Tongking
,
[* 2] franz. Kolonie im nördl. Teil Hinterindiens, bis 1885 annamit. Provinz, grenzt im N. an die chines. Provinzen Kwang-si und Jün-nan, im W. an Oberbirma und Siam, im S. an Annam und das Südchinesische Meer, ist etwa 314760 qkm groß und wird vom Song-ka (chines. Hong-kiang, Roter Fluß) durchströmt, der eine treffliche Wasserstraße nach der chines. Provinz Jün-nan bildet. (S. die Karte: Ostindien [* 3] II. Hinterindien.) [* 4] Das Land wird seiner natürlichen Beschaffenheit nach in das Delta-, nördl. Plateau- und südwestl.
Waldgebiet eingeteilt. Die
Fläche des Deltas wird auf 12800 km geschätzt. Wichtig ist hier die
Bai von
Along und von den vorgelagerten
Inseln die Kebaoinseln mit
Kohlen und Kak-ba mit Fischerei.
[* 5] Das Land im N. hängt mit den chines.
Gebirgen zusammen und fällt steil zum Delta
[* 6] ab; es trägt dichte
Wälder besonders im N., während die östl. Hälfte bebaut
wird.
Schiefer, Sand- und Kalksteine und wenig Porphyr sind die geognostischen
Bestandteile des östlichen Tongking.
Alle sind durchzogen
von Quarz und eisenhaltigen
Adern.
Die bedeutendsten Mineralschätze des Landes sind Kohle, Eisen, [* 7] Kupfer, [* 8] Silber und Gold. [* 9] Die Kohlenbecken zwischen Dong-trieu und Kebao haben eine Länge von 110 und eine Breite [* 10] von 15 km. Wichtig wegen ihrer Kohlen ist die Bai von Hongai, im N. der Alongbai. Kupfer findet sich besonders bei Ke-luim und Than-hoa. Das Klima ist heiß und feucht, besonders vom Mai bis September, wo auch Stürme häufig sind. April und Oktober zeigen Übergänge mit kühlen Nächten. 16,5 und 28,9° C. sind die Temperaturextreme.
Die mit der ind.
Flora große
Ähnlichkeit
[* 11] aufweisende
Pflanzenwelt des südwestlichen Tongking
erscheint wesentlich verschieden von
der des nordöstlichen. An tropischen Fruchtbäumen ist das Land außerordentlich reich, ebenso die
Wälder
an Nutzholz. Der
Reis übertrifft an Güte den von
China
[* 12] und Cochinchina und kommt den bessern Qualitäten Siams vollkommen
gleich. 1892 wurden 1,06 Mill.
Pikul geerntet und meist nach
Hong-kong ausgeführt. Die Kultur des
Zuckerrohrs, der
Baumwolle,
[* 13] des
Thees, des
Maises und besonders des
Opiums haben eine große Zukunft.
Die Kaffee- und Kakaopflanzungen im Hügelland, die Versuche mit europ. Getreide [* 14] haben sich wohl bewährt. Die Viehzucht [* 15] ist ziemlich bedeutend. Seide, [* 16] Papier, Indigo, [* 17] Öl, Zucker, [* 18] Reisbranntwein und Baumwolle werden fabrikmäßig verarbeitet. Das Land zählt 12 Mill. E., von denen 7 Mill. auf das Delta des Song-ka kommen; Christen giebt es etwa 400000. Die Rasse der Einwohner ist dieselbe wie im eigentlichen Annam. Europäer giebt es etwa 1500, Chinesen gegen 10000; die Gebirge bewohnen die Stämme der Moï, Mân, Muong u.s.w., deren Tribus eigene Dialekte sprechen.
Hanoi ist Sitz des Generalresidenten; die 11 Provinzen werden von den Gouverneuren verwaltet unter Beistand von Mandarinen. Der Handelsverkehr hat sich rasch entwickelt. 1891 betrug der Wert der Einfuhr 29,81 Mill. Frs., vor allem Metalle und Maschinen, Garne und Gewebe, [* 19] der der Ausfuhr 15 Mill. Frs. Wichtig ist auch der Küstenhandel (11,4 Mill. Frs.) und die Durchfuhr nach Jün-nan (6,87 Mill. Frs.). Der Verkehr blüht vor allem in den Städten Haï-phong, Nam-dinh, Kwang-jen, während andere, wie Bac-ninh und Son-tai, in ihrer Entwicklung zurückgehen und Hai-dzuong fast schon ganz verschwunden ist. 1891 liefen 197 Schiffe [* 20] (ohne die chinesischen) in die Häfen ein.
Als Kriegshafen ist die Alongbai ausgezeichnet, als Handelshafen steht Haï-phong an erster Stelle. Die Mündungsstellen des Song-ka sind für die Schifffahrt noch wenig geeignet. Er macht durch seine allmähliche Erhöhung des Bettes eine Erhöhung der Dammbauten nötig; bei Hochwasser eintretende Veränderungen des Flußlaufs, mächtige Ablagerungen, wechselnde Tiefenverhältnisse erschweren die Schifffahrt. Die Eisenbahn vom Delta über Lang-son nach Lung-tschou in Kwang-si, die bis zum Si-kiang fortgesetzt wird, ist für die Entwicklung des Verkehrs von großer Bedeutung.
