Verzasca
(Kt. Tessin,
Bez. Locarno).
2360-197 m. Fluss und
Thal im Kanton Tessin,
zwischen dem
Maggiathal einerseits und der
Leventina-Riviera
andrerseits und beiden parallel verlaufend. Länge vom kleinen Alpenbecken des
Lago di
Barone im N. bis zur Mündung in den
Langensee, 4 km ö.
Locarno, im S.: 35,5 km. Die beiden obersten Verzweigungen des
Val Verzasca
sind das
9,5 km lange
Val Vigornesso und das 6 km lange
Val Redorta (oder Ritorta), die sich unterhalb
Sonogno (909 m) zum Verzascathal
vereinigen.
Während der oberste Thalabschnitt links von einer hohen Kette mit den Gipfeln
Pizzo Barone (2861 m),
Uomo di Campionigo (2875
m),
Cima Bianca (2630 m),
Mezzogiorno (2705 m),
Madone Grosso (2721 m) und
Cima di Cagnone (2529 m) begleitet
wird, sammelt der
Wildbach des
Val Redorta seine Quellen am
Monte Zucchero (2732 m), der
Corona di Redorta (2802 m), am
Monte
Rasia (2680 m) und am
Sasso Rosso (2405 m). Dem von
Sonogno an weniger steil südwärts sich senkenden
und allmählig breiter werdenden Verzascathal
vereinigt sich bei Brione
(761 m) von rechts das 10 km lange
Val d'Osola, das
an der S.-Flanke des
Monte Zucchero (2732 m) entspringt und zwischen der
Cima di Broglio (2458 m), dem
Pizzo Pegro (2420 m)
und dem
Pizzo Piancaccia (2358 m) südostwärts verläuft.
Auf der 8 km langen Strecke
Sonogno-Brione erhält das Verzascathal
noch von links: den im kleinen
Lago d'Efra am
N.-Hang des
Pizzo
Scaglie (2455 m) und der
Cima d'Efra entspringenden
Wildbach des
Val d'Efra, der bei
Frasco ausmündet und hier im Gneis
einen grossartigen Riesentopf von 12 m Durchmesser und etwa 20 m
Tiefe ausgewaschen hat, den vom
Pizzo del Motto
(2371 m) kommenden und gegenüber des Dorfes
Gerra den schönsten
Wasserfall im ganzen Gebiet der Verzasca
bildenden
Motto und
endlich die unbedeutenden Wildwasser vom unwirtlichen
Poncione d'Alnasca (2305 m) her.
Der bis 600 m breite flache Thalboden von Brione
, der den obern Abschnitt des Verzasca
thals abschliesst,
war einst von einem mehrere Kilometer langen, durch einen prähistorischen
Bergsturz aufgestauten
See eingenommen, dessen
Wasser
sich dann durch den mächtigen Schuttwall (mit Blöcken von bis zu 2000 m3 Inhalt) wieder einen Durchpass gegraben haben.
Nun engt sich das Thal mehr und mehr ein. Es erhält von rechts die
Wasser zweier vom
Pizzo Masnè (2202
m),
Madone di Giovo (2264 m) und
Pizzo Orgnana (2218 m) mit zahlreichen Kaskaden herabstürzender
Wildbäche und von links die
Bäche der an Alpweiden reichen drei Thälchen von
Agra,
Pincascia und
Careggio, die an den Flanken der
Cima
di
Lierna (2445 m), der
Punta del Rosso (2510 m), des Pioncone di Precastello (2361 m) und des
Poncione dei Laghetti (2450 m)
entspringen und sich zum Bach des Lavertezzothales vereinigen, um mit einem
Wasserfall in die Verzasca
zu münden (540 m).
Im noch tiefer eingeschnittenen Unterlauf endlich hat sich das smaragdgrüne
Wasser dieser letztern seinen
Weg durch die kristallinen Schiefer, den Gneis und den weissen Granit am Fuss
des Poncione di
Vogorno (2447 m), des
Madone
(2402 m) und des Poncione di
Prosa (1874 m) gegraben. Zuflüsse sind auf dieser Strecke der
Corippo (mit schönem
Wasserfall) und die
Mergoscia von rechts, die
Porta von links. Bei
Tenero verlässt die Verzasca
ihr Thal in einer sehr tiefen,
in grauen Glimmerschiefer mit parallelen Quarzadern eingegrabenen Mündungsschlucht, um dann zur untersten Tessinebene auszumünden,
hier ein mit demjenigen des Tessin
zusammengewachsenes, breites Delta zu bilden und sich bei
Mappo in den
Langensee
zu ergiessen.
