tessinischer Zufluß des
Lago Maggiore, kommt aus dem in Dörfern und Alphütten bewohnten wildschönen
ValVerzasca und strömt meist in der Tiefe dunkler und jäher Abgründe dahin.
Die acht Thalgemeinden zählten nur 2190
Seelen
ortsanwesender
Bevölkerung,
[* 2] während die Wohnbevölkerung 2566 zählt;
Auf der 8 km langen Strecke Sonogno-Brione erhält das Verzascathal noch von links: den im kleinen Lago d'Efra am N.-Hang des
PizzoScaglie (2455 m) und der Cima d'Efra entspringenden Wildbach des Val d'Efra, der bei Frasco ausmündet und hier im Gneis
einen grossartigen Riesentopf von 12 m Durchmesser und etwa 20 m Tiefe ausgewaschen hat, den vom Pizzo del Motto
(2371 m) kommenden und gegenüber des Dorfes Gerra den schönsten Wasserfall im ganzen Gebiet der Verzasca bildenden Motto und
endlich die unbedeutenden Wildwasser vom unwirtlichen Poncione d'Alnasca (2305 m) her.
Der bis 600 m breite flache Thalboden von Brione, der den obern Abschnitt des Verzascathals abschliesst,
war einst von einem mehrere Kilometer langen, durch einen prähistorischen Bergsturz aufgestauten See eingenommen, dessen Wasser
sich dann durch den mächtigen Schuttwall (mit Blöcken von bis zu 2000 m3 Inhalt) wieder einen Durchpass gegraben haben.
Nun engt sich das Thal mehr und mehr ein. Es erhält von rechts die Wasser zweier vom Pizzo Masnè (2202
m), Madone di Giovo (2264 m) und Pizzo Orgnana (2218 m) mit zahlreichen Kaskaden herabstürzender Wildbäche und von links die
Bäche der an Alpweiden reichen drei Thälchen von Agra, Pincascia und Careggio, die an den Flanken der Cima
di Lierna (2445 m), der Punta del Rosso (2510 m), des Pioncone di Precastello (2361 m) und des Poncione dei Laghetti (2450 m)
entspringen und sich zum Bach des Lavertezzothales vereinigen, um mit einem Wasserfall in die Verzasca zu münden (540 m).
Im noch tiefer eingeschnittenen Unterlauf endlich hat sich das smaragdgrüne Wasser dieser letztern seinen
Weg durch die kristallinen Schiefer, den Gneis und den weissen Granit am Fuss
des Poncione di Vogorno (2447 m), des Madone
(2402 m) und des Poncione di Prosa (1874 m) gegraben. Zuflüsse sind auf dieser Strecke der Corippo (mit schönem
Wasserfall) und die Mergoscia von rechts, die Porta von links. Bei Tenero verlässt die Verzasca ihr Thal in einer sehr tiefen,
in grauen Glimmerschiefer mit parallelen Quarzadern eingegrabenen Mündungsschlucht, um dann zur untersten Tessinebene auszumünden,
hier ein mit demjenigen des Tessin
zusammengewachsenes, breites Delta zu bilden und sich bei Mappo in den Langensee
zu ergiessen.
Das so interessante Verzascathal war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bloss von einem hie und da nicht ungefährlichen
Fussweg durchzogen. Die Thalbewohner bestritten damals Unterhalt und Bekleidung ausschliesslich aus den Produkten von Bodenbau
und Viehzucht. Während der Jahre 1868-1873 erstellte man sodann die heutige Thalstrasse, die bei Gordola
von der grossen Strasse Bellinzona-Locarno nach rechts auszweigt. Sie erhebt sich zunächst in zwei Kehren mitten in prachtvollen
Weinrebenpflanzungen bis zu den Hütten von Scalate und Gordemo, die von den «Verzaschesi» und ihrem Vieh im Herbst und Winter
auf einige Monate bezogen werden.