Die Post (1892: 19 Bureaus) wird mit der von Annam verwaltet. Ein submarines Kabel führt nach Hue und nach Hong-kong. Das Budget betrug 1887: 62 Mill. Frs., davon 50 für militär. Ausgaben;
von da an sank es langsam auf 39 Mill. für 1891, wovon nur noch 22 Mill. für militär. Zwecke verwandt werden. 1887 konnte die Kolonie nur 11 Mill. zu ihrem Budget beisteuern, während sie 1890: 20 Mill. dazu abgab.
Das Fehlende mußte Cochinchina und das Mutterland hergeben. 1891 mußte letzteres ein Deficit von 18 Mill. decken, und 1891 mußten abermals 9 und 1897 sogar 21 rückständige Millionen übernommen werden.
Geschichte. Tongking
bildete bis 1802 einen unabhängigen
Staat und kam dann unter annamit. Oberhoheit. 1873 wurde eine franz. Expedition
unter dem
¶
mehr
Schiffslieutenant Garnier nach Tongking
entsendet, die sich der Citadelle von Ha-noi bemächtigte, dann aber zurückgetrieben wurde.
Ein zwischen dem franz. Gouverneur von Cochinchina und der annamit. Regierung geschlossener
Vertrag ließ Tongking
im Besitz des Kaisers von Annam; doch wurde den Franzosen freie Schiffahrt auf dem Roten Flusse
zugesichert. Als chines. Seeräuber den franz. Handel in Tongking
belästigten, sendeten die Franzosen im März 1882 fünf Compagnien
Marinetruppen unter Kapitän Rivière nach Tongking
und bereiteten, nachdem 2. April Ha-noi besetzt worden war, die dauernde Erwerbung
des Landes vor. Der Kaiser von Annam rief nunmehr China, das eine nominelle Oberhoheit über Tongking
behauptete,
um Schutz an, worauf im Sept. 1882 ein chines. Heer von 10000 Mann in Tongking
einrückte.
Am starb der Kaiser von Annam, Tu-duk, ohne Söhne zu hinterlassen, und den Thronstreit, der nun ausbrach, suchten
die Franzosen sich zu nutze zu machen. Am 25. Aug. schloß der zum Generalkommissar für Tongking
ernannte
franz. Generalkonsul Harmand in Hue mit dem neuen Kaiser Hiep-Hoa einen Vertrag, durch den Frankreichs Schutzherrschaft über
Annam festgesetzt und die Provinz Binh-tuan mit der franz. Kolonie Cochinchina vereinigt wurde. Da jedoch die gleichzeitig mit
China geführten Unterhandlungen erfolglos verliefen, so wurde Admiral Courbet angewiesen, die Operationen
mit Nachdruck wieder aufzunehmen, worauf er die Festung
[* 22] Son-tai erstürmte. Nachdem darauf General Millot den Oberbefehl
übernommen und Bac-ninh erobert und die Citadelle von Hung-hoa genommen hatte, hielten die Franzosen beim Eintritt
der Regenzeit alle strategischen Stützpunkte im Delta besetzt.
Diese Erfolge der Franzosen machten Eindruck auf die chines. Regierung, und sie ließ sich zum Abschluß des Vertrags
von Tien-tsin herbei, worin sie alle Rechte auf Annam und Tongking
aufgab, während Frankreich auf seine Entschädigungsansprüche
verzichtete. Darauf schloß Frankreich einen neuen Vertrag mit Annam, der die auswärtige Politik
dieses Reichs völlig unter den Willen des franz. Residenten stellte, die Verwaltung der Zölle, der öffentlichen Bauten u. s. w.
franz. Beamten überließ, Hue und andere wichtige Plätze franz. Truppen einräumte sowie mehrere Häfen freigab, wofür Frankreich
die im vorigen Jahr erhaltenen Provinzen an Annam zurückstellte.
Gemäß den Abmachungen mit China sollte Frankreich den Grenzort Lang-son besetzen dürfen. Bei dem Vormarsch
franz. Truppen kam es jedoch, da die Chinesen das Land noch nicht geräumt hatten, bei Bac-le 23. Juni zu einem Gefecht, in dem
die Franzosen geschlagen wurden. Da Frankreich Entschädigungsansprüche erhob, die China nicht anerkannte, entbrannte der
Kampf von neuem. Aber wenn auch Viceadmiral Courbet den Hafen Ki-lung an der Nordspitze der Insel Formosa blockierte, auf dem
Minflusse die chines. Flotte 23. Aug. in den Grund bohrte und das Arsenal von Fu-tschou zerstörte, die Chinesen ließen sich nicht
einschüchtern, sondern sandten neue Truppen nach Tongking
General Brière de l'Isle, der im Sept. 1884 an Stelle
des Generals Millot den Oberbefehl übernommen hatte, rückte gegen Lang-son vor und schlug 3. und die chines.
