Virchow
,
Rud., Patholog, Anthropolog und Politiker, geb. zu
Schivelbein in
Pommern,
[* 2] studierte
zu
Berlin
[* 3]
Medizin und fand dort als
Unterarzt, später als Assistent von Froriep und (seit 1816) als Prosektor an der
Charité
Gelegenheit zu pathol. Forschungen, die er mit seinem Freunde Reinhardt zu eingehenden Untersuchungen krankhafter Vorgänge
benutzte. Die Ergebnisse derselben legten beide Forscher in dem von ihnen 1847 begründeten
«Archiv für
pathol.
Anatomie und
Physiologie und für klinische
Medizin» nieder, welchem nach Reinhardts
Tode (1852) von Virchow
allein bis jetzt
(1897), wo es im 148.
Bande steht, fortgeführt wurde.
Aufsehen erregte besonders eine Kritik (1846) V.s über die pathol.-anatom.
Arbeiten Rokitanskys in der
er seine abweichenden
Ansichten über die Grundformen der
Krankheiten geltend machte. Während der
Bewegung des J. 1848 wirkte
Virchow
in entschieden liberalem
Sinne und bekannte sich offen als Demokrat. In einer mit Leubuscher begründeten Zeitschrift «Die
mediz.
Reform» (1848 - 49) sprach er sich auf das freisinnigste über Medizinalreform aus.
Über die Erfahrungen,
welche er als Abgesandter des Kultusministers 1848 in Oberschlesien über den Hungertyphus sammelte, berichtete er in den
«Mitteilungen über die in Oberschlesien herrschende
Typhus-Epidemie» (Berl. 1848). 1847 hatte er sich an der
Berliner
[* 4]
Universität
habilitiert, nachdem er schon seit
Ostern 1846 Vorlesungen über pathol.
Anatomie gehalten hatte.
Ostern 1849 wurde er von dem Ministerium aus polit.
Gründen seiner
Stelle entsetzt
und nur auf Andringen der ärztlichen
Vereine auf
Widerruf wieder angestellt. Im Herbst folgte er daher einem Rufe als ord.
Professor nach
Würzburg
[* 5] und zählte alsbald zu den hervorragendsten Lehrern der sog.
Würzburger Schule, die ihren
nächsten
Ausdruck in der von ihm mit gegründeten Phvsikalisch-medizinischen Gesellschaft und den von dieser publizierten
«Verhandlungen» fand.
Darin steht auch sein
Bericht über «Die
Not im
Spessart», wohin er
im
Auftrage der Regierung 1852 gegangen
war. Noch von
Berlin aus hatte Virchow
in der
Schrift «Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen
Medizin» (Berl. 1849) ein förmliches Programm seiner eigenen wissenschaftlichen
Tendenzen im Gegensatze zu denen anderer Forscher
aufgestellt. Im Herbst 1856 wurde Virchow
als ord.
Professor und als Direktor des für ihn neu begründeten Pathologischen Instituts an die Universität in Berlin zurückberufen. Er ist Mitglied der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen im Kultusministerium, der technischen Deputation für das Veterinärwesen im landwirtschaftlichen Ministerium und der Akademie der Wissenschaften. Im Herbst 1859 bereiste er auf Ersuchen der norweg. Regierung die Westküste von Norwegen, [* 6] um dort den Aussatz zu untersuchen. Im Dez. 1874 wurde er zum Geh. Medizinalrat ernannt. Seit 1879 hat er sich auch an den Ausgrabungen Schliemanns beteiligt und eine Reihe von Reisen im Kaukasus zu ethnogr. Studien gemacht.
Virchow
ist der Begründer der sog.
Cellularpathologie (s. d.) und hat dadurch einen nachhaltenden Einfluß auf
die
Entwicklung der gesamten modernen
Medizin geübt. Als Grundursache aller Lebensvorgänge (und dazu rechnet er auch die
Krankheiten), der
Veränderungen der Organe und Gewebe
[* 7] stellt Virchow
die
Erregbarkeit der Zellen (s. d.) hin.
Diese neue
Anschauung, die mehr und mehr die Grundlage der modernen
Medizin geworden ist, entwickelte Virchow
zuerst in den «Vorlesungen
über
Cellularpathologie in ihrer
Begründung auf physiol. und pathol. Gewebelehre» (Berl.
1859),
deren vierte Auflage zugleich den ersten Band [* 8] der «Vorlesungen über Pathologie» (1871) bildet. Der zweite, dritte und vierte Band des letztern Werkes (1863 - 67) umfassen die Vorlesungen über «Die krankhaften Geschwülste».
