Tradition bezeichnet ferner die der geschriebenen Geschichte entgegengesetzte, nur durch die mündliche
Überlieferung auf die Nachwelt
gelangende
Kunde, insbesondere die jüdischen und christlichen
Satzungen und
Lehren,
[* 2] die nicht in der
Bibel
[* 3] schriftlich fixiert
sind, sich aber durch mündliche
Überlieferung in
Synagoge und
Synedrion (s. d.) oder in der
Kirche erhalten
und fortgepflanzt haben. Die Sicherheit dieser Tradition, deren sich die
römisch-katholische Kirche nicht nur zur Begründung von
Lehren, geschichtlichen
Thatsachen und
Gebräuchen, sondern auch zur
Rechtfertigung der hergebrachten Schriftauslegung bedient,
weshalb eine dogmatische, rituelle, historische und hermeneutische Tradition unterschieden wird,
wurde von den
Reformatoren angefochten, welche höchstens die Tradition der ersten christlichen
Jahrhunderte beachtet, aber auch diese
der
Heiligen Schrift untergeordnet wissen wollten.
Dagegen setzte die
römisch-katholische Kirche auf dem
Konzil von
Trient
[* 4] die Tradition ausdrücklich der
Schrift als ebenbürtig an
die Seite, undGleiches ist auch die Voraussetzung der griechischen
Dogmatik, während die protestantische
Dogmatik der Tradition nur insofern eine prinzipielle Bedeutung beilegen kann, als sie für ihre Aussagen sich
nicht bloß auf die in der
Heiligen Schrift unmittelbar bezeugte Glaubenserfahrung der ersten
Generationen der werdenden
Christenheit
zurückzubeziehen, sondern auch die ganze Glaubenserfahrung der geschichtlich gewordenen
Christenheit
kritisch
in sich aufzunehmen und dabei besonders die grundlegende, symbolbildende
Epoche des
Protestantismus selbst zu berücksichtigen
hat.
Vgl.
Weiß, Zur Geschichte der jüdischen Tradition
(Wien
[* 5] 1871-76);
(lat. traditĭo), Überlieferung, Übergabe (s. d.); in der kath. Kirche die neben der in der Heiligen Schrift
enthaltenen Offenbarung Gottes mündlich in der Kirche fortgepflanzte göttliche Belehrung. Nach dem strengern Begriffe ist
darunter eine wörtlich von Jesu und den Aposteln her teils zur Ergänzung, teils zur Erklärung des Schriftwortes
fortgepflanzte Geheimlehre zu verstehen, die von den Bischöfen in ununterbrochener Succession von Geschlecht zu Geschlecht
überliefert, den Gemeinden aber nur so weit, als das praktische Bedürfnis es erfordert habe, mitgeteilt worden sei.
Daneben her geht aber die Vorstellung, daß der HeiligeGeist nur das rechte Verständnis der göttlichen
Wahrheit in der Kirche ununterbrochen erhalte, so daß alle weitern kirchlichen Festsetzungen in Lehre
[* 7] und Sitte nur immer genauere
Erläuterungen der Lehre Christi seien. Im erstern Falle gäbe es gar keine, im letztern Falle nur eine formelle Entwicklung;
in beiden Fällen aber setzt die Unfehlbarkeit dieser Überlieferung die Unfehlbarkeit der Kirche voraus,
die wieder auf der ununterbrochenen Succession des HeiligenGeistes im bischöfl.
Amte beruht. Seine Ausbildung erhielt der röm. Traditionsbegriff erst durch den Gegensatz
zu dem prot. Schriftprincip. Schon das christl. Altertum kennt die Tradition im Sinne einer mündlichen Weiterpflanzung apostolischer
Lehren und Ordnungen durch das bischöfl. Amt, die in der sog. Glaubensregel (s. d.) zusammengefaßt, nachmals
auch schriftlich verzeichnet und unter Leitung des HeiligenGeistes je nach Bedürfnis näher erläutert worden sei. Daher
führte man schon im 2. Jahrh. auf unmittelbar apostolische Einsetzung zurück, was sicher
erst das Resultat kirchlicher Entwicklung war und nur in seinen ersten Keimen auf die Apostelzeit zurückging.
