatte der Frankfurter Buchhändler Feyerabend 13 jener Romane u. d. T. «Buch der Liebe» in
eine Sammlung vereinigt; aber die neuern ähnlichen und ebenso betitelten Versuche Reichards (Lpz. 1799)
und von der Hagens und Büschings (Berl. 1809) fanden noch so geringen Beifall, daß beide Unternehmungen mit dem
ersten Bande abgebrochen wurden, und von der Hagens «Narrenbuch» (Halle 1811) ging es nicht viel besser.
Um so größern Erfolg erzielte Gust. Schwabs «Buch der schönsten Geschichten und Sagen» (2 Bde.,
Stuttg. 1836; als «Deutsche
[* 22] Volksbücher»
in 13. Aufl.,
mit Illustrationen von Pletsch, Camphausen u. a., Gütersl. 1880, und 14. Ausg.
1888; auch in Reclams «Universalbibliothek»). Es bahnte den Weg für die trotz unleugbarer philol. Mängel doch durch Reichhaltigkeit
und taktvollen Anschluß an die ältesten Texte ausgezeichnete Sammlung Simrocks «Deutsche Volksbücher»
(Bd. 1
-13, Frankf. 1845‒67; 2. Aufl. 1876‒80; neue Aufl., Bas. 1887). Das von Bobertag für die «Deutsche Nationallitteratur»
zusammengestellte «Narrenbuch» (Stuttg. 1885)
enthält die beiden Kalenberger, Neidhart, Markolf und Bruder Rausch. Einige nur handschriftlich erhaltene Volksbücher
veröffentlichten
Bachmann und Singer im 185. Bande der «Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart».
[* 23]