Titel
Thurgruppe
(Kt. St. Gallen
und Appenzell).
Nach dem Artikel
Alpen unseres Lexikons soll unter dem Namen der Thurgruppe
verstanden sein das ganze,
im Grundriss dreieckförmige Gebiet nördl. des
Zürichsee-Walenseethales, westl. des
Rheinthales und südl.
der Linie
Rapperswil-Wattwil-Trogen-Rheineck.
1. Orographischer Charakter.
A. Grenzen. Die Abgrenzung wird im S. und O. durch mächtige, tiefe und relativ alte Flussthäler gebildet, während der geologische Bau auf den andern Thalseiten seine Fortsetzung findet. Nur das Stück zwischen Trübbach und Buchs zeigt zu beiden Seiten des Rheines eine wesentliche Differenz im geologischen Aufbau: die W.-Seite wird von der helvetischen Fazies (Kreide), die östl. von der ostalpinen Fazies mit mächtiger Triasbildung aufgebaut, die auf Flysch überschoben ist. Daher auch der landschaftliche Gegensatz. Besonders auffallend ist die südliche Begrenzung durch den scharfen Einschnitt des Walensee-Zürichseethales. Es ist ein alter Rheinlauf, der dieses breite Thal eingeschnitten hat. Das jetzt noch in den Walensee mündende Flüsschen, die Seez, hat keine Kraft, das Thal zu vertiefen.
Durch zeitweise starke Schlammführung (aus Flysch und Verrucano) vergrössert sie das Delta bei Walenstadt, das gegen den westl. Teil des Walensees vordringt. Bemerkenswert ist, dass der mit Schutt aufgefüllte Thalboden von Sargans bis Walenstadt trotz seiner Breite von 1-2 km ganz horizontal ist und sich dadurch scharf von den steilen Jurafelswänden der N.-Seite abtrennt. Vom Walensee an abwärts verbreitert sich das Thal; es ist charakterisiert durch die weiten sumpfigen Streuflächen, die eine Folge der Schuttanhäufungen von Seiten der Linth sind. Für die ganze S.-Begrenzung von Sargans bis in den Eintritt des Molassegebirges (bei Weesen) ist somit bezeichnend: flacher, tiefer Thalboden (428-450 m), sehr steile, plötzlich aufragende Felswände auf der N.-Seite, weniger steiler und weniger felsiger Anstieg nach der S.-Seite. Von Weesen an abwärts zeigen die Landschaftstypen zu beiden Thalseiten der Linth keine wesentlichen Unterschiede.
Die O.-Grenze, im unteren Teil zugleich Landesgrenze, wird vom Rhein gebildet. Landschaftlich finden wir auf der oberen Strecke von Sargans bis Buchs einen ähnlichen Gegensatz beider Thalseiten wie im Walenseethal: die SW.-Seite wird von sanft gegen den Rhein abfallenden Weiden und Wäldern gebildet, während die östl. Thalflanke z. T. in schroffen Felsen abfällt. Das Rheinthal ist ausserordentlich breit. Von beiden Seiten stossen wilde Bergbäche ihre Schuttkegel gegen den Rhein vor.
Von
Sennwald bis etwas oberhalb
Altstätten durchschneidet der
Rhein die Kreideketten des
Säntisgebirges. Diese werden aber
nicht in einer
Kluse durchkrochen, sondern die Ketten selbst sind staffelartig eingebrochen, und der
Rhein
hat zum Austritt aus den
Alpen den tiefsten Einbruch benutzt. Beide Thalseiten entsprechen sich von hier an abwärts und zeigen
auch die gleichen Landschaftsformen. In einer geologisch noch nicht weit zurückliegenden Zeit waren wohl die Gebirge der
Thurgruppe
im S. und O. durch einen fjordähnlichen
See abgegrenzt, der die heutigen Becken des
Zürich-,
Walen- und
Bodensees zugleich verband.
Die nördl. Begrenzung der Thurgruppe
ist geographisch und geologisch etwas willkürlich und bezeichnet ungefähr die Grenze
zwischen disloziertem und mehr oder weniger horizontal liegendem Molassegebirge.
B. Einteilung. Das ganze Gebiet wird durch den Hauptfluss, die
Thur, in zwei Abschnitte geteilt: Die Säntisgruppe
(im weiteren Sinne) im N. und die Churfirstengruppe (im weiteren Sinne) im S. Geologisch und geographisch natürlicher zerlegen
wir die Thurgruppe
in folgende Untergruppen (von SO. nach NW.):
1) Alviergruppe (bis Voralpsee-Walenstadt im W.);
2) Churfirsten (im engeren Sinne);
3) Mattstockgruppe (Mattstock, Gulmen, Goggeien);
4) Säntisgruppe (Alpsteingebirge);
5) Molassegebirge (Nagelfluhgebirge).
