Titel
Tscherkessen
(s. Tafel »Asiatische Völker«, [* 3] Fig. 26), eine die westliche Familie der nördlichen Abteilung des kaukasischen Stammes umfassende Völkergruppe in der Westhälfte des Kaukasus und den an sie sowie an ihre Zweige sich anlehnenden Ebenen zwischen dem nördlichen Ufer des Schwarzen Meers von der Meerenge von Kertsch bis zu den Grenzen [* 4] Mingreliens, durch den ganzen Lauf der Flüsse [* 5] Kuban und Malka, einen Teil des nach N. gerichteten Terekstroms und die kaukasische Hauptkette von der grusinischen Militärstraße bis zum Elbrus.
Die Tscherkessen
teilen sich in die
Adighe und die
Asega oder
Abchasen. Die
Adighe (Adyche), von den
Türken Tscherkessen
, von uns danach
Cirkassier
oder nach ihrem Wohnplatz, der
Kabarda, auch
Kabardiner genannt, zerfallen in die Abadschen
(Abadzen) am Nordabhang der Kaukasuskette
in den
Thälern der in den
Kuban fallenden
Flüsse Schaguascha,
Laba, Pschisch, Pszekups, Wuanobat und Sup, die Schapszugen und
die Natkuadsch oder Natuchaizen in den
Gebirgen und
den der
Festung
[* 6]
Anapa angrenzenden
Ebenen, die
Kabardiner zwischen den
Flüssen
Malka und
Terek und von letztern bis zu den Vorbergen des
Kaukasus und zur Sisnischa, die Beszlenei im
Kubanbecken zwischen dem
Fers, dem
Großen und
Kleinen Tegen und dem Woarp, die Mochosch im Gebiet des Tschechuradsh, Belogiak
und
Schede, die Kemgoi und Temirgoi zwischen dem
Kuban und der untern
Laba und Belaja, die Chatiukai zwischen Belaja und Schisch,
die Bsheduchen in den
Ebenen des Pschisch und Pszekups, endlich die Shan oder Shanejewzen auf der Kubaninsel
Karabukan.
Die Asega oder Abchasen grenzen nördlich am Kapoeti an die Adighe, südlich am Enguri an die Mingrelier, westlich ans Schwarze Meer und östlich an die Suanen und die basilianischen Türken. Zu ihnen gehören die Sadzen oder Dschigeten, die Abszne oder Abchasen, die Sambal oder Zebeldiner auf der Südseite des Hauptgebirges im W. der Mingrelier, die Barakin, Bag, Schegerai-Tam, Kisilbek, Baschilbai und Basschog auf der Nordseite der Bergkette im Quellgebiet der Kchoda, Urup, der Kleinen und Großen Laba und des Großen Selentschuk, endlich die Ubychen am Südabhang des Hauptgebirges zwischen den Natuchaizen und den Dschigeten.
Die Zahl sämtlicher Tscherkessen
wurde von
Bergé auf 490,000
Seelen geschätzt, davon 325,000
Adighe und 125,000
Asega; der größte
Teil derselben ist jedoch nach den unglücklichen
Kämpfen gegen Rußland auf türkisches Gebiet übergesiedelt, so daß man 1880 nur
noch 115,449 Tscherkessen
berechnete. Es beziehen sich daher die vorstehenden und folgenden ethnologischen
Bemerkungen nur auf die frühere Zeit. Die Tscherkessen
sind ein sehr schöner und deshalb berühmter Menschenschlag
von reichlich mittlerer
Statur, schlank und kräftig mit edlen, fein geformten Gesichtern und braunen, zuweilen blonden
Haaren.
Früher bekannten sie sich teils zum armenischen, teils zum orthodox-griechischen
Christentum, haben aber
später den
Islam angenommen; doch sind nur die Häuptlinge und Vornehmen als
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mehr
Mohammedaner anzusehen, bei dem Volk haben sich sowohl christliche Gebräuche als zahlreiche Spuren des alten Heidentums erhalten.
Die Richter, die Ältesten des Stammes, urteilen in Ermangelung geschriebener Gesetze, da die Tscherkessen
keine Schriftzeichen besitzen,
nach dem Herkommen. Für den Verurteilten ist der ganze Stamm verantwortlich. Der einzige Fall, in welchem
ein Gericht auf Tod erkennen kann, ist offener oder geheimer Dienst beim Feinde; doch auch da begnügt man sich meist mit einer
hohen Geldstrafe.
Dagegen kostet die Blutrache alljährlich vielen Tscherkessen
das Leben, da dieselbe an dem ganzen Stamm des Beleidigers ausgeübt wird.
