Tollhaus
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soviel wie Irrenhaus, s. Irrenanstalten. ^[= (früher auch Irrenhäuser, vielfach auch Asyle genannt), zur ärztlichen Behandlung bez. zur ...]
Tollhaus
6 Wörter, 51 Zeichen
Tollhaus,
soviel wie Irrenhaus, s. Irrenanstalten. ^[= (früher auch Irrenhäuser, vielfach auch Asyle genannt), zur ärztlichen Behandlung bez. zur ...]
(Irrenhäuser), Gebäude zur Aufnahme von Geisteskranken, welche in denselben zweckmäßig beschränkt, verpflegt und ärztlich behandelt werden sollen. Die allgemeinen Erfordernisse einer Irrenanstalt sind teils die eines jeden Krankenhauses (s. d.), teils ergeben sie sich aus den speziellen Zwecken der Anstalt. Sie muß die Beaufsichtigung und Sicherung der Kranken ermöglichen, ohne das Gepräge eines Gefängnisses an sich zu tragen, sie muß daher die Mittel bieten, die verschiedenen Kranken zweckmäßig voneinander zu trennen, und ihnen möglichste Freiheit gewähren, ohne jemals die Gewalt über sie zu verlieren.
Abgesehen von der Trennung der Geschlechter, trennt man auch die verschiedenen Formen und Zustände des Irreseins und erzielt um so bessere Resultate, je weiter eine solche Trennung durchgeführt wird. Man bedarf Wohn- und Schlafräume, Krankenzimmer für bettlägerige Patienten, Räume für gesellige Unterhaltung, religiöse Übungen, Unterricht, Werkstätten, Gärten, Felder etc. Die Zimmer müssen eine Einrichtung zur unbemerkten Beobachtung der Irren und Simulanten besitzen und alle Gelegenheiten zur Selbstbeschädigung der Kranken (Öfen, [* 4] Thürklinken, Haken, Nägel) [* 5] möglichst ausschließen.
Die Fenster werden in verschiedener Weise verwahrt, in neuerer Zeit aber häufig nur mit Glas [* 6] von solcher Stärke [* 7] versehen, daß dasselbe ohne schwere Instrumente nicht zertrümmert werden kann. Abtritte und Badeanstalten erfordern besondere Einrichtungen, und für Tobsüchtige hat man Isolierzellen mit gepolsterten oder dick mit Kautschuk belegten Wänden, so daß die Irren sich nicht beschädigen können. Die Größe der I. schwankt bedeutend, die Zahl der Patienten zwischen 100 und 1200.
Die oberste Leitung einer Irrenanstalt muß einem Arzt überwiesen, und alle übrigen Beamten müssen diesem unterstellt werden. Indessen besteht in manchen, selbst den besten englischen I. diese Einrichtung nur scheinbar; der erste Arzt führt neben der therapeutischen Behandlung nur die Oberaufsicht, und die eigentliche Seele der Anstalt ist der Hausmeister und die Aufseherin oder ein Chirurg. In den meisten französischen Anstalten üben die Barmherzigen Schwestern, indem sie dem Arzt zur Seite stehen, einen wohlthätigen Einfluß aus.
Der gute Zustand der Anstalt und der gedeihliche Erfolg der Bemühungen des Arztes hängen zum großen Teil von der Beschaffenheit des Wärterpersonals ab. Das Durchschnittsverhältnis der Wärter zu den Kranken hat man wie 1:6 angenommen; es ist aber nicht zu übersehen, daß die Kranken höherer Stände mehr unmittelbare Beaufsichtigung, Bedienung und Wartung fordern als die der niedern, und daß zu gunsten jener die Zahl der Wärter für diese nicht verringert werden sollte; denn die Erfahrung lehrt, daß oft die sorgfältigste Behandlung des Wahnsinns nicht eher von Erfolg ist, als bis sie durch die Zuteilung eines besondern Wärters gefördert wird.
Lange Zeit hindurch hat man geglaubt, die freie Bewegung namentlich tobender Irren durch äußere Gewaltmaßregeln beschränken zu müssen. In der Neuzeit sucht man die Tobenden gleichsam nur gegen sich selbst zu schützen; im übrigen aber läßt man die Kranken, selbstverständlich unter sorgfältiger Beaufsichtigung, sich frei bewegen und wendet Zwangsapparate nur in den äußersten Fällen an. Bei manchen Irren, welche Nahrungsaufnahme konsequent verweigern, ist Zwangsfütterung erforderlich.
