Titel
Theater
[* 2] in
Deutschland
[* 3] 1889-90.
Die wichtigsten Ereignisse in
der Geschichte des deutschen
Theaters während der Jahre 1889
und 1890
sind:
1) die auf dem
Münchener Hoftheater
versuchte Bühnenreform zur Vereinfachung der szenischen
Apparate, 2) die Begründung
privater Bühnenvereine und 3) die Beendigung der Gastspielreisen des
Meininger Hoftheaters
, welches im
J. 1874 den Anstoß zu einer völligen Umgestaltung des deutschen Bühnenwesens in Bezug
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auf äußere Ausstattung mit Dekorationen und Kostümen im Sinn eines geschichtlichen Realismus, auf ein lebendiges Zusammenwirken
zwischen Einzelspielern und Statisten und auf eine natürliche Gestaltung der gesamten szenischen Vorgänge gegeben hatte.
Die von den Meiningern im Laufe von 17 Jahren an vielen Orten ausgestreuten Samenkörner hatten so reiche Früchte getragen,
und ihre Reformen, die im Grunde darauf hinausliefen, aus einem Bühnenwerk ein nach allen Richtungen gleich vollendetes Kunstwerk
zu schaffen, hatten trotz anfänglichen Widerspruchs allmählich so überzeugend und bahnbrechend gewirkt, daß die Mission
der Meininger als vollendet gelten konnte, als der Intendant Chronegk bekannt machte, daß der
Herzog von Sachsen-Meiningen den Beschluß gefaßt, sein Theater
in Zukunft nicht mehr in der bisher üblichen Weise gastieren
zu lassen.
Das erste auswärtige Gastspiel der Meininger hatte im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater zu Berlin
[* 5] mit einer Aufführung
von Shakespeares »Julius Cäsar« stattgefunden, das letzte im Stadttheater
zu Odessa
[* 6] mit einer
Aufführung von Shakespeares »Was ihr wollt«. In diesem Zeitraum hat die Gesellschaft des Meininger Hoftheaters
2591 Vorstellungen
in 36 Städten (in 18 deutschen und 18 fremden) gegeben, bei denen 41 Schauspiele zur Aufführung gelangten, und die eine Einnahme
von 6,322,978 Mk. brachten. Die meisten Aufführungen erlebten »Julius Cäsar« (330) und das »Wintermärchen«
(231) von Shakespeare, »Wilhelm Tell« (223),
»Die Jungfrau von Orleans« (194) und »Fiesco« (152) von Schiller.
Vgl. Richard, Chronik
sämtlicher Gastspiele des herzoglich Sachsen-Meiningenschen Hoftheaters
1874-90
(Leipz. 1890
).
Die guten künstlerischen Grundsätze der Meininger waren in der letzten Zeit von mehreren Bühnenleitern einseitig ausgelegt und nach verschiedenen Richtungen übertrieben worden. Einerseits hatte ein maßloser Prunk in der äußern Ausstattung um sich gegriffen, anderseits war der geräuschvollen Thätigkeit der Statisten, der sogen. Komparserie, in den Volksszenen ein Spielraum überlassen worden, in dem die Leistungen der führenden Darsteller sich nicht mehr frei entfalten konnten, und dieser Übelstand droht schließlich das künstlerische Niveau der Schauspielkunst im allgemeinen herabzudrücken.
Gegen einen dieser Auswüchse richtet sich die von dem Intendanten des Münchener Hoftheaters
unternommene Reform, der durch
ein Zurückgreifen auf den einfachen szenischen Apparat der alten englischen Bühne zur Zeit Shakespeares zunächst den häufigen
Wechsel der Schauplätze in den Dramen Shakespeares, der bei der Einrichtung unsrer modernen Bühne nur nach
jedesmaligem Fallen
[* 7] des Zwischenvorhanges durch zeitraubende Veränderungen hinter ihm herbeigeführt werden kann, vermeiden
und dadurch die Einheitlichkeit der Wirkung des dichterischen Werkes steigern wollte.
