oder Trinkerheime, zur
Aufnahme und
Heilung von Gewohnheitstrinkern bestimmte Anstalten. DieTrinkerasyle wollen
dem Trinker Gelegenheit geben, sich in seinen guten
Vorsätzen unter vernünftiger leiblicher und geistiger Diät zu festigen.
Die erste derartige Anstalt besteht seit 1851 in Lintorf bei Duisburg,
[* 3] und zwar neben der Heilanstalt «Siloah»
für gebildete
Stände (monatlich 100 und 150 M. Pflegegeld) ein Männerasyl (Pflegegeld 150 M. jährlich).
Der Ein- und
Austritt ist freigestellt, Haus- und Lebensordnung aber streng geregelt.
Hauptbeschäftigung der Pfleglinge bilden landwirtschaftliche und Gartenarbeit. Ähnliche Anstalten befinden sich in Schönmoor
in
Schleswig-Holstein,
[* 4] in Nieder-Leipe in
Schlesien,
[* 5] in
Klein-Drenzig bei Guben,
[* 6] in
Mühlhausen,
[* 7] in Sophienhof im
Mecklenburgischen,
in Düring bei Geestemünde, in Friedrichshütte bei
Bielefeld
[* 8] und an andern Orten. In
Schlesien besteht
ein
Verein zur Errichtung von Trinkerasyle auf evang. Grundlage. In
Amerika
[* 9] wurde das erste Trinkerasyl (Washingtonian
Home) 1857 in
Boston
[* 10] gegründet und 1869 zur Staatsanstalt erhoben; seitdem wurden fast in allen
Staaten der
Union derartige
Asyle errichtet. Man
schätzt die Zahl der vollkommenenHeilungen in diesen
Asylen auf wenigstens 30 Proz. Auch in England wurden
aus Privatmitteln errichtet. (S.
Alkoholismus.)
der gewohnheitsmäßige Mißbrauch alkoholischer Getränke, welcher zu einer Schädigung
des körperlichen, geistigen und sittlichen Lebens (Alkoholismus) führt. Unmäßiger Alkoholgenuß zerstört alle Gewebe
[* 12] und
Systeme des Körpers und vernichtet die normale Konstitution des Individuums und der Rasse. Am frühsten erkrankt der Verdauungsapparat
bei dem Trunksüchtigen; auf der anfänglich katarrhalisch erkrankten Magenschleimhaut entstehen Geschwürsbildungen, ein
beständiges Gefühl von Druck und Schmerz in der Magengegend, Säurebildung, Appetitlosigkeit, häufiges,
bald täglich wiederkehrendes Erbrechen von zähem Schleim, besonders des Morgens, auch Blutbrechen.
Der Katarrh des Kehlkopfes, kenntlich durch die eigentümlich rauh belegte Stimme, geht auf die innern feinen
Luftröhrenverzweigungen und Lungenbläschen über; Ausweitungs- und Zerstörungsprozesse führen zur Verkleinerung der Lungenoberfläche,
zur Behinderung der Blutzirkulation und des Gasaustausches in den Lungen und erzeugen die bläuliche Gesichtsfarbe und die
Kurzatmigkeit der Trinker. Die gesteigerte Thätigkeit der Nieren nach Aufnahme von alkoholischen Getränken
führt nicht selten zur sogen. BrightschenNiere, zur Nierenschrumpfung, einer Krankheit, die meist zum Tod führt und auch in der
Blutbeschaffenheit der Trinker und in den vielen schädlichen Einwirkungen, Durchnässungen etc.,
denen Trinker ausgesetzt sind, ihre Ursache findet.
Auch der Genitalapparat erleidet bei Trunksucht krankhafte Veränderungen. Sehr mannigfach sind die
Störungen des Nervensystems. Die Anhäufung von Blut in den Hirnhäuten und im Gehirn
[* 13] selbst, der Austritt von Blut (Schlaganfall)
mit der großen Reihe von krankhaften Störungen durch diese Vorgänge, Entzündung der Hirnsubstanz und Schwund, ähnliche Erkrankungen
und Veränderungen im Rückenmark und seinen Häuten sind die Ursachen vieler Erscheinungen: Gefühl von Taubheit,
Kribbeln, Ameisenlaufen, Empfindungslosigkeit, Muskelzittern,
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Krämpfe, Schwäche und Lähmung der Glieder,
[* 15] Störungen der Intelligenz bis zum vollen Wahn- und Blödsinn und zur allgemeinen Paralyse.
Auch das Auge,
[* 16] das Ohr
[* 17] und die Haut
[* 18] werden in ihren Funktionen durch den anhaltenden Mißbrauch der spirituösen Getränke beeinträchtigt.
