Titel
Unfallvers
icherung,
die Versicherung gegen die nachteiligen Folgen von Unfällen, die den Körper eines Menschen betreffen, vor allem gegen den gänzlichen oder teilweisen Verlust der Erwerbsfähigkeit oder den Tod. Sie erscheint in zwei Arten:
Geschichtskarten von D

* 2
Deutschland.
1) als private, wenn eine Privatversicherungsanstalt die gegen eine nach dem
Grade der Gefahr bemessene Prämienzahlung übernimmt;
sie ist regelmäßig gleichzeitig
Kranken-, Invaliditäts- und
Lebensversicherung. Erst seit Anfang der 70er Jahre ist sie
ein selbständiger Zweig des privaten Versicherungswesens, zuerst als
Reiseunfallversicherung, die jetzt
sehr gebräuchlich ist und namentlich durch
Aufstellung von
Automaten mit Versicherungsbillets auf
Bahnhöfen und auch unmittelbar
durch
Ausgabe von mit verbundenen Fahrkarten geschieht, jetzt auch als allgemeine jedoch schließen die Versicherungsbedingungen
eine Reihe von
Unfällen aus. In
Deutschland
[* 2] bestehen einige zwanzig private
Unfallversicherungsanstalten,
die aber fast alle noch andere Versicherungen pflegen. Da sie über ihr Unfallvers
icherungsgeschäft nur teilweise gesonderte
Rechnung legen, ist die
Statistik unvollständig.
2) als öffentliche, d. h. im öffentlichen (socialpolitischen) Interesse eingeführte
Unfallfürsorge. Eine solche besteht nach dem Vorgang
Deutschlands
[* 3] insbesondere für
Arbeiter, nachdem sich die privatrechtlichen
Haftpflichtgesetze in dieser
Richtung als unzureichend erwiesen (Arbeiterunfallvers
icherung).
I. Deutschland. Zwar bedeutete das Haftpflichtgesetz (s. d.) von 1871 einen Fortschritt gegenüber dem bis dahin ausschließlich geltenden engherzigen Gemeinen Recht. Allein es trug eher zu einer Verschärfung als zur Versöhnung der Gegensätze bei. Einmal ließ es gerade Unfälle, bei denen eine Verschuldung des Unternehmers und seiner Beamten nicht nachgewiesen werden konnte oder überhaupt nicht vorhanden war, unberücksichtigt. Es nötigte ferner in der Regel den armen, schneller Hilfe bedürfenden Verletzten oder dessen Hinterlassene erst zu langwieriger Prozeßführung, und blieb in der Wirkung immer unsicher, mochte nun der Geschädigte eine Rente erstritten haben, deren Fortdauer von der dauernden Zahlungsfähigkeit des Unternehmers abhing, oder mochte er sich mit Zahlung eines kleinen Kapitale zufrieden gegeben haben, das in unerfahrenen Händen schnell genug aufgebraucht zu werden pflegte.
Aus diesen
Gründen setzt die neue Unfallversicherung
sgesetzgebung an
Stelle des civilrechtlichen Schadensersatzanspruchs die
öffentlich-rechtliche Fürsorge, sorgt sicher, schnell und dauernd, bezieht sich gleichmäßig auf alle
Betriebsunfälle, mögen
sie der Schuld des
Unternehmers und dessen
Beamten, dem Zufall oder gar der Fahrlässigkeit des Verletzten
zuzurechnen sein, und begreift
die Kosten des Heilverfahrens oder der
Beerdigung in sich. Die Grundregeln der gegenwärtigen
Arbeiterunfallversicherung
sind in dem (industriellen) Unfallversicherungsgesetz vom niedergelegt (seit in
Kraft).
[* 4] An dieses schlossen sich das
Ausdehnungsgesetz vom (seit in Kraft), welches die auf das Transportgewerbe,
Heer, Marine und die öffentlichen Verkehrsanstalten ausdehnte, das
land- und forstwirtschaftliche Unfallversicherung
sgesetz
vom das Bauunfallversicherung
sgesetz vom und das Seeunfallversicherung
sgesetz vom (beide
seit in Kraft).