Von hier an dringt nun die Strasse, immer etwa 100 m links über dem in seiner Schlucht schäumenden Thalwasser
sich haltend, thaleinwärts, überschreitet die Seitenthälchen der Cazza und der Porta auf steinernen Brücken und erreicht
als erste grössere Siedelung das Dorf Vogorno (520 m). Zwei Kilometer weiter hinten zweigt ein Fahrsträsschen
nach dem am jenseitigen, rechten Thalgehänge mitten in Kastanienselven idyllisch gelegenen Dorf Corippo ab. 300 m oberhalb
der Brücke dieses Strässchens hat die Stadt Lugano 1905-1907 das Wasser der Verzasca aufstauen lassen, das nun durch einen
zum Teil als Stollen durch den Fels geführten Kanal zum Elektrizitätswerk bei Gordola gelangt.
Hier wird sein Gefälle von 267 m durch drei Turbinen zu einem elektrischen Strom von 6000 PS umgewandelt, den man über den
Monte Cenere nach Lugano und selbst bis nach Chiasso an der Landesgrenze gegen Italien leitet. Immer noch links der Verzasca
hinziehend, erreicht die Thalstrasse das Dorf Lavertezzo (548 m), den Hauptort des Verwaltungskreises Verzasca,
wo die Weinrebe noch an Spalieren gezogen wird. 4 km weiter nordwestwärts geht die Strasse auf einer steinernen Brücke zum
rechten Flussufer hinüber, um nun durch eine wilde Trümmerlandschaft mit mächtigen Glimmerschiefer- und Gneisblöcken
sich zu winden, den Wildbach des Osolathälchens zu überschreiten und die dreieckige Ebene von Brione
(761 m) zu erreichen.
Das von N. nach S. orientierte und zwischen hohe Berge tief eingesenkte Verzascathal weist eine ziemlich reichhaltige Flora
auf, in der neben den Elementen nördlicher Herkunft auch einige interessante und seltene Typen der insubrischen Region auftreten.
So trifft man am Thaleingang, in feuchten und schattigen Klüften, das zierliche Frauenhaar (Adiantum capillus Veneris) und
den majestätischen Königsfarn (Osmunda regalis) neben der hier bis auf 350 m Höhe üb. M. herabsteigenden
Alpenrose.
Weiter hinten, besonders im ValLavertezzo, wächst schon von 1400 m an das Edelweiss, sogar auf den Alpweiden, in Masse. Schöne
Waldungen von Kastanien, Buchen und Lärchen bekleiden da und dort die steilen Bergflanken bis zu 1700 m hinauf. Höher entfalten
die schönen Blumen der Alpenflora ihre Farbenpracht, so Aconitum paniculatum,ViolaThomasiana, Potentillafrigida, Saxifraga planifolia, Molopospermum cicutarium, Androsace imbricata und A. glacialis, Soldanella pusilla, Daphnestriata, Eritrichium nanum, Lilium croceum u. a.
Die Bevölkerung des Verzascathales ist das Produkt einer Mischung keltischer und germanischer Elemente. Auf germanische
Abstammung weisen hin die blonden Haare und die blauen Augen, sowie einige in die Mundart des Thales übergegangene
Ausdrücke. Von den ersten Ansiedlern im Verzascathal ist uns nichts bekannt; sie scheinen sich aber in ihrer wilden und
beinahe unzugänglichen Abgeschlossenheit bis tief ins Mittelalter ihre Freiheit bewahrt zu haben. Podestat oder Bürgermeister
der Verzasca war im Jahr 1665 der Baron Johann Anton Marcacci, dessen Geschlecht sich nach dem Blutbad
der sizilianischen Vesper an die Ufer des Zangensees hatte flüchten können. Die Marcacci besassen einen festen
Turm am Eingang ins Verzascathal und erstellten sich
im 17. Jahrhundert zu Brione ein Schloss, das nach dem Tod des letzten
Gliedes der Familie (1854) in andre Hände kam.