Die Sprache
[* 8] der Tscherkessen
, selbständig für sich dastehend, ist kenntlich an vielen Gurgeltönen,
reich, zur Poesie geeignet und zerfällt in einen nördlichen (Abesech) und südlichen (Ubuch) Dialekt (s. Kaukasische Sprachen).
Sie haben Sänger (Kikoakoa), welche in hohem Ansehen stehen.
Vgl. L'Huilier, Russisch-tscherkessisches Wörterbuch und Grammatik (Odessa [* 9] 1846);
Löwe, Circassian dictionary (Lond. 1854).
Seit der Einführung des Korans hat die arabische Sprache sich bedeutend ausgebreitet, und in ihr werden auch die Dokumente ausgestellt. Die Verfassung ist eine feudal-aristokratische; die Bevölkerung [* 10] teilt sich in vier Stände: Pschi (Fürsten), Work oder Elsden (Ritter), Tfokol oder Waguscheh (Freie) und Pschitli (Sklaven). Von den Pschi sollen im Lande der Adighe nur noch vier, aber gliederreiche Familien vorhanden sein; die Work sollen noch einige hundert Höfe besitzen.
Die Pschitli sind die Nachkommen kriegsgefangener Frauen und Kinder sowie solcher Adighe, welche durch Richterspruch zur Sklaverei verurteilt wurden. Sie sind jetzt persönlich frei und haben nur einige Naturalabgaben, Fron- und Kriegsdienste zu leisten. Die Geistlichkeit kann man in zwei Klassen teilen; die erste davon ist die alte christlich-heidnische (Dschiur genannt), welche aber von der mohammedanischen Geistlichkeit mehr und mehr verdrängt wird. Die Männer gehen stets bewaffnet und zwar mit Flinte, Säbel, Pistole und Dolchmesser.
Eigentümlich sind die auf der Brust getragenen orgelpfeifenähnlichen Patronenhülsen. Die Hauptcharakterzüge des Volkes sind: Anhänglichkeit an die Familie, Tapferkeit, Entschlossenheit, Gastfreiheit, Ehrfurcht vor dem Alter und Gemeinsinn, aber auch Leichtsinn, Roheit, Habgier, Neigung zur Dieberei und namentlich Lügenhaftigkeit. Der Hausvater ist auf seinem Gehöft unumschränkter Herr; die Söhne bleiben, solange er lebt, ihm zur Seite; der älteste Sohn wird Erbe des Hofs und des größern Teils der beweglichen Habe.
Das Heiraten geschieht nach freier Wahl, und zwar wird das Mädchen aus dem elterlichen Haus heimlich entführt und erst später nach der Hochzeit der vereinbarte Preis vom Mann bezahlt. Die Stellung der Frauen ist nicht die sklavische wie sonst im Morgenland. Das Mädchen wird früh in weiblichen Handarbeiten, Nähen, Stricken etc., geübt und tummelt sich als Jungfrau mit den Brüdern und Vettern im Gehöft umher, lernt den Bogen [* 11] spannen und das Roß lenken. Diese Selbständigkeit verhindert aber nicht, daß Mädchen von den eignen Eltern verkauft werden, um in türkischen Harems eine mehr oder minder glanzvolle Rolle zu spielen. Vgl. Kaukasien.
[Geschichte.]
Schon im Altertum traten die Tscherkessen
unter dem Namen der Sychen als Seeräuber auf. Im 13. Jahrh. wurden sie von den
georgischen Königen unterworfen und zum Christentum bekehrt, doch errangen sie 1424 ihre Unabhängigkeit wieder. Inzwischen
hatten sie sich über die Ebenen am Asowschen Meer
verbreitet und waren dadurch mit den Tataren in Konflikt
geraten. Die Bedrückungen, welche sich der Chan der Krim
[* 12] gegen die Gebirgsstämme erlaubte, nötigten diese, sich 1555 dem
russischen Zaren Iwan IV. Wasiljewitsch zu unterwerfen, der ihnen hierauf gegen die Tataren Hilfe leistete.
Nach dem Abzug der russischen Truppen überzog Chan Schah Abbas Girai 1570 die Transkubaner mit Krieg, siedelte sie jenseit des Kuban an und zwang sie zur Annahme des Islam. 1600 kehrten sie in ihre alten Wohnsitze zurück; da sie aber von seiten der neuen Ansiedler Hindernisse fanden, zogen sie an den Fluß Bassan und drängten auf die Kabardiner. Daraus entstand ein innerer Krieg, und infolge dessen fand die Teilung des kabardinischen Volkes in die Große und Kleine Kabarda statt.
