Virgil
oder Vergil (mit vollem Namen Publius Vergilius Maro), röm. Dichter, geb. 5. Okt. 70 v. Chr. zu Andes, einem Flecken bei Mantua, erhielt Schulunterricht in Cremona und Mailand, ging 53 nach Rom und widmete sich hier rhetorischen Studien, wandte sich aber bald der Philosophie und Poesie zu. Bereits hatte er ein kleines, scherzhaftes Gedicht in Hexametern, «Culex», verfaßt, so benannt nach der komischen Heldin desselben, einer Mücke, die von einem undankbaren Hirten, dem sie das Leben gerettet, getötet worden ist und deren Schatten nun um Beerdigung bittet.
Nach einigen Jahren kehrte er in seine Heimat zurück und versuchte sich in Nachahmung Theokritischer Idyllen. Diese Gedichte, deren er vom J. 41 an u. d. T. «Bucolica», Hirtengedichte, oder «Eclogae» zehn veröffentlichte und in denen sich zahlreiche Beziehungen auf Octavian und dessen Freunde finden, verschafften ihm die Freundschaft des damals in Oberitalien befehligenden Asinius Pollio (s. d.). Diesem Umstand verdankte er, als 41 und 40 die Feldmark der Städte, die im Bürgerkriege nicht zu den Siegern gehalten hatten, und damit auch das Gütchen seines Vaters wiederholt für die Veteranen in Anspruch genommen wurde, die Rückgabe desselben oder Ersatz dafür.
Den Dank V.s, zugleich mit der Freude über den 41 geschlossenen Frieden zwischen Octavian und Antonius, spricht die berühmte, dem Asinius Pollio gewidmete vierte Ekloge aus, deren Preis eines neuen goldenen Zeitalters später als Weissagung auf Christus gefaßt wurde. In den folgenden Jahren veranlaßte ihn Mäcenas, durch ein Gedicht über den Landbau der Bevölkerung Italiens Lust und Liebe zu ländlichen Beschäftigungen einzuflößen und dadurch zur Hebung des ital. Ackerbaues mitzuhelfen. Virgil schrieb dieses Lehrgedicht, «Georgica», in vier Büchern, während der Stürme des Bürgerkrieges zwischen Octavian und Antonius.
Nach dem Siege Octavians war die dichterische Thätigkeit V.s vorwiegend dem Ruhme des neuen Herrscherhauses gewidmet. Virgil war der erste Name in dem dichterischen Kreise, der sich um Mäcenas gruppierte. Auf direkte Veranlassung des Augustus und in fortwährendem Verkehr mit diesem arbeitete er, meist in Campanien lebend, bis an den Schluß seines Lebens an seinem Hauptwerk, der «Aeneis» (in 12 Büchern), dem Epos von Äneas' Irrfahrten nach der Zerstörung Trojas und von dessen unter schweren blutigen Kämpfen sich vollziehenden Ansiedelung in Italien, und damit vom Ursprung des glorreichen Julischen Hauses. Im J. 19 begab er sich nach Griechenland, traf in Athen mit Augustus zusammen und wollte nun mit diesem nach Rom zurückkehren.
Doch erkrankte er zu Megara und starb auf der Rückreise 21. Sept. 19 in Brundisium. Vor seinem Tode verlangte er, da es ihm nicht gelungen war, sein Gedicht vollends auszufeilen, dasselbe solle verbrannt werden, aber die Ausführung dieses Wunsches fand nicht statt: die Freunde Varius und Tucca, denen die Manuskripte testamentarisch vermacht waren, besorgten später auf Geheiß des Augustus die Herausgabe. Der Leichnam V.s wurde bei Neapel an der Straße nach Puteoli beigesetzt. Doch ist das Grab, das man bei der Grotte des Posilipo (s. d.) jetzt zeigt, nicht das des Virgil.
Außer den genannten Werken tragen V.s Namen noch folgende Dichtungen: «Ciris» (die Verwandlung der Königstochter Scylla in einen Meervogel ciris),
in 541 Hexametern;
«Copa», die Wirtin (Einladung zur Einkehr),
in 19 Distichen: «Moretum»,
mehr
das Mörsergericht (Schilderung der Morgenstunden eines Bauern),
in 124 Hexametern; die sog. «Catalecta» (oder «Catalepta», d. h. Kleinigkeiten?),
eine Sammlung von 14 kleinen Gedichten gemischten Inhalts. Indessen ist die Echtheit fast aller dieser Dichtungen, auch des «Culex» in der jetzigen Gestalt, bestritten; von den größern hat das «Moretum» allein Anspruch auf Virgilianischen Ursprung.
Als Dichter wurde Virgil im Altertum und auch noch später vielfach überschätzt; die neuere Zeit urteilt nüchterner; doch stellen Sprache und Versbau und der Glanz der Darstellung in vielen Erzählungen in der «Aeneis» und Schilderungen in den «Georgica» den Virgil immer in die vorderste Reihe der klassischen Dichter. Kurz nach seinem Tode waren seine Werke bereits neben Homer das beliebteste Schulbuch. Kommentatoren und Grammatiker wie C. Julius Hyginus, Valerius Probus, Donatus, Servius, Macrobius u. a. erklärten ihn sachlich und sprachlich und beschrieben sein Leben.
Die Verse seiner Dichtungen verwendete man in andern Zusammenstellungen zu neuen Gedichten (s. Cento) und benutzte sie sogar als Orakelquelle (Stichomantie). Virgil selbst ward im Volksglauben zum Zauberer. (S. Virgilius der Zauberer.) Eins der ersten mittelhochdeutschen Heldengedichte, die «Eneit» des Heinrich (s. d.) von Veldeke, ist einer altfranz. Dichtung, die auf der «Äneide» des Virgil beruht, nachgebildet, und überhaupt ist Virgil für die Dichtung des Mittelalters, namentlich der roman. Völker, insbesondere auch für Dante, von größter Bedeutung. Damit steht im Zusammenhange, daß eine große Anzahl von Handschriften von Virgil erhalten ist, darunter mehrere aus sehr früher Zeit, wie der Mediceus in Florenz aus dem 5., der durch seine Miniaturen berühmte Vaticanus (Romanus) in Rom aus dem 5. oder 4. Jahrh. Die ältesten Blätter im Vatikan sind sogar dem 2. Jahrh. n. Chr. zugeschrieben worden. Sie stammen aus einer Handschrift mit Bildern.
Neuere Ausgaben von Virgil besorgten außer vielen andern: Heyne (4. Aufl. von Wagner, 5 Bde., Lpz. 1830-41), Forbiger (4. Ausg., 3 Bde., ebd. 1872-75), Ladewig (1. Bdchn., 7. Aufl. von Schaper, Berl. 1882; 2. Bdchn., 11. Aufl. 1891; 3. Bdchn., 8. Aufl. 1886), Benoist (zum Teil 2. u. 3. Aufl., Par. 1872-84), Conington und Nettleship (4. Aufl., 3 Bde., Lond. 1881-83), Kappes (4. Aufl., Lpz. 1887), Thilo (ebd. 1886), Güthling (ebd. 1886). Die kritische Hauptausgabe ist die von Ribbeck (4 Bde., Lpz. 1859-68), von der auch ein Auszug erschien (Bd. 1-3, ebd. 1894-95). Übersetzungen lieferten: J. H. Voß (2. Aufl., 3 Bde., Braunschw. 1821), Neuffer und Osiander (6 Bdchn., Stuttg. 1830 fg.), Osiander und Hertzberg (ebd. 1853 fg.). -
Vgl. Sonntag, Vergil als bukolischer Dichter (Lpz. 1891).