Titel
Turkmenen
(Turkomanen, Türkmen, vom Eigennamen Türk und dem Suffix men, »schaft«, also »Türkenschaft«),
der Gesamtname für mehrere zum türkischen
Zweig der
Altaier gehörige Volksstämme, deren Wohnplätze
und Ernährungsquellen sich in dem anbaufähigen Land finden, das einem
Ringe gleich die in dem
Raum zwischen dem
Kaspischen
Meer und dem
Amu Darja gelegene ungeheure Sandwüste
Karakum umschließt. Die Turkmenen
zerfallen in verschiedene
Stämme,
Zweige,
Geschlechter
und
Familien, die nicht selten sich feindlich gegenüberstehen; ihre Rasseneinheit haben sie aber dennoch
treu bewahrt.
Ursprünglich waren wohl alle Turkmenen
Nomaden; doch haben die Beschränkung ihres Weideterrains sowie ihre Einengung durch die
sie umgebenden
Staaten, besonders Rußland, einen Teil derselben zu Ackerbauern gemacht. Oft nomadisiert der eine Teil der
Glieder
[* 2] einer
Familie, während der andre
Ackerbau treibt und ansässig ist. Die
Nomaden heißen Tschorwa,
die Angesessenen Tschomur. Verliert ein Tschorwa seine
Kamele
[* 3] und
Schafe,
[* 4] so wird er Tschomur, während auch umgekehrt ein
Tschomur wieder zu einem Tschorwa werden kann. Die einzelnen
Stämme sind:
1) Die Jomuden, deren einer Hauptzweig, die Kara Tschuka, zwischen den Flüssen Atrek und Gurgen, der andre, Bairam-Schali (20,000 Kibitken), ganz in Chiwa lebt. Die Kara Tschuka zerfallen in die 8000 Kibitken zählenden Dschafarbai mit 2 Untergeschlechtern und 10 Familien und die Atabai (7000 Kibitken) mit 7 Untergeschlechtern. Erstere gelten für russische, letztere für persische Unterthanen. Von beiden zusammen gehören etwa 6000 Kibitken zu den Tschomur, welche neben Ackerbau noch Fischerei [* 5] treiben.
2) Die Ogurdschalen wohnen in der Stärke [* 6] von 800 Familien an der Küste des Kaspischen Meers und auf der Insel Tschaleken, wo sie sich mit der Fischerei und der Gewinnung von Naphtha und Salz [* 7] beschäftigen, und in 50 Kibitken auf der Insel Ogurtschinskij, wo nur Fischerei getrieben wird.
3) Die Schichzen auf der Landzunge Bekowitsch und zwischen den Buchten von Krassnowodsk und Kara Bugas fischen und gewinnen Salz.
4) Turkmenen
verschiedener
Stämme, besonders Igdyr, leben auf der
Halbinsel Mangyschlak vom
Kara
Bugas bis zum
Kap Tjub Kargan, etwa 1000 Kibitken
stark. Während der
Ackerbau der kaspischen Tschomur sich hauptsächlich am
Atrek und Gurgen konzentriert
und hier die
Ernten in guten
Jahren oft das 20., ja das 30.
Korn geben, ist das Dorf Hassan
Kuli der
Mittelpunkt der
Fischerei.
Salz wird aus
Seen, Salzmooren und Steinsalzlagern gewonnen, jedoch nicht in bedeutendem
Maß;
Persien
[* 8] und
auch
Transkaukasien bilden das Absatzgebiet. Die Naphthaproduktion gewinnt immer bedeutendern
Umfang, seitdem es den Einwohnern
gestattet ist, ihre
Anteile an den Naphthabrunnen
Industriellen in
Pacht zu geben.
5) Goklanen, persische Unterthanen, nomadisieren östlich von den Jomuden zwischen Atrek und Gurgen in der Stärke von etwa 4000 Kibitken, während etwa 2000 in den Grenzstrichen von Chiwa leben; sie teilen sich in 6 Zweige: die Gaï mit 25, Bajandyr mit 6, Kyryk ¶
mehr
mit 8, Ai-Derwisch mit 7, Tschakyr Beg Deli mit 10 und die Jangak Sagri mit 7 Familien.
6) Die Tschoudoren leben in etwa 12,000 Kibitken in den Grenzstrichen Chiwas.
7) Dem linken Ufer des Amu Darja weiter aufwärts folgend, leben die Sakar, 3000 Kibitken, 20 km oberhalb der bocharischen Stadt Tschardschui, und
8) die 30,000 Kibitken zählenden Erssary mit 4 Geschlechtern; sie sind mehr oder weniger von Bochara abhängig und erstrecken sich bis Afghanistan. [* 10]
9) Die Teke, der mächtigste, tapferste und zahlreichste Stamm, haben die Achal-Oase und Merw-Oase inne. Die Achal-Teke zählen etwa 30,000, die Merw-Teke etwa 50,000 Kibitken; der ganze Stamm zerfällt in die Tochlamysch mit den beiden Zweigen Beg (5 Geschlechter, 11 Familien) und Wekil (2 Geschlechter, 12 Familien) und die Otamysch mit den Zweigen Sytschmes (6 Geschlechter) und Bachschi (5 Geschlechter). Die Merw-Teke scheinen sich in der Mitte der 30er Jahre von den Achal-Teke abgelöst zu haben und sind weiter ostwärts gezogen, wo es ihnen in blutigen Kriegen gegen Persien gelang, des ganzen Merwgebiets sich zu bemächtigen. Die Achal-Teke wurden 1881 von den Russen unterworfen, die Merw-Teke unterwarfen sich 1883 freiwillig;
ihre Gebiete wurden dem transkaspischen Bezirk einverleibt.