Hiernach unterliegen gegenwärtig dem Unfallversicherung
szwange:
1) die industriellen Betriebe (als: Bergwerke, Steinbrüche, Gräbereien, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Hüttenwerke, Werften, Bauhöfe, Fabriken, Motorenbetriebe) samt ihren Nebenbetrieben, ferner die Gewerbe der Schornsteinfeger, Maurer, Zimmerer, Dachdecker, Weinbauer und Brunnenarbeiter;
2) der Betrieb der Post, Telegraphen-, Eisenbahn-, Marine- und Heeresverwaltungen, der Baggereibetrieb, die gewerbsmäßigen Transportbetriebe (Fuhrwerks-, Binnenschiffahrts-, Flößereibetrieb u. s. w.), der Speditions-, Speicherei- und Kellereibetrieb und die Hilfsgewerbe bei Handel und Schiffahrt;
3) die Land- und Forstwirtschaft, einschließlich der Kunst- und Handelsgärtnerei und der nicht unter 1 fallenden Nebenbetriebe;
4) alle Baubetriebe, insbesondere die Tiefbaubetriebe (gewerbsmäßige Ausführung von Eisenbahn-, Wege-, Wasser-, Strom-, Kanal-, Deichbauten u. s. w.) und die sog. Regiebauten;
Ausdehnung (der festen

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Ausdehnung.5) die großen Seetransportbetriebe. Ein die Ausdehnung [* 5] der auf Handwerk, Handel, Hausindustrie und Kleingewerbe betreffender Gesetzentwurf lag dem Reichstage 1894 vor; auch ein die Ausdehnung hauptsächlich auf den mit einem Handelsgewerbe verbundenen Lager- und Fuhrwerksbetrieb, auf Seefischerei und kleine Seeschiffahrt, aber nicht Handwerk beabsichtigender, dem Reichstage 1896/97 vorgelegter blieb unerledigt. Zweifel über die Versicherungspflicht entscheidet das Reichsversicherungsamt (s. d.).
Die erstreckt sich auf die Arbeiter ohne Rücksicht auf die Höhe ihres Lohnes, ferner auf die niedern Betriebsbeamten mit einem Jahresverdienst bis zu 2000 M.; sie kann statutarisch auch auf höher gelohnte Betriebsbeamte, sogar auf Betriebsunternehmer ausgedehnt werden, auch steht diesen in gewissen Grenzen [* 6] das Recht zu, sich selbst zu versichern.
Die öffentliche beruht auf dem Princip des Versicherungszwanges. Die in einem unfallversicherung
spflichtigen Betriebe beschäftigten
Personen sind mit Eintritt in die Beschäftigung und während deren
Dauer ununterbrochen versichert, ohne
ihr
Wissen und Zuthun, sind jedoch nicht Mitglieder der für die Zwecke der Versicherung gebildeten Körperschaften und tragen
unmittelbar zu deren Kosten nichts bei.
Unfallversicherungsans

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Seite 66.68.Die regelmäßigen Träger [* 7] der Versicherung sind die Berufsgenossenschaften (s. d.), während in letzter Linie dem Reiche die Vertretung etwaiger, von den Berufsgenossenschaften nicht zu erfüllender Ansprüche obliegt. Für Reichs-, Staats- und Kommunalbetriebe ist die zum Teil unmittelbar dem Reiche, den Bundesstaaten und Gemeinden und Gemeindeverbänden übertragen und erfolgt, ohne Vermittelung von Berufsgenossenschaften, durch Ausführungsbehörden. ¶
mehr
Auf die ersten 13 Wochen vom Tage des Betriebsunfalls an gewährt die Berufsgenossenschaft nichts. Es besteht also zu ihren Gunsten eine 13wöchige Karenz- oder Wartezeit (s. d.), innerhalb welcher die ausschließliche Fürsorge den Krankenkassen obliegt. Auch nach Ablauf [* 9] dieser Frist bis zur Beendigung des Heilverfahrens können die Kassen veranlaßt werden, die Kur und Pflege auf Kosten der beteiligten Berufsgenossenschaft fortzuführen. Andererseits sind die Berufsgenossenschaften befugt, auch schon vorher das Heilverfahren zu übernehmen.