Das Blut der Trinker wird reicher an Wasser und ärmer an Faserstoff und verändert sich in noch unbekannter
Weise in seiner Beschaffenheit; in den frühen Stadien des Alkoholismus findet eine exzessive Fettbildung statt. In allen Organen
und Geweben tritt eine abnorme Anhäufung von Fett auf, die selbst im Blut sich kenntlich macht. Es ist erwiesen, daß Trinker
viel häufiger erkranken als Nichttrinker, nicht nur an den von der toxischen Einwirkung des chronischen
Alkoholgenusses direkt verursachten krankhaften Veränderungen der einzelnen Organe, sondern daß sie wegen ihrer gesunkenen
Widerstandskraft auch mehr den allgemeinen Krankheitseinflüssen ausgesetzt sind.
Die Trinker verfallen auch allen Krankheiten in einem viel intensivern Grad als Nichttrinker; nicht nur, daß bei
allen entzündlichen Krankheiten, bei allen operativen Eingriffen und Wundverletzungen jene den Säufern eigentümliche Erkrankung
des Gehirns, das Delirium tremens, hinzutritt und den Verlauf der Krankheit sehr erheblich beeinflußt, sondern wegen der schlechten
Blutbeschaffenheit und der geschwächten Lebenskraft nehmen die auftretenden, sonst relativ ungefährlichen Krankheiten einen
bösartigen Charakter an. Die Trunksucht steigert die Sterblichkeit, indem viele Trinker nach Art einer akuten
Vergiftung oder nach einem Alkoholexzeß sterben; viel mehr aber gehen an den geschilderten Folgen der Trunksucht und an Verunglückungen
in der Trunkenheit zu Grunde.
Eine beträchtliche Anzahl von Selbstmorden geschehen in und aus Trunksucht. Die Lebensdauer der Trinker ist in
dem Maß verkürzt, daß, während ein normal Lebender im Alter von 20 Jahren eine Lebensdauer von 44,2 Jahren zu erwarten hat,
ein Trinker in gleichem Alter nur noch auf 15,6 Jahre rechnen darf. Die in der Trunksucht erzeugte Nachkommenschaft
ist schwächlich und kränklich und disponiert besonders zu Idiotie, Konvulsionen, Epilepsie etc. In Gegenden,
wo Trunksucht weit verbreitet ist, zeigt sich die Militärbrauchbarkeit der Jugend herabgemindert. Trunksucht erzeugt Müßiggang und Liederlichkeit
und wird dadurch eine der wirksamsten Ursachen der Einzel- und Massenarmut, zugleich aber auch der Vermehrung der Verbrecher
und der Verbrechen. Mehr als Armut und Unwissenheit ruft Trunksucht die Neigung zum Verbrechen hervor und beschönigt
sie.
In demKampf gegen die Trunksucht sind nur solche Mittel anzuwenden, die, den Anschauungen des Volkes angepaßt, auf Anerkennung und Mitthätigkeit
der Gesellschaft rechnen dürfen. Auch hier sollte man nur das zu erreichen suchen, was zu erreichen möglich ist. Die absolute
Unterdrückung des Genusses alkoholischer Getränke, die von vielen Seiten zum Prinzip erhoben ist, wird
nur in sehr beschränktem Maß zu erreichen sein und nur in einzelnen Ländern ein erstrebenswertes Ziel bleiben.
Der Kampf gegen die Trunksucht ist mit großer Energie von Vereinigungen selbstloser Männer unter verschiedenen Formen und nicht ohne
Verirrungen geführt worden (s. Mäßigkeitsvereine). Die gesetzlichen Maßregeln gegen die Trunksucht haben nicht
immer den beabsichtigten Erfolg gehabt, weil sie aus fiskalischen Gründen nicht immer streng durchgeführt werden, weil sie
leicht zu umgehen sind, und weil es fast unmöglich ist, eingewurzelte Gewohnheiten und Neigungen aus dem Volk durch das Gesetz
mit einemmal zu vertilgen. So hat das
Gesetz, welches den Verkauf aller spirituösen Getränke bei hohen
Strafen absolut verbietet und 1851 im StaatMaine (LiquorMaine law) und später auch in mehreren andern Staaten von Nordamerika
[* 19] eingeführt wurde, in keiner Weise bewirkt, was seiner Rigorosität und den Anstrengungen, es durchzuführen, entspricht.
