Totentanz
(lat. chorea Machabaeorum; frz. danse macabre), eine der spätern Zeit des Mittelalters eigentümliche, durch die Bettelmönche gepflegte, durchaus in dem zu Selbstbewußtsein und Emancipation gelangenden Bürgerstande wurzelnde allegorische Dichtung, in welcher das Volk mit kühnem, bitterm Humor über die Ungleichheit des Geschicks auf dieser Erde sich zu trösten, zugleich aber durch Versinnbildlichung des memento mori eine religiöse Erhebung zu gewinnen suchte. So wurde der Tod (s. d.) als ein geschickter Spieler dargestellt, der jedem die angebotene Partie abgewinnt, mit Vorliebe aber als Reigenführer, dessen Zuge jeder Stand und jedes Alter sich anschließen muß, in welcher Eigenschaft er oft als schadenfroher Spielmann vorausspringt.
Kunst und
Dichtung bemächtigten sich des Gegenstandes. Da Tanz und
Drama noch eng verbunden waren, in geistlichen Schauspielen
in und bei
Kirchen auch häufig aufgeführt wurden, entwickelten sich jene
Vorstellungen sehr bald zu dramat.
Dichtung und Schaustellung. Es gestaltete sich ein
Drama einfachster Art, bestehend aus kurzen, meist vierzeiligen Wechselreden
zwischen dem
Tode und ursprünglich 24 nach absteigender Rangfolge geordneten
Personen. Aufführungen solcher Art lassen sich
in
Deutschland
[* 2] und
Frankreich bereits im 14. Jahrh. nachweisen. Wie es scheint, hat man
den sieben Makkabäischen
Brüdern mit ihrer
Mutter und Eleasar (2
Makk. 6, 7). entweder selbst eine hervorragende Rolle darin
zugeteilt oder die Aufführungen zuerst auf deren Gedächtnisfest verlegt. Daher die Bezeichnung Makkabäischer Tanz. In
Frankreich
(«Marché aux innocents»,
«Danse macabre») und England waren im 15. Jahrh. Totentanz
bilder populär.
Eine mannigfaltige und eigentümliche Behandlung fand der Stoff durch deutsche Maler. Eine Wandmalerei in einer Kapelle der Marienkirche zu Lübeck [* 3] von 1463, deren niederdeutsche Verse zum Teil gerettet sind, zeigt noch eine sehr einfache Form ¶
mehr
des Totentanz:
24 menschliche Gestalten, Geistliche und Laien in absteigender Rangordnung vom Papst und Kaiser bis hinab zum Klausner
und Bauer, sowie Jüngling, Jungfrau und Kind, zwischen je zweien derselben eine Todesgestalt, nicht als Gerippe, sondern als
verschrumpfte Leiche mit umhüllendem Grabtuch, ziehen hier nach alter Weise des Tanzes im Reigen, voran
ein einzelner Tod pfeifend und springend. Aus etwas späterer Zeit ist erhalten ein in der Marienkirche zu Berlin
[* 5] mit 28 Paaren.
In den Ausgang des 15. Jahrh. fällt der Totentanz
im Kreuzgange des Klingenthals,
eines ehemaligen Frauenklosters der Kleinstadt Basel,
[* 6] mit 38 Tänzergruppen. Älter sind die frühesten Holzschnittwerke,
die diesen Gegenstand behandeln. Während die Dichtkunst endlich den Stoff zu verschmähen begann, nahm sich desto eifriger
die bildende Kunst seiner an. Aus der Verborgenheit des Frauenklosters trug man den Totentanz
zu Basel
in die Öffentlichkeit
über, indem man ihn an der Kirchhofsmauer des Predigerklosters anbrachte, wo er bald ein Wahrzeichen
der Stadt und Anlaß zur Redensart «Der Tod von Basel"
wurde.
Herzog Georg von Sachsen
[* 7] ließ nach 1534 längs der Mauer am dritten Stockwerk seines Schlosses zu Dresden
[* 8] ein steinernes Relief
von 24 lebensgroßen Menschen- und Todesgestalten ausführen, welches, im großen Brande von 1701 stark beschädigt, auf den
Kirchhof der Neustadt
[* 9] Dresdens übertragen und wiederhergestellt wurde. Berühmter noch ist der Totentanz
, den 1515-21 Nikolaus Manuel
an die Umfassungsmauer der Dominikanerkirche zu Bern
[* 10] mit 41
[* 4]
Figuren malte. Die alten Gemälde zu Basel
und Bern
sind
größtenteils zerstört.
Der berühmteste Totentanz
ist der, welchen Lützelburger nach den Zeichnungen Hans Holbeins (s. d.) des Jüngern
in Holzschnitt ausführte und worin die ganze Anschauung eine völlig neue und wahrhaft künstlerische Gestalt erhielt. Während
man bisher zu schildern gesucht hatte, wie der Tod keinen Stand und kein Alter verschont, lag es Holbein
[* 11] vielmehr daran, zu
zeigen, wie der Tod mitten hereinbricht in den Beruf und die Lust des Erdenlebens. So sah er vom Bilde des
Tanzes ab und gab abgeschlossene Scenen, durchweg von erschütternder Wirkung, so klein an Umfang sie auch ausgeführt sind.
(S. Textfigur 1 u. 2 beim Artikel Holbein der Jüngere.) Auch zeichnete er ein Alphabet mit Totentanz
darstellungen. Im 16., 17. und 18. Jahrh.
entstanden Totentanz
zu Füssen, Konstanz,
[* 12] Luzern,
[* 13] zu Kukuksbad in Böhmen,
[* 14] Freiburg,
[* 15] Erfurt
[* 16] u. s. w. Im 19. Jahrh. behandelte der Maler Rethel den Stoff
in großartiger Weise (s. Tafel: Deutsche Kunst
[* 17] VII,
[* 4]
Fig. 9), neuerdings Hans Mayer, Jos. Sattler, Max Klinger («Cyklus vom Tote»)
u. a.; L. Bechstein in einem Gedicht.
Vgl. Peignot, Recherches sur les danses des morts (Dijon [* 18] und Par. 1826);
Douce, The dance of death (Lond. 1833);
Maßmann,
Litteratur der Totentanz
(Lpz. 1841);
ders., Baseler Totentanz
(Stuttg. 1847);
W. Wackernagels Abhandlung in Haupts «Zeitschrift für deutsches Altertum», Bd. 9, (Lpz. 1853);
Vallardi, Trionfo e danza della morte (Mail. 1859);
Vigo, Le [* 19] danze macabre in Italia (Livorno [* 20] 1878);
Merino, La danza macabre (Madr. 1884);
Seelmann, Die Totentanz
des Mittelalters (Norden
[* 21] und Lpz. 1893);
Jos. Sattler, Ein moderner
Totentanz
(13 Tafeln in Photogravüre, Berl. 1895);
Goette, Holbeins Totentanz
und seine Vorbilder (Straßb. 1897).