Personen, welche zwar unfalls-, aber nicht krankenversicherungspflichtig sind (z. B. vorübergehend Beschäftigte), haben dem Betriebsunternehmer gegenüber für die ersten 18 Wochen Anspruch auf die Leistungen der Gemeindekrankenversicherung des Beschäftigungsortes. Außerdem ist bei allen Betriebsunfällen das Krankengeld des Verletzten von Beginn der 5. Woche von 50 Proz. des zu Grunde liegenden Lohnes auf 66⅔ Proz. zu erhöhen, die Differenz fällt dem Unternehmer zur Last. Das Sterbegeld beträgt das Zwanzigfache des Tagesverdienstes im letzten Beschäftigungsjahre, die Rente wird nach Prozenten des Jahresarbeitsverdienstes berechnet.
Die Kosten der werden von den Betriebsunternehmern getragen und innerhalb einer jeden Berufsgenossenschaft alljährlich durch das Umlageverfahren (s. d.) erhoben. Die Gesamtbedürfnisse einer Genossenschaft setzen sich zusammen aus den jährlich zu zahlenden Heilkosten, Renten und Sterbegeldern, aus den Spesen der Verwaltung und aus einem zur Bildung des Reservefonds zurückzulegenden Betrag, der sich bis zum 11. Jahr allmählich vermindert und dann gänzlich wegfällt.
Sie werden den Genossenschaftsmitgliedern nach Maßgabe der Zahl ihrer Arbeiter, der Höhe der gezahlten Löhne und der Gefahrenklassen, denen die Arbeiter zugeteilt sind, anteilig berechnet und postnumerando erhoben. Nur bei der Tiefbau-Berufsgenossenschaft ist statt dessen das Kapitaldeckungsverfahren (s. d.) und bei den «Versicherungsanstalten» der Baugewerks -Berufsgenossenschaften das Prämienreserveverfahren (s. d.) eingeführt.
Die Postverwaltungen haben alle Bezüge an die Verunglückten oder deren Hinterlassenen vorschußweise und zwar zinsfrei zu zahlen. In dieser zinsfreien Vorschußleistung so beträchtlicher Summen und in der kostenlosen Besorgung dieses Geschäfts besteht die Teilnahme des Reichs an den Lasten der
Durch diese erheblichen Opfer, welche der einzelne Betriebsunternehmer der zu bringen hat, ist er bei ordnungsmäßiger Verwaltung seines Betriebes gegen Ansprüche seiner Arbeiter aus Betriebsunfällen gedeckt. Das Haftpflichtgesetz ist jedoch nicht völlig durch die neue Gesetzgebung beseitigt. (S. Haftpflichtsgesetze.) Außerdem besteht es für alle Dritten, nicht zu den Arbeitern des betreffenden Betriebes gehörenden Personen, für alle nicht versicherungspflichtigen Betriebsbeamten u. s. w. fort.
Die Mitwirkung der Arbeiter bei der Verwaltung der ist, ihrer finanziellen Beteiligung entsprechend, gering; sie nehmen an den polizeilichen Unfalluntersuchungen, an den Verhandlungen über den Erlaß von Unfallverhütungsvorschriften (s. d.) sowie an den Schiedsgerichten und dem Reichsversicherungsamt (s. d.) teil und zwar durch Vertreter, die für die landwirtschaftliche Behördlich ernannt, im übrigen durch die Krankenkassenvorstände gewählt werden.