Das so interessante Verzascathal
war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bloss von einem hie und da nicht ungefährlichen
Fussweg durchzogen. Die Thalbewohner bestritten damals Unterhalt und Bekleidung ausschliesslich aus den Produkten von Bodenbau
und Viehzucht. Während der Jahre 1868-1873 erstellte man sodann die heutige
Thalstrasse, die bei
Gordola
von der grossen Strasse
Bellinzona-Locarno nach rechts auszweigt. Sie erhebt sich zunächst in zwei
Kehren mitten in prachtvollen
Weinrebenpflanzungen bis zu den
Hütten von
Scalate und
Gordemo, die von den «Verzaschesi» und ihrem Vieh im Herbst und Winter
auf einige Monate bezogen werden.
Von hier an dringt nun die Strasse, immer etwa 100 m links über dem in seiner
Schlucht schäumenden Thalwasser
sich haltend, thaleinwärts, überschreitet die Seitenthälchen der Cazza und der
Porta auf steinernen Brücken und erreicht
als erste grössere Siedelung das Dorf
Vogorno (520 m). Zwei Kilometer weiter hinten zweigt ein Fahrsträsschen
nach dem am jenseitigen, rechten Thalgehänge mitten in Kastanienselven idyllisch gelegenen Dorf
Corippo ab. 300 m oberhalb
der
Brücke dieses Strässchens hat die Stadt
Lugano 1905-1907 das
Wasser der Verzasca
aufstauen lassen, das nun durch einen
zum Teil als
Stollen durch den Fels geführten Kanal zum Elektrizitätswerk bei
Gordola gelangt.
Hier wird sein Gefälle von 267 m durch drei Turbinen zu einem elektrischen
Strom von 6000 PS umgewandelt, den man über den
Monte Cenere nach
Lugano und selbst bis nach
Chiasso an der Landesgrenze gegen Italien leitet. Immer noch links der Verzasca
hinziehend, erreicht die
Thalstrasse das Dorf
Lavertezzo (548 m), den Hauptort des Verwaltungskreises Verzasca
,
wo die Weinrebe noch an Spalieren gezogen wird. 4 km weiter nordwestwärts geht die Strasse auf einer steinernen
Brücke zum
rechten Flussufer hinüber, um nun durch eine wilde Trümmerlandschaft mit mächtigen Glimmerschiefer- und Gneisblöcken
sich zu winden, den
Wildbach des Osolathälchens zu überschreiten und die dreieckige
Ebene von Brione
(761 m) zu erreichen.
Von diesem Dorf kann man einerseits durch
Val d'Osola und über die
Forcarella di
Cocco (2137 m) nach
Menzonio im Lavizzarathal
und andrerseits über die Alpa
Giovo und den
Passo di Nimi (2073 m) in 6 Stunden nach dem Dorf
Maggia im
Maggiathal hinübergelangen. Die Strasse aber setzt sich über
Gerra (773 m) rechts der Verzasca
und
Frasco (873 m) links derselben
bis
Sonogno an der Vereinigung von
Val Vigornesso und
Val Redorta fort, wo sie nach 25 km langem Verlaufihr Ende erreicht. Von
Frasco gelangt man durch
Val d'Efra und über den Passo Rampf (2481 m) nach
Personico in der
Leventina; von
Sonogno durch
Val Vigornesso und entweder über die
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Bocchetta di Cima Bianca (2109 m) oder über den sehr wilden Passo di Barone (2500 m) ins Val Chironico und nach Lavorgo in der
Leventina. Ein weiterer Fussweg leitet von Sonogno durch Val Redorta und den Passo di Redorta (2176 m) nach dem Val Pertusio,
Val di Prato und dem Dorf Prato im Lavizzarathal. Die Thalstrasse der Verzasca
wird das ganze Jahr hindurch
von zwei täglichen Postwagenkursen Locarno-Gordola-Sonogno befahren, an die sich im Sommer ein dritter Kurs Gordola-Brione
und zurück anschliesst.
Das von N. nach S. orientierte und zwischen hohe Berge tief eingesenkte Verzascathal
weist eine ziemlich reichhaltige Flora
auf, in der neben den Elementen nördlicher Herkunft auch einige interessante und seltene Typen der insubrischen Region auftreten.
So trifft man am Thaleingang, in feuchten und schattigen Klüften, das zierliche Frauenhaar (Adiantum capillus Veneris) und
den majestätischen Königsfarn (Osmunda regalis) neben der hier bis auf 350 m Höhe üb. M. herabsteigenden
Alpenrose.