Das Altertum scheint bei ziemlich richtigen Ansichten über die Geisteskrankheiten besondere I. nicht besessen zu haben. Später verwahrte man die Irren als von Dämonen Besessene auf dieselbe Weise und an denselben Orten wie Verbrecher und belud sie auch wie diese mit Ketten. Die ersten wirklichen I. wurden 1409 in Valencia, [* 8] 1429 in Saragossa [* 9] und 1436 in Sevilla [* 10] errichtet. Dann folgte Stockholm [* 11] 1531, und in Deutschland [* 12] verwandelte Philipp der Großmütige 1533 die Klöster Haina, Merxhausen und Hofheim in I. Es folgten dann weiter England (Bedlam) 1547, die Türkei [* 13] 1560, Frankreich (Charenton) 1645, Rußland 1776 und Österreich [* 14] (Wien) [* 15] 1784. Welcher Art aber die Behandlung der Irren in diesen Anstalten war, geht z. B. daraus hervor, daß das Volk sich noch zu Ende des 18. Jahrh. an den Sprüngen und dem Geheul der Tollen ergötzte.
Erst Pinel (1745-1826) nahm den Irren die Ketten ab, und sein Schüler Esquirol setzte seine Bemühungen fort. Aus Heilung der Irren war man erst seit Anfang dieses Jahrhunderts bedacht. Pienitz in Pirna [* 16] trennte zuerst 1807 die heilbaren Irren von den unheilbaren, und 1811 wurde die Reihe der absolut getrennten Heil- und Pfleganstalten mit der Heilanstalt Sonnenstein eröffnet. In Siegburg [* 17] (Rheinprovinz), [* 18] Sachsenberg (Mecklenburg) [* 19] und Winnenthal (Württemberg) [* 20] folgte man diesem Prinzip, während sonst ¶
das gemischte System beibehalten wurde, auch nachdem Damerow mit seinen »relativ-verbundenen Heil- und Pflegeanstalten« hervorgetreten war und einige Orte dies System acceptiert hatten. Im allgemeinen haben diese Systeme weniger Erfolg gehabt als einige fremdländische, die teils aus finanziellen, teils aus wissenschaftlich-praktischen Motiven in Vorschlag gebracht wurden. Die Kosten für die Irrenpflege haben nämlich eine bedenkliche Höhe erreicht (in den fünf neuen Anstalten der Rheinprovinz beträgt das Baukapital 12,000 Mk. pro Kopf), und die Beobachtungen in den gemischten Anstalten ergeben, daß 35-45 Proz. der Kranken bei geringerer Freiheitsbeschränkung viel besser gedeihen als bei der bisherigen Behandlung.
Bei dem englischen Cottagesystem, welches in Deutschland nur in Bunzlau [* 22] nachgeahmt wurde, werden kleine, getrennte Häuser (cottages) in einfachster, ländlicher Bauart außerhalb der Ringmauern der Anstalt, aber doch noch auf dem Terrain derselben zur Aufnahme von ruhigen Kranken errichtet, welche sich hier unter Aufsicht zuverlässiger Dienstleute mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigen. In dem belgischen Dorf Gheel (s. d.) besteht, angeblich seit dem 7. Jahrh., eine Verpflegung ruhiger, ungefährlicher Irren in einzelnen Familien, während eine geschlossene Anstalt (infirmerie) die Behandlung der Kranken überwacht, das Maß der von ihnen zu fordernden Arbeit normiert und sie, sobald und solange es aus irgend welchen Gründen nötig wird, aufnimmt.
Eine Nachahmung dieses Systems ist offenbar nur in einer spezifischen Ackerbaubevölkerung möglich und scheitert auch dort, wenn nicht eine eigentümliche Befähigung vorhanden ist. In Schottland hat man 30-40 Proz. aller Irren in Familienpflege gegeben, und in Ellen (Bremen) [* 23] besteht seit 1779 eine ähnliche Einrichtung. Auch die Staatsanstalt Illenau in Baden [* 24] bedient sich der Familienpflege gleichsam als Übergang zur völligen Entlassung der Rekonvaleszenten.
Bei dem System der agrikolen Kolonie, zuerst 1847 von der Privatirrenanstalt der Gebrüder Labitte in Clermont ausgeführt, werben ruhige, ungefährliche Kranke auf einem Ökonomiehof untergebracht und bei dem größten Maß von Freiheit mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt. Sicherheitsvorrichtungen [* 25] werden durchaus vermieden, die Kolonie steht aber mit einer geschlossenen Anstalt in Verbindung, in welche Irre mit akuten Aufregungen und körperlichen Krankheiten sofort zurückversetzt werden.
Dies System hat in Einum (Hannover), [* 26] Zschadraß (Sachsen), [* 27] Alt-Scherbitz bei Schkeuditz (Prov. Sachsen) Anwendung gefunden und sehr günstige Resultate ergeben. Für durchaus ruhige, ungefährliche Irre, die bei siechem Körperzustand nicht mehr arbeitsfähig sind, hat man Irrensiechenhäuser gebaut, bei welchen die kostspielige Einrichtung der eigentlichen I. fortfällt. Besondere Schwierigkeiten bietet die Unterbringung der irren Verbrecher, gegen deren Aufnahme sowohl die I. als die Zuchthäuser protestieren. In Irland besteht seit 1850 eine Anstalt für irre Verbrecher in Dundram, welche 150-200 Insassen, darunter ca. 50 Mörder, enthält.