10) Die Saryk bewohnen die südöstlich von Merw am Murghab gelegenen Landschaften Juletan und Pandsh-Dech; 12,000 Kibitken in 5 Geschlechtern mit 16 Familien; sie treiben Garten- und Ackerbau und leben mit den Merw-Teke in Feindschaft.
11) Die Salyr, 3000 Kibitken, hatten sich in der persischen Landschaft Sur-Abad niedergelassen, verlegten dann ihren Wohnsitz
nach Alt-Sarachs am Heri-Rud, wurden hier aber von den Merw-Teke überfallen, mit ihrer ganzen Habe fortgeschleppt
und diesen einverleibt. Im ganzen beziffert sich somit die Stärke aller Turkmenen
auf 900,000-950,000, auch wohl 1 Mill. Köpfe.
Alle Turkmenen
betrachten den Raub als eine vollständig gestattete Erwerbsquelle; sie leben deshalb in fast steter Feindschaft untereinander,
sind aber besonders eine entsetzliche Geißel für die benachbarten Völkerschaften, zumal wenn sie als
Sunniten den Schiiten gegenüberstehen. Nachdem aber Rußland bis in das Herz Turkmeniens vorgedrungen ist, wird diesen Räubereien
wohl bald ein Ziel gesetzt werden, zumal wenn Persien in seinen Nordprovinzen einen größern Widerstand leistet, als dies jetzt
der Fall ist.
Das einzige, was die Turkmenen
achten, ist die Macht der Stärke und das Adat, das uralte Gewohnheitsrecht. Die
Stämme wählen wohl aus ihrer Mitte Chane; doch haben diese keinerlei Gewalt, wenn sie auch durch persönliche Vorzüge zuweilen
bedeutenden Einfluß ausüben. Die Mollas sind wenig geachtet, wie überhaupt die Turkmenen
sich leicht über
die Lehren
[* 11] des Korans hinwegsetzen. Je mehr aber die seßhafte Lebensweise Platz greift, desto mehr werden die Turkmenen
auch
einer gesellschaftlichen Ordnung zugänglich werden.
Die den Frauen zugestandene geachtete Stellung, die Liebe zu den Kindern, das Halten des gegebenen Wortes und stete Gastfreiheit sind als Charaktereigenschaften hervorzuheben. Dabei sind sie äußerst mäßig. Ein magerer, zäher Körper, fast bronzefarbige Gesichter mit kleinen, tief liegenden Augen, schwarze Haare, [* 12] ungewöhnlich weiße Zähne, [* 13] lange Bärte kennzeichnen das Äußere. Das nationale Kostüm [* 14] besteht aus einem weiten, langen Gewand, je nach dem Stand von Seide [* 15] oder einem andern Stoff, und hohen Lammfellmützen, welche die Frauen durch einen um den Kopf gewundenen Shawl ersetzen.
Letztere lieben und tragen viel Schmuck und verhüllen sich nicht. Zur Wohnung dient die Filzjurte, in welcher die Frauen frei schalten. Gewöhnlich hat der Turkmene zwei Frauen, für welche er einen gewissen Kaufpreis zu zahlen hat. Die Ehe kann aber willkürlich gelöst werden. Ackerbau, Gartenbau, Fischerei, Viehzucht [* 16] sind je nach den Wohnplätzen die Hauptbeschäftigungen. Die Jagd wird nicht sehr kultiviert. Die Industrie beschränkt sich auf Anfertigung von Reitzeug, Kamelhaartuch, Ackergerätschaften etc.; die Fischerboote, in Hassan Kuli gefertigt, und die Teppiche der Teke haben einen großen Ruf.
Vorläufig ist von Handel noch keine Rede, daß aber die Transkaspische Eisenbahn in dieser Beziehung einen Umschwung hervorbringen wird, dürfte kaum bezweifelt werden.
Vgl. »Petermanns Mitteilungen«, Bd. 26 (1880);
v. Hellwald, Zentralasien [* 17] (Leipz. 1880);
Wenjukow, Die russisch-asiatischen Grenzlande (deutsch, das. 1874);
Vambéry, The Turkomans between the Caspian and Merw (im »Journal of the Anthropological Institute etc.«, Februar 1880);
Weil, La Tourkménie et les Tourkmènes (Par. 1880);
Vambéry, Das Türkenvolk (Leipz. 1885).