Erst 1705 befreite ein entscheidender Sieg die Tscherkessen
von harter Bedrückung. Nach dem Frieden von Kütschük Kainardschi wurde 1774 Rußland
Herr der beiden Kabarden. Seit 1802 Georgien eine russische Provinz geworden war, strebte Rußland, dessen
Grenzen bereits bis an den Kuban vorgerückt waren, durch den Besitz des Kaukasus eine Verbindung zwischen jenem Land und Kaukasien
herzustellen. 1807 nahmen die Russen Anapa, mußten es aber infolge des Friedens von Bukarest
[* 13] 1812 wieder räumen.
Die Türken fanatisierten nun die Tscherkessen
immer mehr gegen die Russen, und die Tscherkessen
unternahmen von jetzt an fortwährend
Einfälle ins russische Gebiet. 1824 leisteten sogar mehrere Stämme dem Sultan den Eid der Treue. Im russisch-türkischen Krieg
von 1829 fiel Anapa jedoch abermals in die Hände der Russen, und im Frieden von Adrianopel kamen die türkischen
Besitzungen auf dieser Küste überhaupt an Rußland. Seitdem begann die systematische Unterwerfung der Bergvölker, welche
anfangs angriffsweise ins Werk gesetzt wurde, aber keinen Erfolg hatte.
Man gab endlich die verderblichen Expeditionen in das Innere des Landes auf und beschränkte sich auf die Absperrung des Landes,
reizte aber durch diese defensive Haltung die Unternehmungslust der Bergvölker. 1843 rief Schamil (s. d.),
welcher schon seit 1839 die Tschetschenzen und andre östliche Gebirgsstämme zum Kampf gegen die Russen zu begeistern gewußt,
auch die Tscherkessen
zur Erneuerung der Angriffe auf, so daß seitdem fast alle Bergvölker vereint gegen Rußland im Kampf begriffen
waren.
Nach dem Beginn des russisch-türkischen Kriegs von 1853 setzten Schamil und die übrigen Häuptlinge um so energischer den
Kampf fort, als sie jetzt von den Türken unterstützt wurden. Nach dem Einlaufen der englisch-französischen Flotte ins Schwarze Meer
(Januar 1854) waren die Tscherkessen
namentlich bei der Eroberung und Zerstörung der russischen Küstenforts
[* 14] eifrig
mit thätig. Indes wirkte die Spaltung zwischen den Muriden Schamils und den übrigen Mohammedanern einem einheitlichen Handeln
entgegen, und als 1856 Fürst Barjatinskij den Oberbefehl im Kaukasus übernahm, hatte er auf der lesghischen Seite nur noch
vereinzelte Raubzüge zurückzuweisen.
Die Russen besetzten nach und nach wieder die im Krieg verlassenen festen Punkte und setzten die Ausführung
ihres Unterwerfungsplans gegen die Bergvölker durch Lichten der Wälder nicht ohne Erfolg fort. Anfang Juli 1857 schlug Fürst
Orbeliani II. auf der Hochebene Schalatawia die Hauptmacht Schamils, der am in seinem letzten Schlupfwinkel zur Unterwerfung
gezwungen wurde. Damit war der Kampf in der Hauptsache beendet; er hatte der russischen Armee im ganzen
½ Mill. Menschen gekostet. Die Tscherkessen
wanderten in den nächsten Jahren in großen Scharen nach der
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Türkei [* 16] aus, bis 1864 im ganzen 450,000 Seelen, wo sie in den Grenzprovinzen, namentlich in Bulgarien [* 17] und in Thessalien, angesiedelt wurden, um die mosleminische Bevölkerung zu vermehren, aber durch ihre unruhige Wildheit und Roheit viele Klagen hervorriefen. Auch bei der Bekämpfung des Aufstandes in der Herzegowina 1875 und in Bulgarien 1876 sowie im neuen russisch-türkischen Krieg 1877 thaten sich die tscherkessischen Truppen durch Zügellosigkeit und barbarische Wildheit hervor, während ihre kriegerische Tüchtigkeit sich im geregelten Kampf wenig bewährte.
Die im Kaukasus zurückgebliebenen Tscherkessen
machten 1877 ebenfalls Aufstandsversuche, doch ohne einheitlichen Plan und daher ohne
Erfolg. Als besondere Nation haben die Tscherkessen
aufgehört zu existieren, und ihre Zerstreuung unter fremde Völker
wird sie, die keinen Zusammenhang mehr haben, dem Untergang entgegenführen.
Vgl. Bodenstedt, Die Völker des Kaukasus (2. Aufl., Berl. 1855, 2 Bde.);
Lapinsky, Die Bergvölker des Kaukasus und ihr Freiheitskampf gegen die Russen (Hamb. 1863, 2 Bde.);
Berge, Sagen und Lieder des Tscherkessenvolkes (Leipz. 1866).