Weiter hinten, besonders im Val Lavertezzo, wächst schon von 1400 m an das Edelweiss, sogar auf den Alpweiden, in Masse. Schöne Waldungen von Kastanien, Buchen und Lärchen bekleiden da und dort die steilen Bergflanken bis zu 1700 m hinauf. Höher entfalten die schönen Blumen der Alpenflora ihre Farbenpracht, so Aconitum paniculatum, Viola Thomasiana, Potentilla frigida, Saxifraga planifolia, Molopospermum cicutarium, Androsace imbricata und A. glacialis, Soldanella pusilla, Daphne striata, Eritrichium nanum, Lilium croceum u. a.
Die Bevölkerung des Verzasca
thales ist das Produkt einer Mischung keltischer und germanischer Elemente. Auf germanische
Abstammung weisen hin die blonden Haare und die blauen Augen, sowie einige in die Mundart des Thales übergegangene
Ausdrücke. Von den ersten Ansiedlern im Verzascathal
ist uns nichts bekannt; sie scheinen sich aber in ihrer wilden und
beinahe unzugänglichen Abgeschlossenheit bis tief ins Mittelalter ihre Freiheit bewahrt zu haben. Podestat oder Bürgermeister
der Verzasca
war im Jahr 1665 der Baron Johann Anton Marcacci, dessen Geschlecht sich nach dem Blutbad
der sizilianischen Vesper an die Ufer des Zangensees hatte flüchten können. Die Marcacci besassen einen festen
Turm am Eingang ins Verzascathal und erstellten sich
im 17. Jahrhundert zu Brione
ein Schloss, das nach dem Tod des letzten
Gliedes der Familie (1854) in andre Hände kam.
Hauptbeschäftigung der «Verzaschesi» oder Bewohner des Verzascathales ist Viehzucht, sowie Herstellung von Butter und Käse. Das Fleisch der in der Verzasca aufgezogenen Kälber gilt als das zarteste Kalbfleisch des ganzen Kantons. Die 40 Alpweiden des Thales werden mit 1830 Stück Hornvieh, 3300 Ziegen, 1050 Schafen und 180 Schweinen bestossen und erzeugen im Jahresdurchschnitt für Fr. 93500 Butter und Käse. Zahlreiche der im Thal niedergelassenen Familien verbringen fast den ganzen Winter im schönen Hügelgelände zwischen Gordola und Cugnasco, dem besten Weinland des Kantons. So reduzieren sich die zur Sommerszeit rund 2000 Köpfe zählenden Thalbewohner während der Wintermonate auf etwa die Hälfte.
Das halbe Nomadenleben der Bewohner mit seinem Aufenthalt von einigen Wochen in der Thalsohle, von vier Monaten auf den Bergwiesen und Alpweiden und von mehreren Wochen ausserhalb des heimatlichen Thales am Gehänge ob Gordola bedeutet eine unglückselige Zersplitterung von Kraft, Zeit und Geld. Da der Schulbesuch im Thal selbst sehr unregelmässig ist, hat man in den Terricciuole zwischen Gordola und Cugnasco Spezialklassen eingerichtet. Weinrebe und Mais werden mit Erfolg noch bis an das W.-Gehänge der Bergflanke von Vogorno angebaut; höher oben gedeihen bloss noch Roggen, Kartoffeln und etwas Hanf.
Die Edelkastanie wächst bis Gerra hinauf in sehr kräftigen Exemplaren und liefert dem durch seine Nüchternheit sich auszeichnenden Verzascheser Bauern ein vortreffliches Nahrungsmittel. Das Wildheu wird von den unzugänglichsten Stellen unter grosser Gefahr zu Thal gebracht. Um die infolge der starken Auswanderung mangelnden Arbeitskräfte zu ersetzen, hat man seit einigen Jahren metallische Kabel zur Beförderung von Holz und Heu zu den Dörfern hinunter angebracht. Solcher Kabel bestehen nicht weniger als 62; deren eines, das ausschliesslich dem Holztransport dient, ist volle 3000 m lang. Mit Hilfe dieser Kabel werden von den schwer zugänglichen Bergwiesen und Rasenbändern alljährlich an die 2000 Meterzentner Heu, d. h. doppelt so viel als ehedem, zu Thal gebracht. Die infolge zunehmender Stallfütterung ihrer natürlichen Düngung entbehrenden Alpweiden verarmen immer mehr. ¶
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Während die Vorfahren die Bergflanken in wirklich unsinniger Weise abgeholzt und ihres Waldkleides beraubt haben, gibt sich die heutige Generation mehr als in irgend einem andern Tessinerthal die lobenswerteste Mühe mit Aufforstung durch Buchen, Tannen, Lärchen, Ahornen etc. So hat man in den letztvergangenen Jahren eine Fläche von 55 ha aufgeforstet, was einen Kostenaufwand von insgesamt Fr. 43600 bedingte Daran trugen bei: der Bund Fr. 21300, der Kanton Tessin Fr. 7100 und die Patriziati (Korporationen) Fr. 15200.
