Völkerrecht
(lat. jus gentium, jus internationale; frz. droit des gens; engl. law of nations), die rechtliche Ordnung der Verhältnisse selbständiger (souveräner) Staaten zu einander. Obwohl ohne gemeinsame Anerkennung gewisser Grundsätze, wie die Heiligkeit der Gesandten und der Verträge, jede freundliche Berührung unter den Völkern unmöglich ist, setzt eine dauernde Völkerrechtsgemeinschaft mit stetigem Verkehr, wie jede Gemeinschaft des positiven Rechts, notwendig eine Gemeinschaft des Rechtsbewußtseins voraus, die sich nur auf gemeinsame Abstammung und Gesittung gründen kann. So entwickelten sich die völkerrechtlichen Beziehungen unter den griech. Staaten auf nationalhellenischer Grundlage und wurden dann mit der hellenischen Gesittung aus die hellenistischen Staaten des Orients übertragen. In ähnlicher Weise bildete sich unter den verwandten italischen Stämmen ein Völkerrecht aus, welchem die Römer in ihrem jus fetiale eine ebenso formstrenge Gestalt gaben wie ihrem Privatrecht.
Aus der Berührung beider Systeme in Unteritalien entstand das von den Römern sog. jus gentium, dessen vornehmlichster Bestandteil ein internationales Handels- und Verkehrsrecht war, so daß das Völkerrecht im engern Sinne als jus belli ac pacis unterschieden wurde. Als die ganze Kulturwelt des Mittelmeers in das röm. Reich aufgegangen war, blieben freilich nur dürftige völkerrechtliche Berührungen mit den umwohnenden, meist barbarischen Völkern übrig. Auf den Trümmern dieses Reichs entstanden neben- und unabhängig voneinander das Völkerrecht der mohammed. Staaten im Osten und das Europäische Völkerrecht (s. d.). Der geschichtlich positive Charakter dieser Rechtsbildung wurde verkannt von dem Begründer der neuern Völkerrechtslehre, Hugo Grotius, («De jure belli ac pacis», Par. 1625),
und seinen unmittelbaren Nachfolgern, als deren letzter Vattel («Le droit des gens», 1758) angesehen werden kann, indem sie den wesentlichen Inhalt des Völkerrecht aus einem für alle Menschen verbindlichen, durch die «richtige Vernunft» (recta ratio) erkennbaren Naturrecht ableiteten. Eine streng positive Behandlung des Völkerrecht wurde durch J. J. ^[Johann Jakob] Moser begründet (zuerst 1750),
von G. Martens (seit 1784) durchgeführt, wieder aufgenommen von Heffter («Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart», zuerst Berl. 1844; 8. Aufl. 1888),
nachdem inzwischen von Klüber u. a. unter dem Einflusse Kants, Fichtes und Hegels die Vorstellung eines subsidiär gültigen «philosophischen» Völkerrecht nochmals vertreten war. Durchweg auf geschichtlichem Boden steht das Sammelwerk Holtzendorffs («Handbuch des Völkerrecht», 4 Bde., Hamb. 1885-89). - Der wissenschaftlichen Pflege und Fortbildung des Völkerrecht nach den Bedürfnissen der heutigen Gesittung gewidmet ist das 1873 gegründete Institut de droit international (s. Internationales Recht). - Unter dem Namen der neuerdings viel besprochenen «Kodifikation» des Völkerrecht wird zweierlei zusammengeworfen: die Aufstellung einer von allen Staaten als verbindlicher Ausdruck ihrer Rechtsanschauung anzuerkennenden Fassung des geltenden Völkerrecht, wie sie die Pariser Deklaration des Seekriegsrechts (s. d.) von 1856, der Vertrag von Washington (s. Alabamafrage) vom und der nicht zum formellen Abschluß gelangte Entwurf des Kriegsrechts (s. d.) der Brüsseler Konferenz von 1874 enthalten, und die Aufstellung von Gesetzentwürfen über die Rechtsverhältnisse von Angehörigen verschiedener Staaten zu einander, welche jeder Staat gleichmäßig als Staatsgesetz zu verkünden hätte, wie dies 1861 von den Staaten des Deutschen Bundes mit dem Handelsgesetzbuche geschehen ist. -
Vgl. Gareis, Institutionen des Völkerrecht (Gieß. 1888);
Pradier-Fodéré, Traité de droit international public européen et américain (7 Bde., Par. 1890-92);
Heilborn, System des Völkerrecht (Berl. 1895);
Lawrence, Principles of international Law (Lond. 1895);
Rivier, Principes du droit des gens (2 Bde., Par. 1896).