Hauptbeschäftigung der «Verzaschesi» oder Bewohner des Verzascathales
ist Viehzucht, sowie Herstellung von Butter und Käse. Das Fleisch der in der Verzasca aufgezogenen Kälber gilt als das zarteste
Kalbfleisch des ganzen Kantons. Die 40 Alpweiden des Thales werden mit 1830 Stück Hornvieh, 3300 Ziegen, 1050 Schafen
und 180 Schweinen bestossen und erzeugen im Jahresdurchschnitt für Fr. 93500 Butter und Käse. Zahlreiche der im Thal niedergelassenen
Familien verbringen fast den ganzen Winter im schönen Hügelgelände zwischen Gordola und Cugnasco, dem besten Weinland des
Kantons. So reduzieren sich die zur Sommerszeit rund 2000 Köpfe zählenden Thalbewohner während der
Wintermonate auf etwa die Hälfte.
Das halbe Nomadenleben der Bewohner mit seinem Aufenthalt von einigen Wochen in der Thalsohle, von vier Monaten auf den Bergwiesen
und Alpweiden und von mehreren Wochen ausserhalb des heimatlichen Thales am Gehänge ob Gordola bedeutet eine unglückselige
Zersplitterung von Kraft, Zeit und Geld. Da der Schulbesuch im Thal selbst sehr unregelmässig ist, hat
man in den Terricciuole zwischen Gordola und Cugnasco Spezialklassen eingerichtet. Weinrebe und Mais werden mit Erfolg noch bis
an das W.-Gehänge der Bergflanke von Vogorno angebaut; höher oben gedeihen bloss noch Roggen, Kartoffeln und etwas Hanf.
Die Edelkastanie wächst bis Gerra hinauf in sehr kräftigen Exemplaren und liefert dem durch seine Nüchternheit
sich auszeichnenden Verzascheser Bauern ein vortreffliches Nahrungsmittel. Das Wildheu wird von den unzugänglichsten Stellen
unter grosser Gefahr zu Thal gebracht. Um die infolge der starken Auswanderung mangelnden Arbeitskräfte zu ersetzen, hat
man seit einigen Jahren metallische Kabel zur Beförderung von Holz und Heu zu den Dörfern hinunter angebracht.
Solcher Kabel bestehen nicht weniger als 62; deren eines, das ausschliesslich dem Holztransport dient, ist volle 3000 m lang.
Mit Hilfe dieser Kabel werden von den schwer zugänglichen Bergwiesen und Rasenbändern alljährlich an die 2000 Meterzentner
Heu, d. h. doppelt so viel als ehedem, zu Thal gebracht. Die infolge zunehmender Stallfütterung ihrer
natürlichen Düngung entbehrenden Alpweiden verarmen immer mehr.
¶
mehr
Während die Vorfahren die Bergflanken in wirklich unsinniger Weise abgeholzt und ihres Waldkleides beraubt haben, gibt sich
die heutige Generation mehr als in irgend einem andern Tessinerthal die lobenswerteste Mühe mit Aufforstung durch Buchen,
Tannen, Lärchen, Ahornen etc. So hat man in den letztvergangenen Jahren eine Fläche von 55 ha aufgeforstet,
was einen Kostenaufwand von insgesamt Fr. 43600 bedingte Daran trugen bei: der Bund Fr. 21300, der Kanton Tessin
Fr. 7100 und die Patriziati
(Korporationen) Fr. 15200.
Die einzige industrielle Tätigkeit im Thal ist der Bruch und die Herrichtung von Granit und Gneis. Von Vogorno bis Gerra und
ganz besonders bei Brione sieht man überall Steinhauer an der Arbeit, von denen Blöcke bis auf 12 m2
Seitenfläche exportiert werden. In Gerra besteht seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine kleine Fischbrutanstalt,
in der jährlich 150000 Forelleneier (Salmo variabilis) ausgebrütet werden. Der Fischreichtum der Verzasca ist an Quantität
wie Qualität erfreulich.
Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts pflegten die meisten Männer aus fast allen Dörfern des Verzascathales als
Hausierer zeitweilig nach Italien auszuwandern. Manche führten dabei 7-8 jährige Knaben mit sich, die ihr Brot als Kaminkehrer
verdienen mussten. Dann aber machten strenge Gesetzesvorschriften dieser Art Menschenhandel, der den Familien
und der Schule zahlreiche Kinder entzog, ein Ende. Die Bevölkerungsziffer ist im letzten Jahrhundert stetig zurückgegangen: 3270 Ew.
im Jahr 1830, 2714 im Jahr 1880, 1825 im Jahr 1900. Die Schuld daran trägt die sehr starke Auswanderung nach den Vereinigten
Staaten von Nordamerika, speziell nach Kalifornien, wohin sich die jungen Leute wenden, um wie in der
Heimat Weinbau und Viehzucht zu treiben. Mehr als 2000 Ew. des Verzascathales wohnen in SanLuis Obispo, in Loleta und in der
Umgebung von San Francisco. Aber auch der Ausgewanderten Herz hängt noch treu an der angestammten Heimat, und nicht ungehört
verhallt bei ihnen der Ruf nach Unterstützung, wenn es sich um ein ihrem Thal zugute kommendes gemeinnütziges
Werk handelt.
Gleich den übrigen Bewohnern von abseits von Handel und Verkehr liegenden Landschaften zeigt sich auch der Verzaschese allem
Neuen oder Fremden gegenüber sehr zurückhaltend, ja misstrauisch. Man hält zäh am Alten fest, so dass
sich moderner Fortschritt nur sehr langsam seinen Weg bis zu den Ortschaften des Verzascathales hinauf zu bahnen vermag.
Die aus Steinblöcken und ohne Mörtel zusammengefügten Häuser haben als Oeffnung fast stets bloss die Türe, selten auch
Fenster.
Ein solches Haus umfasst meist nur eine einziges Gemach, das der Familie als Küche, Wohn- und Schlafzimmer
zugleich dient. Ueber einem die Feuerstelle darstellenden Loch in der Mitte des Gemaches hängen an eiserner Kette die Kochtöpfe;
in Ermangelung eines Kamins zieht der Rauch durch die Türe ab, freilich nicht, ohne vorher an Wänden und Decke eine starke
und glänzende Schicht Russ abzulagern. In der einen Ecke befindet sich die anspruchslose Schlafstelle,
in der zweiten ein alter Wäscheschrank, in der dritten ein Hühnerkäfig, ein HaufenHolz und einige Ackergerätschaften etc.
Wie die Wohnung ist auch die Kleidung noch ziemlich urwüchsig, beginnt aber doch allmählig sich der modernen Mode anzupassen.
Verschwunden sind die Kniehosen der Männer, und auch die Frauentracht wird immer seltener angelegt.
Sie bestand der Hauptsache nach in einem kurzen Rock aus im Thal selbst gewobenem groben Wollenstoff, einer unter den Armen
gebundenen farbigen Schürze und einem kleinen, vorn offenen Leibchen aus grauer Baumwolle, das das weisse Hemd aus selbstverfertigtem
groben Linnen sichtbar liess. Die langen Rohrstrümpfe (ohne Fuss) reichten genau bis zu den Schuhen herab,
die aus groben Tuchresten zusammengeflickt waren.
Der Verzaschese ist ein unermüdlicher Arbeiter, guter Viehzüchter und ausgezeichneter Weinbauer, dessen zäher Ausdauer
das üppige Rebgelände aus einheimischen Rebsorten (Bondola- und Barberarebe), das sich von Bellinzona bis Locarno erstreckt,
seine Erhaltung und seinen Schutz vor parasitären Ansteckungen verdankt.