Als wirksame Angriffspunkte der Gesetzgebung sind die Verminderung der Zahl der kleinen Brennereien, namentlich
der Hausbrennereien, anzusehen, ferner die Einschränkung des Kleinhandels mit Spirituosen, Verminderung der großen Zahl der
Schankstellen durch strenge Prüfung der Bedürfnisfrage und der Moralität des Schenkwirts. (England: Gesetze von 1828 und 1872,
nach denen der Betrieb eines Schankgewerbes nur auf Grund einer alljährlich zu erneuernden Konzession
gestattet ist. Gesetze in Norwegen
[* 20] 1871, in Schweden 1857 und 1869, nach denen in jeder Gemeinde die Zahl der Schenken durch die
Behörde unter Mitwirkung der Gemeindeorgane festgesetzt und die Schenken auf bestimmte Zeit an den Meistbietenden verpachtet
werden; niederländisches Gesetz von 1881, in Kraft
[* 21] getreten 1885; Gesetz für Galizien und die Bukowina von
1877, weitergehende Bestimmungen enthält ein für ganz Österreich
[* 22] geplantes »Gesetz zur Hintanhaltung der Trunkenheit«. Entsprechende
Bestimmungen für Deutschland
[* 23] enthalten die Gewerbeordnung von 1869, die Ergänzungsgesetze vom und vom
dann das Reichsstrafgesetz, § 361. Weiter als letzteres Gesetz gehen die Polizeistrafgesetze einzelner
Bundesstaaten sowie Gesetze in Schweden [1864], England [1872], Frankreich [1873] etc., welche diejenigen mit Strafe bedrohen,
welche in Wirtschaften, auf der Straßeoder an andern öffentlichen Plätzen im Zustand offenbarer oder Ärgernis erregender
Trunkenheit gefunden werden.) Weniger zuverlässig ist die Branntweinsteuer, weil eine zu hohe Besteuerung
die Defraudation geradezu provoziert, während eine zu geringe Steuer den Alkoholkonsum allerdings ganz direkt begünstigt.
Nachahmenswert ist die Maßnahme, die in Schweden, zuerst in Gotenburg (gotenburgisches System), ergriffen ist, um die Zahl
der Schankstellen zu vermindern und die Beförderung des Alkoholkonsums durch die Habgier der Schenkwirte
zu verhüten. Hier hat sich eine Aktiengesellschaft gebildet, um die Schankstellen (s. oben) anzukaufen und ohne jeden Nutzen
für sich den Handel im Sinn der Mäßigkeit zu betreiben. In einzelnen Staaten von Nordamerika wird der Schenkwirt gesetzlich
für alle Folgen der Trunkenheit, zu welcher er verholfen, haftbar, so daß er bei Verunglückungen eines
Trinkers an dessen FamilieSchadenersatz leisten muß und auch mit bestraft werden kann, wenn ein Trinker, dem er die Getränke
verabfolgt, ein Verbrechen begeht.
Von größter Bedeutung sind die Trinkerasyle zur Heilung Trunksüchtiger. In diesen Anstalten, in welchen nicht die unbeugsame
Strenge eines Gefängnisses, aber auch nicht die nachsichtige Zucht einer Krankenanstalt herrschen darf,
sollen alle Personen zwangsweise verwahrt werden, welche durch Trunksucht die Herrschaft über sich verloren haben, die Pflichten gegen
sich und ihre Angehörigen anhaltend vernachlässigen, sich und andern eine Gefahr werden können. In diesen Asylen sollen ferner
diejenigen Personen untergebracht werden, welche in der Trunkenheit eine gesetzwidrige Handlung begangen
haben und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt sind. Das erste Trinkerasyl wurde 1857 in Boston errichtet, bald waren alle Staaten
der Union diesem Beispiel gefolgt, und noch
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jetzt ist die Zahl dieser staatlichen und privaten Asyle im Zunehmen begriffen. Diese Asyle werden teils durch Beiträge von
Privaten, teils auch mit Unterstützung von seiten des Staats oder auch ganz auf Kosten des letztern unterhalten. Das WashingtonianHome in Boston, das älteste Institut dieser Art, das anfangs nur durch Privatwohlthätigkeit erhalten wurde
und sehr bald so ausgezeichnete Erfolge aufweisen konnte, daß der Staat ihm eine jährliche Unterstützung von 5000 Dollar
zuwies, wurde 1869 als eine Staatsanstalt anerkannt. In dieser Anstalt waren 1857-72: 3811 trunksüchtige Personen behandelt
worden, von denen mehr als die Hälfte aus freien Stücken zugegangen und die andern auf richterlichen
Ausspruch zugebracht waren.