Hervorragend sind ferner V.s Verdienste um die öffentliche Gesundheitspflege. Hier sind besonders seine wichtigen
Arbeiten
über
Kanalisation und
Städtereinigung, über
Desinfektion,
[* 9] über
Schulhygieine, Lazarettwesen u. a. hervorzuheben.
In das Gebiet der
Anthropologie und Ethnographie
[* 10] hat Virchow
vielseitig umgestaltend und fördernd eingegriffen, wie seine
Arbeiten
über Rassen und Schädelmessung, über das deutsche Haus u. a. m. beweisen. Von weitgreifendem
Einfluß auf die Beurteilung der modernen
Völker Europas sind die unter seiner Leitung vorgenommenen Schulerhebungen über
die
Farbe der
Haare,
[* 11] der
Augen und der
Haut
[* 12] gewesen, durch die man zuerst feste Unterlagen für die Kenntnis
der Rassenverteilung zu gewinnen versuchte. Aus seinen
Schülern ist eine große Anzahl namhafter Professoren und
Ärzte hervorgegangen.
Außer zahlreichen Beiträgen zu Zeitschriften und Sammelwerken sind von seinen Schriften noch hervorzuheben: «Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin» (Frankf. a. M. 1856; 2. Aufl., Berl. 1862),
das von ihm unter Mitwirkung verschiedener deutscher Ärzte herausgegebene «Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie» (6 Bde., Erlangen [* 13] und Stuttg. 1854 - 76),
die «Untersuchungen über die Entwicklung des Schädelgrundes» (Berl. 1857),
«Vier Reden über Leben und Kranksein» (ebd. 1862),
«Die Lehre [* 14] von den Trichinen» (ebd. 1865; 3. Aufl. 1866),
«Über den Hungertyphus» (ebd. 1868),
«Kanalisation oder Abfuhr» (ebd. 1869),
«Reinigung und Entwässerung Berlins» (13 Hefte und 3 Anhangshefte, ebd. 1870 - 79),
«Über einige Merkmale niederer Menschenrassen am Schädel» ¶
mehr
(ebd. 1875),
«Beiträge zur physischen Anthropologie der Deutschen, mit besonderer Berücksichtigung der Friesen» (ebd. 1876),
«Sektionstechnik» (ebd. 1876),
«Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medizin und der Seuchenlehre» (2 Bde., ebd. 1879) u. s. w. Hieran reihen sich die geistvollen «Gedächtnisreden» auf Joh. Müller (Berl. 1858) und auf Schönlein (ebd. 1865); ferner eine Reihe populärer Vorträge, wie z. B. «Goethe als Naturforscher» (ebd. 1861),
«Die Aufgabe der Naturwissenschaften in dem neuen nationalen Leben Deutschlands» [* 16] (ebd. 1871),
«Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat» (ebd. 1877) u. s. w. In der von Virchow
und von
Holtzendorff seit 1866 herausgegebenen «Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher
Vorträge» hat Virchow
eine Reihe von Vorträgen, z. B.
«Über Pfahlbauten
[* 17] und Hünengräber», «Über Nahrungs- und Genußmittel», «Über Hospitäler und Lazarette», «Über die Heilkräfte
des Organismus», «Die Urbevölkerung Europas», «Menschen- und Affenschädel» veröffentlicht. Virchow
gehört zahlreichen gemeinnützigen
Vereinen an, in deren Interesse er viele Schriften, wie «Die Aufgabe der deutschen Turnerei» (Berl. 1864),
«Über die Erziehung des Weibes für seinen Beruf» (ebd. 1865) u. s. w. veröffentlichte. Er war (1869) Mitbegründer und wiederholt Vorsitzender sowohl der Deutschen als der Berliner Anthropologischen Gesellschaft, deren Verhandlungen er in der «Zeitschrift für Ethnologie» (28 Bde., Berl. 1868-96) herausgiebt.
Virchow
ist seit 1859 Stadtverordneter für Berlin und seit 1862 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses (Wahlbezirk
Saarbrücken,
[* 18] seit 1867 Berlin) sowie (1880-93) des Deutschen Reichstags. Als Parlamentarier gehörte er der Fortschrittspartei,
deren Mitbegründer er war, dann der deutschfreisinnigen Partei an. -
Vgl. Becher,
[* 19] Rudolf Virchow.
Eine biogr.
Studie (Berl. 1891).