Vorhut östlich von Chu. Am 12. Febr. fand bei Lang-son ein sechsstündiger blutiger Kampf statt, worauf die Franzosen die Stadt
besetzten.
Inzwischen hatte
ein aus Jün-nan im Thale des Roten Flusses nach Tongking
eingerücktes zweites chines. Heer die
Festung Tujen-kwang eingeschlossen, die dringend des Entsatzes bedürfte. General Brière de l'Isle sah sich daher genötigt,
sein Korps angesichts eines numerisch überlegenen chines. Heers zu teilen. Er übertrug dem General de Négrier den Befehl
bei Lang-son und zog in Eilmärschen Tujen-kwang zu Hilfe, wo er 2. und 3. März das 20000 Mann starke chines.
Belagerungskorps schlug.
Inzwischen hatte sich die Lage im östlichen Tongking
sehr zum Nachteil verändert. Die Chinesen griffen an verschiedenen Punkten
franz. Garnisonen an, und General de Négrier rückte deshalb 22. März von Lang-son aus gegen That-ke vor,
eroberte nach blutigem Kampfe am 23. bei Bang-bo einige Werke, wurde aber am 24. von den Chinesen entscheidend geschlagen.
Die Franzosen mußten nach Chu und Bac-le zurückgehen, und die Chinesen besetzten Lang-son. Diese Schlappen des Landheers
vermochte die franz. Flotte wenigstens teilweise wettzumachen.
Sie blockierte die Insel Formosa, den Meerbusen von Pe-tschi-li und die Mündung des Jang-tse-kiang und verhinderte die Reiszufuhr
nach dem nördl. China, während es dem Obersten Duchesne gelang, die Feinde aus der Stadt Ki-lung zu vertreiben.
Da beide Teile des kostspieligen Krieges müde waren, wurde auf Grund der im April 1885 vereinbarten Präliminarien 9. Juni der
definitive Friede zu Tien-tsin geschlossen, auf Grund dessen Frankreich Tongking
erhielt, dagegen ohne Kriegsentschädigung die besetzten
chines. Gebiete räumen mußte. So hatten die Franzosen nur noch mit den Schwarzen Flaggen (s. d.) und den Annamiten zu thun,
deren Widerstand der neu ernannte Oberbefehlshaber General Courcy bis zum Mai 1886 niederwarf.
Schon 26. Jan. dieses Jahres hatte die franz. Regierung durch ein Dekret die Organisation
des Protektorats über Tongking
festgestellt; ein Generalresident, der in Ha-noi residiert, und zwei Oberresidenten, die ihren Sitz
in Hue und Ha-noi haben, wurden an die Spitze der Verwaltung gestellt. Schon im Okt. 1887 wurde Tongking
mit Cochinchina,
Kambodscha und Annam zu dem Gebiet Indochina vereinigt und einem Generalgouverneur unterstellt, doch behielt es, wie jene,
seine gesonderte Verwaltung.
Völlig geordnete Verhältnisse konnten jedoch bisher noch nicht in Tongking Platz greifen, da das Land durch Räuber- und Piratenbanden fortwährend beunruhigt wird. Dazu kommt, daß die Einnahmen die Ausgaben lange nicht decken, obwohl Frankreich durch den Bau von Straßen und Eisenbahnen viel für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes thut. Im Juli 1893 wurde Siam durch die Blockade des Menam gezwungen, das linke Ufer des Me-kong als Grenze des franz. Indochina anzuerkennen.
Litteratur. Dupuis, L'ouverture Fleuve Rouge au commerce et les évènements du Tonkin 1872-73. Journal de voyage et de l'expédition (Par. 1879; Bd. 2 der «Mémoires de la Société académique indo-chinoise de Paris»); [* 23]
Bouinais und Paulus, L'Indo-Chine française contemporaine (2. Aufl., 2 Bde., ebd. 1885-86);
Imbert, Le [* 24] Tonkin industriel et commercial (ebd. 1885);
Millot, Le Tonkin (ebd. 1888);
L'affaire du Tonkin, par un diplomate (ebd. 1888);
Lehautcour, Les expéditions françaises au Tonkin (ebd. 1888);
Ferry, Le Tonkin et la mère-patrie (ebd. 1890);
Heinrich Prinz von Orléans, [* 25] Autour du Tonkin (2. Aufl., ebd. 1896);
Rousset de Pomaret, L'expédition du Tonkin (ebd. ¶
mehr
1894); de Lanessan, Le colonisation française en Indo-Chine (ebd. 1895): Chabrol, Opérations militaires au Tonkin (ebd. 1897). -
Carte du Delta du Tonkin, exécutée au dépôt de la guerre (2 Blatt [* 27] im Maßstabe von 1:300000, 3. Aufl. 1885); Berthot, Carte provisorie du Tonkin (4 Blatt, Par. 1890).