Von 400 Kranken, die 1875 hier behandelt waren, gehörten 189 den wohlhabenden Ständen an. Das Prinzip der Behandlung bestand
hier in der vollen Enthaltsamkeit von allen berauschenden Getränken, in der Beseitigung jedes Zwanges, in der Wiederherstellung
der körperlichen Gesundheit und in der Kräftigung des sittlichen Moments. Bis zum sind in dieser
Anstalt ca. 5000 Kranke behandelt worden, und es soll wenigstens ein Drittel vollkommen geheilt, ein Drittel erheblich gebessert
und würde von dem letzten Drittel auch noch ein erheblicher Teil unter andern günstigen Verhältnissen gebessert sein.
Ein Trinkerasyl in Brooklyn (The Inebriate Home for Klug'sCounty, Brooklyn, New York), welches 1866 durch Privatmittel
gegründet wurde, nimmt lediglich Personen auf, die wegen Trunksucht zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Hier ging man von der
sehr richtigen Erfahrung aus, daß solche Personen in den Gefängnissen eher verschlechtert als gebessert würden, und daß
anstatt der bisherigen Bestrafung eine eigne Behandlung der Trinker eintreten müsse. Ein besonderes
Gesetz ermächtigt, daß alle verurteilten Gewohnheitstrinker aus den Grafschaftsgefängnissen in diese Anstalt verbracht
werden, und daß der Richter trunksüchtige Personen bis auf ein Jahr in dieses Institut verbringen lassen könne.
Die Kranken, Männer und Weiber, werden in besondern Werkstätten und beim Landbau zwangsweise beschäftigt.
Über den Wert dieser Einrichtungen ist ein vollgültiges Urteil noch nicht gesprochen. Man macht den amerikanischen Asylen
den Vorwurf, daß sie ihre Insassen, die durchaus nicht immer als Kranke gelten können, mit zu vieler Sentimentalität und
Milde behandeln, so daß diese Leute in ihren Neigungen und in ihren lästerlichen Angewohnheiten eine
gewisse Glorifizierung erblicken, daß nicht überall nach geordneten strengen Grundsätzen verfahren werde, daß in einzelnen
Anstalten die Insassen selbst leicht zu dem Genuß von Spirituosen gelangen können, daß mehrere Anstalten unter der Verwaltung
von Nichtärzten sich befinden, und daß dies im ärgsten Widerspruch mit dem immer proklamierten und
hervorgehobenen Grundsatz steht, daß Trunksucht eine Krankheit sei (intemperance is a disease).
Indessen sind die angeführten Thatsachen durchaus nicht geeignet, den Grundwert dieser Einrichtung, den hohen Nutzen derselben
und ihre Nachahmungswürdigkeit zu diskreditieren. In England haben schon seit vielen Jahren ganz vornehmlich die Irrenärzte
die Zweckmäßigkeit und die unentbehrliche Notwendigkeit solcher Anstalten hervorgehoben und verlangt.
Privatasyle haben hier mehrfach schon seit Jahren existiert, und vielfältig ist hier die Frage erörtert worden, ob nach der
bestehenden Gesetzgebung trunksüchtige Personen in Irrenanstalten aufgenommen werden dürfen.
Aber auch hier war die Ansicht vorherrschend,
daß zur Aufnahme und Behandlung von Gewohnheitstrinkern
ganz besondere Anstalten vorhanden sein müßten, daß ihre Einschließung auf gesetzlichem Wege geregelt und bis auf ein
Jahr ausgedehnt werden müßte. Ein 1880 auf die Dauer von zehn Jahren in Kraft getretenes Gesetz läßt jedoch nur Privatinstitute
zu, und in diese können Personen freiwillig eintreten, wenn sie ihren Willen in einem schriftlichen Antrag
erklärt haben, und wenn dieser Antrag von zwei angesehenen Bürgern, welche vor einem Friedensrichter bezeugen, daß der Antragsteller
ein Gewohnheitstrinker sei, mit unterzeichnet worden.
Diese Asyle dürfen nur auf eine besondere Lizenz hin errichtet werden, und wie die Irrenanstalten werden auch sie alljährlich
von königlichen Beamten inspiziert. Auch in Deutschland hat man Trinkerasyle aus Privatmitteln errichtet.
In sehr wirksamer Weise wird die Trunksucht bekämpft durch Beförderung der Verbreitung derjenigen Getränke, die einen Ersatz für
den Branntwein gewähren: Begünstigung des Konsums von leichtem Wein und besonders von gutem, billigem Bier, von Kaffee und Thee.
In England hat man von philanthropischer Seite große Kaffeehäuser für die arbeitenden Klassen errichtet.