Tiersage
,
der Kreis [* 2] der Erzählungen, in denen Tiere als handelnde Personen erscheinen, mit menschlichem Denken, Empfinden und Sprechen ausgestattet. Jedes der Tiere zeigt in ihr stets denselben bestimmt ausgeprägten Charakter; der Fuchs [* 3] ist schlau und hinterlistig, der Hase [* 4] furchtsam, der Bär gutmütig, plump, der Wolf bösartig, aber dumm u. s. w. Poetisch gestaltet wurde die in der knappen Tierfabel, die stets einen didaktischen Zweck hat (s. Fabel), in dem harmlos kindlichen Tiermärchen und in dem breiten, eine größere Anzahl von Tierfabeln zu einem Ganzen vereinigenden Tierepos.
Jakob
Grimm war der
Ansicht, daß die Tiersage
ein Gemeingut der indogerman.
Völker, und daß das
Tierepos ihre älteste und reinste
poet. Form gewesen sei, die sich nur bei den
Germanen rein erhalten habe und von ihnen zu den
Franzosen
und
Niederländern gelangt sei. Neuere Forschungen haben indessen ergeben, daß die deutsche Tiersage
im Mittelalter
auch mit antiken und orient. Fabeln reich versetzt wurde. Daher ist auch in ihr fast immer der Löwe der König der
Tiere,
und sein Verhältnis zum Fuchs kopiert nur das zum ind. Schakal.
Daneben darf freilich nicht verkannt werden, daß in den
Geschichten von
Bär,
Wolf und Fuchs auch starke einheimisch nordeurop.
Bestandteile stecken. Litterarisch tritt die Tiersage
zuerst bei den
Franken auf. Der
Chronist Fredegar (um 640) erzählt die
Tierfabel
vom gegessenen
Herzen, die in polit. Anwendung sich
bis in die Kaiserchronik fortpflanzt, und ein Dichter
vom
Hofe
Karls d. Gr., wahrscheinlich
Paulus Diakonus, behandelte zu Ende des 8. Jahrh. in lat.
Versen, zuerst in
Deutschland,
[* 5] die Fabel vom kranken Löwen,
[* 6]
den der Fuchs heilt, indem er seinen Todfeind, den
Wolf, schinden
und den König in dessen Balg sich einhüllen läßt.
Diese Fabel nun von der Feindschaft zwischen Wolf und Fuchs wurde der Kern, um den sich das Tierepos allmählich zusammenschloß. Dieses ist durchaus keine Volksdichtung, sondern aus Mönchskreisen hervorgegangen und hat von vornherein eine stark satir. Tendenz. Einen ersten Ansatz zum Tierepos bildet die «Ecbasis cuiusdam captivi» (s. Ecbasis), das um 940 entstandene Gedicht eines lothring. Mönchs. Entscheidend für die Ausbildung des Tierepos war dann das Aufkommen von Heldennamen für die wichtigsten Tiere, kurz vor 1112; der Wolf wurde Isengrim, der Fuchs Reinhart, der Bär Bruno genannt; das franz. Wort renard bezeugt heute noch den großen Anteil, den Deutschland an der Ausbildung des Tierepos hatte.
Die älteste Dichtung, in der diese Eigennamen erscheinen, ist der «Ysengrimus» des flandr. Dichters Nivardus, um 1146 verfaßt (hg. von Voigt, Halle [* 7] 1884). Daneben wurden einzelne Tiererzählungen, namentlich in Nordfrankreich, von Klerikern und Vaganten in kurzen Reimgedichten in der Landessprache behandelt; aus diesen sog. branches ward dann der «Roman de Renart» zusammengestellt (hg. von Martin, 3 Bde., Straßb. 1882-87; vgl. Sudre, Les sources du roman de Renart, Par. 1893), der aber nichts weniger als ein einheitliches Ganzes ist.
Glücklicher hat der Elsässer Heinrich (s. d.) der Glichezare oder seine Quelle [* 8] den Stoff einiger branches episch zusammengefaßt. An Wichtigkeit aber übertraf ihn weit Willems niederländ. «Reinaert» (um 1250; hg. von Martin, Paderb. 1874),
der auf der 20. branche des «Roman de Renart» beruht und ein vortreffliches Epos von ruhiger, packender Handlung bildet. Merkwürdigerweise hatte aber eine wenig glückliche moralisch-satir. Erweiterung des 14. Jahrh., ¶
mehr
der sog. Reinaert II, viel größern Erfolg. In der Bearbeitung Hinrics von Alkmar (s. d.), der die (kath.) Glosse hinzuthat, wurde sie die unmittelbare Vorlage des niederdeutschen Reineke Vos (s. d.), worin das niederländ. Original lediglich übersetzt ist. (S. auch Sage.) -
Vgl. Jakob Grimm, Reinhart Fuchs (Berl. 1834);
O. Keller, Untersuchungen über die Geschichte der griech. Fabel (im 4. Supplementband von Fleckeisens «Jahrbüchern für klassische Philologie», 1862);
Krohn, Bär und Fuchs, übersetzt von Heckmann (Helsingf. 1888).