Aber die immer allgemeiner herrschend gewordene Vorstellung in der Kirche legte das Hauptgewicht nicht auf die apostolische,
sondern auf die kirchliche Tradition oder auf die Übereinstimmung mit der vom HeiligenGeiste geleiteten kirchlichen Vergangenheit,
deren Zeugnisse man aus Konzilienbeschlüssen und Schriften der Väter sorgfältig zusammenstellte. Später
traten noch
¶
Die Unfehlbarkeit der Kirche vertrat sonach den in den meisten Fällen überdies unmöglichen histor. Nachweis apostolischen
Ursprungs. Erst im Streite gegen den Protestantismus versuchte man, die Tradition als mündlich überliefertes Gotteswort der Heiligen Schrift
ebenbürtig zur Seite zu stellen. Indessen hat es niemals gelingen wollen, diese Tradition auf
einen klaren Begriff zu bringen. Der zu Trient gemachte Vorschlag einer vollständigen Kodifikation aller in der Kirche aufbewahrten
Tradition wurde zurückgewiesen, um künftigen kirchlichen Entscheidungen, für die man ebenfalls auf die Tradition sich berufen mußte,
nicht den Weg zu verlegen.
Dafür unterschied die kath. Dogmatik zwischen traditiones divinae, apostolicae
und ecclestiasticae, von denen nur die beiden ersten dem aufgestellten strengern Begriffe entsprechen, schwankte aber bis
auf den heutigen Tag über die Einreihung der kath. Dogmen und Bräuche unter die eine oder andere Kategorie. Auch die Unterscheidung
von traditiones universales und particulares, perpetuae und temporariae war vielfach eine willkürliche.
Gegenüber den unabweisbaren Zeugnissen der Geschichte für den spätern Ursprung vieler der wichtigsten kath.
Lehren und Bräuche ließ die Berufung aus die «kirchliche» Tradition immer einen Ausweg offen,
dessen entschlossene Betretung aber die ganze Traditionstheorie, sofern sie noch neben dem Satze von der Unfehlbarkeit
der Kirche aufgestellt wurde, im Grunde überflüssig macht, namentlich nachdem durch die Proklamierung der Unfehlbarkeit des
Papstes (s. Infallibilität) ohne Konzil die Mittel, die Ansicht der unfehlbaren Kirche zum Ausdruck zu bringen, im hohen Grade
vereinfacht sind.
Schon die kath. Dogmatiker Staudenmaier und Möhler waren dazu zurückgekehrt, den Traditionsbegriff überhaupt
als die stetige Leitung der Kirche durch den göttlichen Geist, also als eine unfehlbar vollkommene Entwicklung des kirchlichen
Bewußtseins, die alle Irrtümer und Mißgriffe ausschließt, zu fassen. Der ältere Protestantismus richtete seine Polemik besonders
gegen den tridentinischen Begriff der Tradition als eines ungeschriebenen Gotteswortes neben der Heiligen Schrift und zeigte
nicht nur die Unwahrscheinlichkeit und Unerweislichkeit einer unversehrten Bewahrung desselben durch die Jahrhunderte, sondern
lieferte auch für zahlreiche angeblich göttliche und apostolische Tradition den Nachweis ihres jüngern Ursprungs,
wogegen er nicht nur die histor.
Zeugnisse der Kirchenväter (traditio historica), namentlich die auf Entstehung und Sammlung der biblischen Bücher bezüglichen,
sondern auch die Schriftauslegungen der Väter (traditio exegetica) und die in den alten Bekenntnissen
und Zeugnissen der Väter niedergelegte dogmatische Überlieferung (traditio dogmatica), letztere freilich auch nur als richtige
Auslegung des echten Schriftsinns in Ehren hielt. Während aber der Katholicismus nach seinem weitern Begriffe von der Tradition die
Heilige Schrift selbst als Bestandteil derselben betrachtete und das Ansehen der Bibel mit Augustinus aus
das Ansehen der Kirche begründete, lehnte der Protestantismus diese Ansicht beharrlich ab, hob die Heilige Schrift als allein
zuverlässige Quelle
[* 9] des «Wortes Gottes» auf den Schild
[* 10] und behauptete, daß sie der Ergänzung und Erläuterung durch die Tradition nicht
bedürftig, noch weniger ihr ein- oder unterzuordnen sei.
In demMaße, als man protestantischerseits anfing, die menschliche Entstehung der biblischen Bücher anzuerkennen und sie als
erstes Glied
[* 11] in der Reihe kirchlicher Litteraturprodukte zu betrachten, schien auch der Gegensatz von Schrift und Tradition seine
Schärfe zu verlieren. Dennoch blieb auch so noch eine principielle Differenz, da der kath.
Begriff einer unfehlbaren Kirche und die unbedingte Autorität derselben gegenüber dem Einzelnen mit der Forderung der prot.
Wissenschaft, die kirchliche Entwicklung als eine echt menschlich-geschichtliche, also niemals absolut vollkommene zu betrachten,
in einem unversöhnlichen Gegensatze steht. Die moderne prot. Orthodoxie hat dagegen nicht nur für das
Schriftwort, sondern auch für die Kirchenlehre die Anerkennung unbedingter, also göttlicher Autorität wieder beansprucht.
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Vgl. H. Holtzmann, Kanon und Tradition (Ludwigsb. 1859).