Für die klare Uebersicht dieser 5 Untergruppen sei auf das geologische Dufourblatt IX (1:100000) von Escher und Moesch verwiesen:
C. Gewässer. Der Hauptfluss ist die Thur. Sie fliesst in ihrem oberen Teil in einem weiten, sanften Hochthal (1100-900 m), das geologisch ein Längsmuldenthal in Flysch (Eozän) darstellt und die Säntisgruppe im N. von den Churfirsten im S. trennt. Im Gegensatz zum Rhein- und Walenseethal sind flache Thalböden nur lokal vorhanden und wenig ausgedehnt (z. B. von Alt St. Johann bis Starkenbach). Besonders eigenartig ist die breite und sanfte Wasserscheide zwischen Rhein und Thur beim Dorf Wildhaus (vgl. die Siegfriedkarte 1:25000). Prächtige Quellen aus den Seewerkalken des Säntisgebietes ergiessen sich bei Alt St. Johann in die Thur und machen sie zu einem im Oberlauf meist prächtig klaren Quellfluss.
Von Starkenbach an biegt das Längsthal der Thur zum Querthal um. In scharfem, schluchtartigem Einschnitt hat die Thur den westl. Teil der Säntisketten quer durchsägt. Die rechte und linke Thalseite entsprechen einander völlig; das Thal bildet also auf dieser Strecke geologisch keine Grenze. Bei Stein tritt der Fluss aus dem Säntisgebirge und damit aus den Alpen heraus, um nun in vielfachen Schnellen und kleinen Wasserfällen das gerippte Molassegebirge zu queren.
Fast symmetrisch zur Thur fliesst weiter nordöstl. die Sitter, die ebenfalls als Längsthal im Säntisgebiet ihr Wasser sammelt und dann als Querthal das Molassegebirge ¶
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durchsägt. Kleinere Querthäler im nördl. Molassegebiet sind nordöstl. der Thur diejenigen des Necker und der Urnäsch, die
gleich der Sitter ausserhalb der «Thurgruppe»
in die Thur münden.
D. Gebirgsformen. Jede der von uns aufgestellten 5 Untergruppen hat ihre charakteristischen Formen von Gipfeln und Gräten. In der Alviergruppe ist der Charakter der Gipfel durch den ausserordentlich mächtigen und gleichmässig verwitternden Kieselkalk bestimmt. Scharfe Gräte und Rinnen ohne auffallende Terrassen (exkl. Palfries) führen zu den Gipfeln hinauf, und die Formen gleichen dem Typus des Gneisgebirges. - In den Churfirsten dominiert der mächtige, massige und hellgraue Schrattenkalk; er bildet die Hauptwände der Gipfelschar, die senkrecht südwärts zum Walensee abstürzen. Darüber und darunter ziehen an den Felsen überall begraste mergelige Felsbänder entlang. Rippung und Terrassierung sind für die Churfirstengipfel und ihren schroffen S.-Abfall besonders charakteristisch. - Während aber in der Alviergruppe und noch auffallender in den Churfirsten die Schichtlage fast durchweg schwach nördl. oder nordöstl. einfällt und so eine schroff abfallende S.-Seite von einem sanften nördl. Rücken auffallend absticht, finden wir im Säntisgebirge eine unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Schichtlagen und die verschiedenste Verwitterbarkeit der einzelnen Gesteine. Daraus folgt, dass wir dort neben den Formen der Alvier- und Churfirstengruppe auch noch die mannigfaltigen Gestalten in vertikaler Schichtung antreffen (z. B. die Kreuzberge). - Zu alledem haben Transversalbrüche, die das Gebirge oft messerscharf zerschneiden (z. B. Fählensee), noch eine weitere Mannigfaltigkeit in der Gestaltung der Oberfläche hervorgebracht. - Die wiederum aus den gleichen Gesteinen aufgebaute Mattstockgruppe entbehrt völlig der Einfachheit, wie sie uns im Bau der Churfirstenkette entgegentritt.
Aus rutschigen, hügeligen Flysch-Weiden erheben sich oft plötzlich und unvermittelt wilde Einzelberge, die ebenso rasch wieder enden (Mattstock, Stock, Goggeien). Ueberall zeigt sich in den äusseren Formen der innere Bau, die Jugendfrische der Berge! - Noch auffallender das Molassegebirge, dessen Nagelfluhrippen auf der N.-Seite von Mattstock und Säntis den Alpenketten parallel entlang ziehen. Die härteren Nagelfluhrippen treten als Gesimse hervor, die weicheren Sandstein- und Mergellagen bilden Weiden und Rasenbänder.
2. Touristik.
Die höchsten Gipfel sind in der Säntisgruppe der Säntis (Seewerkalk) mit 2504 m und der Altmann (Schrattenkalk) mit 2438 m.
Von allen Gipfeln der Thurgruppe
wird der Säntis weitaus am meisten bestiegen. Ausserdem sind in der
Säntisgruppe als Exkursionsziele beliebt: Oehrli, Silberplatte, Ebenalp, Hundstein, Hoher Kasten, Roslenfirst-Mutschen, Kreuzberge,
Wildhauser Schafberg etc. (Näheres im Artikel Säntisgebirge). Südl. der Thur wird besonders häufig von Weesen aus der gegen
N. schroff abstürzende Speer (1954 m), der höchste Nagelfluhgipfel, bestiegen, der eine prächtige Aussicht
über das Flachland bietet.