Im J. 1896 waren bei 112 Berufsgenossenschaften und 400 Ausführungsbehörden über 18 Mill. Personen versichert; neue entschädigungsberechtigte Unfälle traten 86 520 ein. Die Gesamtentschädigungen (also auch für Unfälle früherer Jahre) betrugen 1896 etwa 57,3 Mill. M. (gegen 44,9 im J. 1895, 1,9 im J. 1886). Die Zahl der Empfänger (Verletzte und Hinterbliebene) betrug 452 953.
Oesterreich ob der Enn

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Österreich. II. Ausland. Nur in Österreich
[* 10] und Norwegen
[* 11] (Gesetz vom in Kraft seit besteht bis jetzt eine Arbeiterunfallversicherung
nach deutschem Muster. Das österreichische Unfallversicherung
sgesetz vom im ganzen dem deutschen nachgebildet,
umfaßt hauptsächlich die Großindustrie, das Ausdehnungsgesetz vom fügte hauptsächlich Transport- und Transporthilfsgewerbe,
aber auch Berufsfeuerwehren u. s. w. hinzu. Träger der sind territoriale, auf Gegenseitigkeit beruhende Versicherungsanstalten
unter staatlicher Aufsicht.
Schweiz

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Schweiz.
Daneben sind Berufsgenossenschaften und Privatinstitute zugelassen. Die Feststellung der Renten erfolgt
endgültig durch Schiedsgerichte ohne centrale Oberinstanz, die Auszahlung durch Postsparkassen (s. d.).
Kapitalabfindung ist zulässig. Die Kosten werden nach dem Kapitaldeckungsverfahren zu 90 Proz.
von den Unternehmern und zu 10 Proz. von den Arbeitern aufgebracht. Sämtliche Betriebe sind nach Prozentsätzen in 12 Gefahrenklassen
geteilt; die Einreihung in diese Klassen geschieht durch die Regierung, die zu zahlenden Prozentsätze
stellen die Versicherungsanstalten fest. - Ein finländisches Gesetz vom 5. Dec. 1895 verpflichtet die Arbeitgeber, ihre Arbeiter
gegen Betriebsunfälle entweder bei einer staatlichen oder einer in- oder ausländischen Anstalt zu versichern. Am nächsten
der Verwirklichung einer Arbeiterunfallversicherung
stehen dann die Schweiz
[* 12] (eine staatliche Versicherungsanstalt,
deren untere Ausführungsorgane die örtlichen Krankenkassen sein sollen), Holland und Italien.
[* 13] In Frankreich wird die Frage
schon seit 16 Jahren behandelt. Spanien
[* 14] (1895), England (1896) und Rußland streben nur nach Erweiterung des privaten Haftpflichtrechts.
S. auch Arbeiterversicherung, Berufsgenossenschaft, Reichsversicherungsamt.
Litteratur. Kommentare zu den deutschen Unfallversicherung
sgesetzen von Freund, Fuld, Gräf, Landmann,
Mugdan, Rasp, von Rohr, Rumpelt, Trutzer, von Woedtke, Zeller u. a. m. Systematische Bearbeitungen: Piloty, Das Reichs-Unfallversicherungsrecht
(3 Bde., Würzb. und Dresd. 1890-93);
Handbuch der (hg. vom Reichsversicherungsamt, 2. Aufl., Lpz. 1897);
Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes (Berlin [* 15] 1885 fg.);
Die Arbeiterversorgung (ebd. 1884 fg.);
Die Berufsgenossenschaft (ebd. 1886 fg.);
Riesenfeld, Das besondere Haftpflichtrecht (ebd. 1894);
Weyl, Lehrbuch des Reichsversicherungsrechts (Lpz. 1894);
Menzel, Die Arbeiterversicherung nach österr.
Recht (ebd. 1893);
Kaan, Erkenntnisse und Bescheide der Unfallschiedsgerichte (Wien [* 16] 1895);
Artikel im «Österr. Staatswörterbuch», Bd. 2 (ebd. 1896);
Bödiker, Die Unfallgesetzgebung der europ. Staaten (Lpz. 1884);
ders., Die Arbeiterversicherung in den europ. Staaten (ebd. 1895).