Titel
Unterstütz
ungswohnsitz,
derjenige Gemeindeverband, welcher im einzelnen
Fall zur öffentlichen Unterstützung
einer
hilfsbedürftigen
Person verpflichtet ist; auch das
Recht einer solchen
Person, von einem Gemeindeverband
(Armenverband) Unterstützung
verlangen zu können. Im
Gegensatz zu dem in
Deutschland
[* 2] früher herrschenden Heimatssystem,
wonach ein Unterstütz
ungsanspruch mit der Gemeindeangehörigkeit (s.
Heimat) verknüpft war, brachte die preußische
Gesetzgebung
diesen Anspruch mit der thatsächlichen Wohnsitznahme in
Verbindung und schuf so einen mit dem
Heimatsrecht
oder der Gemeindeangehörigkeit nicht zusammenfallenden Unterstütz
ungswohnsitz. Während ferner das Heimatssystem
zu einer Beschränkung der
Aufnahme Neuanziehender führte, nahm
Preußen
[* 3] das
System der
Freizügigkeit (s. d.) an, welch letzteres
dann in die
Verfassung und
Gesetzgebung des Norddeutschen
Bundes und sodann des
Deutschen
Reichs übergegangen ist.
Auch das
Recht des Unterstützungswohnsitzes
wurde durch
Gesetz vom für den Norddeutschen
Bund
eingeführt. Dies
Gesetz ist dann auf
Baden,
[* 4]
Südhessen und
Württemberg,
[* 5] aber nicht auf
Bayern
[* 6] und
Elsaß Lothringen ausgedehnt
worden. Nach dem
Gesetz vom wird die öffentliche Unterstützung durch die
Ortsarmenverbände und die
Landarmenverbände
gewährt, und zwar können die
Ortsarmenverbände aus einer oder mehreren
Gemeinden oder Gutsbezirken zusammengesetzt
sein, während die
Landarmenverbände entweder mit dem Staatsgebiet des betreffenden
Bundesstaats (Kleinstaats), welcher die
Funktionen des
Landarmenverbandes selbst übernimmt, zusammenfallen, oder besonders konstituiert und dann in der
Regel aus mehreren
Ortsarmenverbänden zusammengesetzt sind. In
Preußen bildet der Provinzialverband in der
Regel auch den
Landarmenverband.
Die innere Organisation der Orts- und Landarmenverbände, die Art und das Maß der im Fall der Hilfsbedürftigkeit zu gewährenden öffentlichen Unterstützung und die Beschaffung der erforderlichen Mittel werden durch die Landesgesetzgebung geregelt, welche auch darüber Bestimmungen zu treffen hat, in welchen Fällen und in welcher Weise den Ortsarmenverbänden von den Landarmenverbänden oder von andern Stellen eine Beihilfe zu gewähren ist, sowie darüber, ob und inwiefern sich die Landarmenverbände der Ortsarmenverbände als ihrer Organe behufs der öffentlichen Unterstützung Hilfsbedürftiger bedienen dürfen.
Die Ausführungsgesetze der Einzelstaaten sind vielfach dem preußischen Ausführungsgesetz vom nachgebildet (vgl. sächsische Gesetze vom und württembergisches Gesetz vom badisches vom hessisches vom etc.). Was die Unterstützung selbst anbelangt, so wird nach dem preußischen Ausführungsgesetz dem Hilfsbedürftigen Obdach, der unentbehrliche Lebensunterhalt, die erforderliche Pflege in Krankheitsfällen und im Fall des Ablebens ein angemessenes Begräbnis gewährt.
Das Unterstützungswohnsitz
gesetz unterscheidet ferner 1) zwischen der sich vorläufig und momentan nötig machenden
und 2) zwischen der dauernden und endgültigen Unterstützung. Zu ersterer ist derjenige Ortsverband verpflichtet,
in dessen
Bezirk sich der hilfsbedürftige Deutsche
[* 7] bei dem
Eintritt der Hilfsbedürftigkeit befindet, vorbehaltlich des
Anspruchs auf Erstattung der
Kosten und der Übernahme des Hilfsbedürftigen gegen den hierzu verpflichteten Armenverband.
Hierzu ist, wenn der Hilfsbedürftige einen Unterstützungswohnsitz
hat, der Ortsarmenverband dieses Unterstützungswohnsitzes,
außerdem aber, wenn kein Unterstützungswohnsitz
begründet ist, derjenige
Landarmenverband verpflichtet, in dessen
Bezirk sich jener bei
Eintritt
der Hilfsbedürftigkeit befand, oder, falls er in hilfsbedürftigem Zustand aus einer
Straf-, Kranken-,
Bewahr- oder Heilanstalt entlassen wurde, derjenige
Landarmenverband, aus welchem seine Einlieferung in die Anstalt erfolgte.