Weit seltener ersteigt man den noch lohnenderen Leistkamm (2105 m), den westlichsten Churfirstengipfel. Die grossartigsten Gestalten sind Frümsel (2268 m), Brisi (2280 m) und Zustoll (2239 m), die leider nicht häufig erklettert werden. Dagegen wird wieder der Hinterrugg (2309 m) als östlichster und höchster Churfirstengipfel sowohl von Wildhaus wie von Walenstadt her häufig bestiegen. In der Alviergruppe steht der Alvier (2345 m) mit seiner sog. Klubhütte auf dem Gipfel und seiner herrlichen Rundsicht allen Nachbargipfeln voran.
3. Klima.
Besonders reich an Niederschlägen ist der Säntis als Haupterhebung der ostschweizerischen Voralpen. Zwischen N.- und S.-Abhang der Gebirgsketten ist sowohl im Säntis wie in den Churfirsten ein gewaltiger Unterschied vorhanden. S.- und N.-Flanke der Churfirstenkette bilden wohl klimatisch einen der schärfsten Gegensätze in der ganzen Schweiz. Während die S.-Seite (mit Quinten als dem wärmsten Ort der N.-Schweiz) im Frühjahr schon trocken, völlig schneefrei und sommerwarm bestrahlt wird, liegt die N.-Flanke noch tief im Winterschnee. ¶
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4. Siedelungsverhältnisse.
Charakteristisch für das ganze Gebiet der Thurgruppe
ist die zerstreute Siedelung. Einzelhöfe, Häuser, Scheunen sind weit
um die Dorfkirche herum zerstreut. Ganz eigenartig erscheinen in dieser Hinsicht die Dörfer Alt St. Johann und Wildhaus im oberen
Toggenburg (Thurthal). Die ausgedehnten Weideflächen sind noch weit vom Dorf entfernt mit Einzelgütern
überstreut. Ebenso auffallend ist das Bergdorf Amden (900 m). Es liegt in der weiten, berühmten Amdenermulde, die den Siedelungen
nach allen Richtungen hin freien Raum gewährt. Vom untersten Wohnhaus des Dorfes (etwa 600 m) bis zum obersten (etwa 1100 m)
hat man 1½ Stunden zu gehen. Die Häuser der Bergdörfer sind fast durchweg aus Tannenholz gezimmert
und geschindelt. Schon nach wenigen Jahren wird die Sonnenseite durch die intensive Bestrahlung tief gebräunt (z. B. Alt St. Johann,
Wildhaus).
5. Vergletscherung.
Zur Zeit ist der einzige Gletscher der Thurgruppe
, der Blauschnee im Säntis, zu einem Firnfleck zusammengeschrumpft. Kleinere
Schneeflecken, die im Frühjahr durch Lawinen genährt werden, vermögen an einigen schattigen Stellen auch in warmen Sommern
nicht ganz abzuschmelzen (z. B. nördl. vom Hinterrugg in den Churfirsten). Während der Diluvialzeit bildete der Säntis das
Zentrum einer eigenen grossen Vergletscherung, des sog. Säntisgletschers. Der eine Hauptarm ergoss
sich dem Sitterthal entlang,
der andere bewegte sich im Thurthal.
Hier bekam er Zuzug von Seitengletschern aus den Churfirsten, deren Moränen sich mit dem «Thurthalgletscher» bei Alt St. Johann
verbinden. Der gewaltige Rheingletscher wurde bei der Wasserscheide von Wildhaus (1100 m) vom Säntisgletscher zurückgehalten
und vermochte nicht in das Thurthal hinab zu dringen. Dagegen umflutete er im S. und O. die ganze Thurgruppe.
Vom Gonzen bei Sargans wurde er in zwei Arme gespalten. Zwingende Anzeichen zur Annahme einer beträchtlichen Glazialerosion
sind in der Thurgruppe
nicht zu finden, wohl aber zeigen alle Formen genau diejenige Gestalt, die sie durch trockene Abwitterung
und Wassererosion annehmen mussten.
Die tektonischen Formen sind nicht modifiziert. Der Fläscherberg wendet eher seine Steilfront dem alten Rheingletscher entgegen, und der Gonzen hat ihn gestaut, ohne abgeschliffen zu werden, sodass noch über 1600 m hoch hinauf Verrucanoblöcke von Ilanz auf die Alp Palfries getragen worden sind. Gegen Schluss der letzten Eiszeit vermochten sich noch bei 1800-2000 m kleinere Gletscherchen (Churfirsten, Mattstock) zu halten, die unbedeutende Moränenwälle angehäuft haben.
In der Region der im Frühjahr lange liegen bleibenden Schneeflecken findet man auch in der Thurgruppe
auf anstehenden massigen
Kalken ausgedehnte Karrenfelder. Die schönsten Beispiele sind: Thierwies (Säntis),
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