Vernunftrecht
(Naturrecht,
philosophisches Recht), der Inbegriff der Rechtsgrundsätze, welche durch Nachdenken als
die der Rechtsidee entsprechenden gefunden werden. Im engern
Sinn faßt man unter Vernunftrecht
oder
Naturrecht auch wohl diejenigen
Rechte
zusammen, welche dem
Menschen als solchem und abgesehen von besondern staatlichen und gesellschaftlichen
Zuständen zukommen und gewissermaßen angeboren sein sollen (s.
Menschenrechte). Den
Gegensatz zu diesem Vernunftrecht
bildet das positive
Recht der einzelnen
Staaten.
Dies allein als der
Ausdruck des staatlichen Gesamtwillens, welchem sich der Einzelwille fügen muß, kann praktische Geltung
beanspruchen, welche dem Vernunftrecht
um des willen versagt werden muß, weil gerade auf dem
rechtsphilosophischen Gebiet die
Ansichten sehr weit auseinander gehen. Auf der andern Seite ist aber die
Rechtsphilosophie,
d. h. die philosophische Untersuchung über
Begriff und
Wesen von
Recht und Rechtsverhältnis, als eine wichtige Grundlage der
Rechtswissenschaft anzusehen, wie sie zugleich einen integrierenden und wichtigen
Bestandteil der
Philosophie
überhaupt bildet.
Denn wie es im allgemeinen die Aufgabe der letztern ist, aus den äußern, wechselnden Erscheinungen und Zuständen des menschlichen Lebens das diesen zu Grunde liegende Gesetz und ihren letzten Grund zu erforschen, so liegt es ihr auch ob, durch Feststellung der Idee des Rechts eine sichere Norm für die Beurteilung der bestehenden angeblichen Rechte und Rechtsordnung zu gewinnen. Auf diese Weise wird zugleich dem Recht eine tiefere Begründung gegeben und die Möglichkeit eröffnet zur Fortentwickelung der bestehenden Gesetzgebung im Geiste der Rechtsidee.
Während das
Altertum die geistvollen Ausführungen eines
Platon und eines
Aristoteles über den letzten
Grund von
Staat und
Recht und über die idealen
Zwecke der
Staats- und Rechtsordnung aufzuweisen hat, ist im
Mittelalter eine völlige
Nichtbeachtung jener philosophischen Grundlage und ein starres Festhalten am
Buchstaben des
Gesetzes vorherrschend. Erst
Hugo
Grotius stellte den
Grundsatz von der Vernunftmäßigkeit desjenigen
Rechts, das aus der Geselligkeit der
Menschennatur entspringt, und die Möglichkeit der
Ableitung einer
Rechtswissenschaft aus der
Natur des
Menschen
(Naturrecht)
auf, weshalb man ihn wohl den
Vater des Vernunftrechts
genannt hat.
Ihm folgten
Pufendorf,
Thomasius,
Locke,
Wolf,
Montesquieu,
Rousseau und
Kant,
Fichte,
[* 2] deren Nachfolger, die sogen. Naturrecht
slehrer
(Rotteck u. a.), die
Philosophie als die ausschließliche Grundlage der
Rechtswissenschaft hinstellten oder
doch das philosophische
Moment in einseitiger
Weise hervorhoben. Dies veranlaßte die
Reaktion der sogen. historischen
Schule,
welche unter
Hugos
Führung mit der philosophischen den
Kampf aufnahm und die
Einseitigkeit der letztern mit einer ähnlichen
auf der rechtshistorischen Grundlage erwiderte, bis besonders durch
Savignys Wirken die gleichmäßige
Bedeutung von
Philosophie und Geschichte für die
Rechtswissenschaft zur
Anerkennung und Würdigung gelangte (s.
Rechtswissenschaft).
Vgl. Trendelenburg, Naturrecht (2. Aufl., Leipz. 1868);
Stahl, Philosophie des Rechts (4. Aufl., Heidelb. 1870);
Ahrens, Naturrecht (6. Aufl., Wien [* 3] 1871, 2 Bde.);
Röder, Grundzüge des Naturrechts (3. Aufl., Leipz. 1883);
Lasson, Rechtsphilosophie (Berl. 1880);
Dahn, Die Vernunft im Recht, Grundlagen der Rechtsphilosophie (das. 1879);
v. Jhering, Der Kampf ums Recht (8. Aufl., Wien 1886);
Derselbe, Der Zweck im Recht (2. Aufl., Leipz. 1884-86, 2 Bde.);
Belime, Philosophie du droit (4. Aufl., ¶
mehr
Par. 1881, 2 Bde);