Die einzige industrielle Tätigkeit im Thal ist der Bruch und die Herrichtung von Granit und Gneis. Von Vogorno bis Gerra und
ganz besonders bei Brione
sieht man überall Steinhauer an der Arbeit, von denen Blöcke bis auf 12 m2
Seitenfläche exportiert werden. In Gerra besteht seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine kleine Fischbrutanstalt,
in der jährlich 150000 Forelleneier (Salmo variabilis) ausgebrütet werden. Der Fischreichtum der Verzasca ist an Quantität
wie Qualität erfreulich.
Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts pflegten die meisten Männer aus fast allen Dörfern des Verzascathales als Hausierer zeitweilig nach Italien auszuwandern. Manche führten dabei 7-8 jährige Knaben mit sich, die ihr Brot als Kaminkehrer verdienen mussten. Dann aber machten strenge Gesetzesvorschriften dieser Art Menschenhandel, der den Familien und der Schule zahlreiche Kinder entzog, ein Ende. Die Bevölkerungsziffer ist im letzten Jahrhundert stetig zurückgegangen: 3270 Ew. im Jahr 1830, 2714 im Jahr 1880, 1825 im Jahr 1900. Die Schuld daran trägt die sehr starke Auswanderung nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika, speziell nach Kalifornien, wohin sich die jungen Leute wenden, um wie in der Heimat Weinbau und Viehzucht zu treiben. Mehr als 2000 Ew. des Verzascathales wohnen in San Luis Obispo, in Loleta und in der Umgebung von San Francisco. Aber auch der Ausgewanderten Herz hängt noch treu an der angestammten Heimat, und nicht ungehört verhallt bei ihnen der Ruf nach Unterstützung, wenn es sich um ein ihrem Thal zugute kommendes gemeinnütziges Werk handelt.
Gleich den übrigen Bewohnern von abseits von Handel und Verkehr liegenden Landschaften zeigt sich auch der Verzaschese allem Neuen oder Fremden gegenüber sehr zurückhaltend, ja misstrauisch. Man hält zäh am Alten fest, so dass sich moderner Fortschritt nur sehr langsam seinen Weg bis zu den Ortschaften des Verzascathales hinauf zu bahnen vermag. Die aus Steinblöcken und ohne Mörtel zusammengefügten Häuser haben als Oeffnung fast stets bloss die Türe, selten auch Fenster.
Ein solches Haus umfasst meist nur eine einziges Gemach, das der Familie als Küche, Wohn- und Schlafzimmer zugleich dient. Ueber einem die Feuerstelle darstellenden Loch in der Mitte des Gemaches hängen an eiserner Kette die Kochtöpfe; in Ermangelung eines Kamins zieht der Rauch durch die Türe ab, freilich nicht, ohne vorher an Wänden und Decke eine starke und glänzende Schicht Russ abzulagern. In der einen Ecke befindet sich die anspruchslose Schlafstelle, in der zweiten ein alter Wäscheschrank, in der dritten ein Hühnerkäfig, ein Haufen Holz und einige Ackergerätschaften etc. Wie die Wohnung ist auch die Kleidung noch ziemlich urwüchsig, beginnt aber doch allmählig sich der modernen Mode anzupassen.
Verschwunden sind die Kniehosen der Männer, und auch die Frauentracht wird immer seltener angelegt. Sie bestand der Hauptsache nach in einem kurzen Rock aus im Thal selbst gewobenem groben Wollenstoff, einer unter den Armen gebundenen farbigen Schürze und einem kleinen, vorn offenen Leibchen aus grauer Baumwolle, das das weisse Hemd aus selbstverfertigtem groben Linnen sichtbar liess. Die langen Rohrstrümpfe (ohne Fuss) reichten genau bis zu den Schuhen herab, die aus groben Tuchresten zusammengeflickt waren.
Der Verzaschese ist ein unermüdlicher Arbeiter, guter Viehzüchter und ausgezeichneter Weinbauer, dessen zäher Ausdauer das üppige Rebgelände aus einheimischen Rebsorten (Bondola- und Barberarebe), das sich von Bellinzona bis Locarno erstreckt, seine Erhaltung und seinen Schutz vor parasitären Ansteckungen verdankt.
Bibliographie. Franscini, Stef. Der Kanton Tessin, (Gemälde der Schweiz). St. Gallen und Bern 1835. Lavizzari, Luigi. Escursioni nel cant. Ticino. Lugano 1865. - Hardmeyer, J. Locarno und seine Thäler. (Europ. Wanderbilder. 89-91). - Brusoni. Locarno, i suoi dintorni e le sue valli. Bellinzona 1898.
[G. Mariani.]