Thrazien
(grch. Thrake; lat. Thracia), im Altertum ein Teil der Balkanhalbinsel, doch hat der Name zu verschiedenen Zeiten verschiedene Gebiete umfaßt. In der frühesten Zeit bezeichnete man damit den ganzen Norden Europas oberhalb Griechenlands mit Einschluß von Macedonien im Süden und und ^[2. «und» überzählig] Scythien im Norden; Herodot erklärt die Thrazier für das größte Volk der Welt nächst den Indern. Im engern Sinne wurde die am nördl. Fuße des Olympos gelegene zu Macedonien gehörige Landschaft Pieria als der Wohnsitz eines thraz. Stammes, der Pierischen Thraker, bezeichnet, die von dort aus auch in verschiedene Landschaften von Hellas eingedrungen und gewisse orgiastische Kulte und den Musendienst mitgebracht haben sollen. Später beschränkte man den Namen aus das Land zwischen der Nordgrenze Macedoniens und
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dem Ister (Donau), das im O. durch den Pontus Euxinus (das Schwarze Meer) und den thraz. Bosporus (Straße von Konstantinopel), im S. durch die Propontis (Marmarameer), den Hellespont (die Dardanellenstraße), das Agäische Meer und das nördl. Grenzgebirge Macedoniens, im W. durch den Fluß Strymon und die Wohnsitze der illyr. Völkerstämme begrenzt wird, ein Gebiet mit einem Flächenraum von etwa 220000 qkm. In der röm. Kaiserzeit endlich wurde der Name Thracia auf den südöstlichsten Teil des alten Thrazien südlich vom Hämus (Balkan) beschränkt, der nördlichere Teil aber Mösien (s. d.) genannt. Unter den Gebirgen des Landes ist außer dem Hämus das südlich davon gelegene Rhodopegebirge (jetzt Despoto-Dagh) das bedeutendste. Der im südwestlichsten Teile des Landes, zwischen den Mündungen der Flüsse Strymon und Nestos gelegene Pangäos war im Altertum durch seine Gold- und Silberbergwerke berühmt. An den Küsten T.s waren von den Griechen frühzeitig zahlreiche, zum Teil sehr blühende Pflanzstädte angelegt worden; so an der Südküste, zwischen der Mündung des Strymon und dem Golf Melas, die Städte Amphipolis, Abdera, Dikäa, Maroneia, Mesambria, und in der Nähe der Mündung des Hebros, des bedeutendsten aller thraz. Flüsse (jetzt Maritza), Änos; an der Propontis Perinthos und Selymbria; am thraz. Bosporus Byzanz; an der Westküste des Schwarzen Meers bis zu den Donaumündungen Apollonia, Odessos, Kallatis, Tomi und Istros. Die 75 km lange und gegen 15 km breite Halbinsel zwischen dem Golf Melas und dem Hellespont, die von den Alten Thrazischer Chersonesus genannt und als ein Teil T.s betrachtet wurde (gegenwärtig die Halbinsel der Dardanellen oder die Halbinsel von Gallipoli genannt), wurde von Athen aus unter der Führung des Miltiades, eines Oheims des Siegers von Marathon, kolonisiert.
Abgesehen von den griech. Niederlassungen an der Küste war ganz Thrazien von zahlreichen, meist von Königen beherrschten Stämmen bewohnt, die dem indogerman. Sprachstamm angehörten. Megabazus, der Feldherr des Darius, unterwarf sie der pers. Herrschaft (514 v. Chr.); aber nach dem Rückzüge des Xerxes gewannen sie ihre Unabhängigkeit wieder. Um die Mitte des 5. Jahrh. v. Chr. war die Mehrzahl der thraz. Stämme unter der Herrschaft des Teres, des Königs der Odrysen, zu einem Reiche vereinigt, das besonders durch Teres' Sohn Sitalkes zu hoher Blüte und Macht erhoben wurde, nach dessen Tode (424 v. Chr.) aber in drei Fürstentümer auseinanderfiel, deren Herrscher sich fortwährend untereinander bekriegten. So wurde es dem macedon. König Philipp II., dem Vater Alexanders, leicht, sich in kurzer Zeit die einzelnen Stämme zu unterwerfen und Thrazien dem macedon. Reiche einzuverleiben. Zu diesem gehörte es, bis Macedonien (146) von den Römern endgültig erobert wurde. Für kurze Zeit erhielt Thrazien die Freiheit wieder, kam aber bald (seit 133 v. Chr.) ebenfalls unter die Herrschaft der Römer, die 29 v. Chr. den nördlichern Teil als Provinz Mösia, 46 u. Chr. nach Aussterben der odrysischen Dynastie den südlichern Teil als Provinz Thracia konstituierten. Von Diocletian wurde eine diœcesis Thraciae mit sechs Provinzen eingerichtet. Thrazien trägt geographisch den Charakter eines Durchgangslandes von Europa nach Asien, es hat deshalb fast regelmäßig als Kampfplatz gedient, so oft seit dem Ende der Republik bei innern Streitigkeiten der Westen und Osten des Römerreichs ihre Kräfte maßen. Auch später in der Völkerwanderung und zu den Zeiten byzant. Herrschaft, die der römischen folgte, ist es arg mitgenommen worden; Germanen, namentlich Goten und Slawen, haben hier nacheinander gehaust, bis das Land im 15. Jahrh. von den Türken besetzt wurde, denen es noch jetzt gehört. Die Bevölkerung gehört gegenwärtig zum größten Teil der südslaw. Völkerfamilie an; nur in den Küstenplätzen wohnen Griechen in beträchtlicher Anzahl. - Vgl. H. Kiepert, Lehrbuch der alten Geographie (Berl. 1878); B. Skordelis, Meditationes Thraciae (in griech. Sprache, Lpz. 1877); Kalopotakes, De Thracia provincia romana (Berl. 1893); Tomaschek, Die alten Thraker (Wien 1893-95).