Der Unterstützungswohnsitz
wird begründet 1) durch Aufenthalt, 2) durch Verehelichung, 3) durch
Abstammung. Durch Aufenthalt erwirbt derjenige, welcher innerhalb eines Ortsarmenverbandes nach zurückgelegtem 24. Lebensjahr
zwei Jahre lang ununterbrochen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, in demselben den Unterstützungswohnsitz.
Ferner
teilt die Ehefrau vom Zeitpunkt der Eheschließung ab den Unterstützungswohnsitz
des
Mannes; endlich teilen die ehelichen
Kinder den Unterstützungswohnsitz
des
Vaters,
uneheliche den ihrer
Mutter. Verloren wird der Unterstützungswohnsitz
durch den
Erwerb eines anderweiten Unterstützungswohnsitzes
und durch zweijährige
ununterbrochene
Abwesenheit nach zurückgelegtem 24. Lebensjahr.
Wer sich seitdem in den letzten
Jahren
an keinem
Ort zwei Jahre
¶
mehr
lang ununterbrochen aufgehalten hat, fällt im Fall der Unterstützungsbedürftigkeit als landarm dem Landarmenverband seines
Aufenthaltsorts zur Last. Die zweijährige Erwerbs- und Verlustfrist führt freilich nicht selten Ortsarmenverbände dazu, durch
»Abschiebung« von Hilfsbedürftigen vor Ablauf
[* 9] der zwei Jahre den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes
zu verhüten. Der Hilfsbedürftige,
welcher innerhalb eines Ortsarmenverbandes den Unterstützungswohnsitz hat, wird als ortsarm bezeichnet.
Entstehen über die Verpflichtung zur Unterstützung hilfsbedürftiger Personen zwischen verschiedenen Armenverbänden Streitigkeiten, so kommt es, was das Verfahren anbetrifft, darauf an, ob die streitenden Teile einem und demselben Bundesstaat oder verschiedenen Staaten angehören. Im erstern Fall sind die Landesgesetze des betreffenden Staats maßgebend, während für Differenzen zwischen den Armenverbänden verschiedener Staaten in dem Gesetz vom besondere Vorschriften gegeben sind.
Auch in diesem Fall wird nämlich zunächst von den nach Maßgabe der Landesgesetzgebung kompetenten Behörden, in Preußen von den Verwaltungsgerichten, in andern Staaten von den hierzu besonders eingesetzten Deputationen oder von den sonst zuständigen Verwaltungsbehörden, verhandelt und entschieden. Diese Behörden können Untersuchungen an Ort und Stelle veranlassen, Zeugen und Sachverständige laden und eidlich vernehmen und überhaupt den angetretenen Beweis in vollem Umfang erheben.
Gegen die durch schriftlichen, mit Gründen zu versehenden Beschluß zu gebende Entscheidung findet Berufung an das Bundesamt für das Heimatswesen statt. Letzteres ist eine ständige und kollegiale Behörde mit dem Sitz in Berlin, [* 10] bestehend aus einem Vorsitzenden und mindestens vier Mitgliedern, welche auf Vorschlag des Bundesrats vom Kaiser auf Lebenszeit ernannt werden. Zu der Beschlußfassung sind mindestens drei Mitglieder zuzuziehen. Die Berufung ist binnen einer Präklusivfrist von 14 Tagen, von der Behändigung der angefochtenen Entscheidung an gerechnet, bei derjenigen Behörde, gegen deren Entscheidung sie gerichtet ist, schriftlich anzumelden.
Der Gegenpartei steht das Recht zu einer binnen vier Wochen nach der Behändigung einzureichenden schriftlichen Gegenausführung zu. Die Entscheidung des Bundesamtes erfolgt gebührenfrei in öffentlicher Sitzung nach erfolgter Ladung und Anhörung der Parteien; gegen die Entscheidung ist ein weiteres Rechtsmittel nicht zulässig. Das Bundesamt ist aber von verschiedenen Staaten und namentlich von Preußen auch für die im eignen Gebiet vorkommenden Streitsachen als letzte Instanz anerkannt. In Bayern gilt noch das partikulare Heimatsrecht (s. Heimat, S. 302). In Süddeutschland ist vielfach der Wunsch nach Rückkehr zu dem frühern Heimatssystem laut geworden.
Vgl. Eger, [* 11] Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz vom (2. Aufl., Bresl. 1884);
Arnold, Die Freizügigkeit und der Unterstützungswohnsitz (Berl. 1872);
Rocholl, System des deutschen Armenpflegerechts (das. 1873);
Wohlers, Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz (4. Aufl., das. 1887).
Die Entscheidungen des Bundesamtes für das Heimatswesen werden gesammelt und herausgegeben von Wohlers (Berl. 1873 ff.).