Die 1873 errichtete (einzige deutsche?) Heilanstalt für irre Verbrecher in Waldheim (Sachsen) gelangte zu dem Ergebnis, daß die größere Mehrzahl der irren Verbrecher recht gut in gewöhnlichen I. hätte verpflegt werden können;
daß die Zahl derjenigen, die besonders strenger Beaufsichtigung bedürfen und also besser ins Zuchthaus gehören, äußerst gering war;
daß ferner eine solche Irrenabteilung für ein Zuchthaus eine große Last ist, und daß die Simulationen in derselben sich bedeutend vermehren;
endlich daß in der Mehrzahl der Fälle die Genesungen der Neuerkrankten in der Irrenabteilung des Zuchthauses ebensogut zu ermöglichen sind wie in I., daß aber in vielen Fällen der fortgesetzte Aufenthalt im Zuchthaus die Genesung beeinträchtigt, indem die Halluzinationen gesteigert, die Wahnideen befestigt werden.
Als besondere Form der I. sind noch die psychiatrischen Kliniken an den Universitäten zu nennen, welche aus dem dringenden Bedürfnis und dem gerechtfertigten Bestreben, die Ärzte mehr, als früher geschehen konnte, in der Psychiatrie zu belehren, hervorgegangen sind. Allgemeine Anerkennung haben in neuester Zeit die Heilanstalten für Nervenkranke gesunden, welche die Behandlung aller chronischen Neurosen und leichten beginnenden Psychosen, die noch nicht in die I. gehören, übernehmen.
Die bei weitem größte Zahl der I. sind Staats- oder öffentliche Anstalten, errichtet von der Staatsregierung, von Provinzialverbänden (Ständen) und größern Kommunen. Diesen gegenüber stehen die Privatirrenanstalten, gegründet von einzelnen Personen oder von Genossenschaften, welche sich der Krankenpflege widmen. Diese letztern Anstalten bedürfen einer Konzession von der Verwaltungsbehörde und stehen wie die öffentlichen unter der Kontrolle der höhern Verwaltungsbehörde.
Die Statistik der Geisteskranken weist eine bedeutende Vermehrung der Irren nach, ganz besonders stark aber ist die Zahl der in I. Heilung Suchenden angewachsen und zwar aus dem einfachen Grund, weil sich die Überzeugung immer allgemeiner Bahn gebrochen hat, daß die Irren in den in neuerer Zeit so sehr vervollkommten I. vielmehr Aussicht auf Heilung haben als bei der sorgsamsten Pflege in der eignen Familie. In Frankreich stieg die Bevölkerungsziffer von 1836 bis 1861 um 9,47, die Zahl der in I. befindlichen Kranken um 172 Proz., in England steht einer Bevölkerungszunahme von 45 Proz. (1844-1878) eine Zunahme der Irren in den Anstalten von 250 Proz. gegenüber. In Preußen [* 28] ergab die Statistik folgende Zahlen:
1871 | 1880 | |
Geisteskranke überhaupt | 55043 | 66345 |
Auf 1000 Einwohner Geisteskranke | 22.4 | 24.3 |
Geisteskranke in Irrenanstalten | 11760 | 18894 |
Von 1000 Irren sind in Anstalten | 21.4 | 28.5 |
Am waren 23,547 Geisteskranke in I. untergebracht. Weitere Angaben s. im Art. Geisteskrankheiten.
Vgl. Damerow, Die relative Verbindung der Irrenheil- und Pflegeanstalten (Leipz. 1840);
Brandes, Die Irrenkolonien (Hannov. 1865);
Erlenmeyer, Übersicht der öffentlichen und privaten Irren- und Idiotenanstalten in Deutschland und Österreich (2. Aufl., Neuwied 1875-76);
Derselbe, Übersicht der schweizerischen Irren- u. Idiotenanstalten (4. Aufl., das. 1877);
Derselbe, Die freie Behandlung der Irren in detachierten Kolonien (das. 1869);
Ruëdy ^[richtig: Rüedy], Gheel, oder Kolonie und Asyl (Bern [* 29] 1874), und andre Schriften über Gheel (s. d.);
Lähr, Die Heil- und Pflegeanstalten für Psychisch-Kranke des deutschen Sprachgebiets (2. Aufl., Berl. 1882);
Guttstadt, Krankenhaus-Lexikon für das Königreich Preußen (das. 1886).