Freiherr v. Perfall war zu diesem Unternehmen
durch einige, 1887 in der Münchener »Allgemeinen Zeitung« veröffentlichte Artikel von R. Genée angeregt
worden, die der Verfasser später noch einmal, mit andern auf dasselbe Thema bezüglichen vereint, in Buchform unter dem Titel:
»Die Entwickelung des szenischen Theaters und die Bühnenreform in München«
[* 8] (Münch. 1889
) herausgab. In einem Rundschreiben
an die Mitglieder des Münchener Hoftheaters
und die Zeitungen begründete Freiherr v. Perfall seinen Reformversuch
folgendermaßen: Da die moderne Bühne mit ihrem schweren, äußerst komplizierten Apparat und Mechanismus in einem ganz entschiedenen
Gegensatz zu den Shakespeareschen Dramen steht, die ungeachtet ihrer vielfach verschlungenen und doch so klaren Komposition
ohne Rücksicht auf jeden Mechanismus gedacht und geschrieben sind, so werden wir das anzustrebende Ziel
nur erreichen können, wenn wir eine Bühne schaffen, die in ihrer Einfachheit als eine gewisse Nachbildung der Shakespeareschen
den Dramen dieses Dichters eine freie und uneingeschränkte Entwickelung gestattet.
Die nach dieser Ankündigung eingerichtete Münchener Shakespearebühne (s. Figur), deren praktische Brauchbarkeit zuerst mit einer Aufführung des »König Lear« erprobt wurde, schließt sich insofern an einen 1817 aufgestellten Plan Schinkels an, als sie ein in das Orchester vorgebautes Proszenium angenommen hat und die wechselnden Seitenkulissen wegfallen läßt, an deren Stelle eine bleibende Gardinendekoration tritt, während der Wechsel der Schauplätze durch den Prospekt im Hintergrunde angedeutet wird. In diesem vorgebauten Proszenium sieht Genée die eine der beiden großen Errungenschaften der neuen Shakespearebühne (die andre ist der leichte Szenenwechsel), weil nach seiner Meinung auf diesem Proszenium das Wort des Dichters ganz unvergleichlich mehr zur Geltung kommt als auf der gewohnten, mit allerlei die Aufmerksamkeit ablenkenden Requisiten und Versatzstücken ausgestatteten Bühne. An dieses Proszenium schließen sich nach hinten zwei Bühnenteile an, ein vorderer, der unverändert bleibt (die Vorderbühne), und ein durch drei Stufen erhöhter schmälerer, der in der ersten Kulisse der vorhandenen Bühne beginnt und durch einen Vorhang geschlossen werden kann (die Mittelbühne).
Über die Einzelheiten macht die Schrift Genées folgende Angaben: Die Münchener Bühne, die in der Linie des Hauptvorhangs (vor der Vorderbühne) eine Breite [* 9] von 13½ m hat, ist nach vorn bogenförmig bis über die Hälfte des Orchesters nach dem Zuschauerraum vorgerückt, die Mittelbühne ist 8 m breit und 6 m hoch und hat ebenfalls statt der Seitenkulissen eine feststehende Begrenzung, deren Ein- und Ausgänge, wie die der Vorderbühne, durch Gardinen geschlossen sind. Die ganze Vorderbühne, die unverändert bleibt, zeigt
[* 4] ^[Abb.: Grundriß der Münchener Shakespearebühne. A Beleuchtung, [* 10] B Thüren mit Vorhängen.] ¶
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in den obern Teilen eine gemalte Rundbogenarchitektur. Die Vorderbühne ist in halbdunklem, unbestimmtem Farbenton gehalten.
Wenn der Vorhang der erhöhten Mittelbühne nach beiden Seiten auseinander gezogen wird, sind Vorder- und Mittelbühne
ein einheitliches Ganze, und der Schauplatz erhält reicheres Leben durch die den Abschluß bildende, meist heller beleuchtete
Hintergrunddekoration. Das erhöhte und schmälere Dekorationstheater
gibt in dieser Vereinigung mit
der Vorderbühne den natürlichen Boden für malerische Gruppierungen. In diesen zwanglos sich ergebenden Wechselbeziehungen
zwischen beiden Bühnenteilen liegt (nach Genées Ansicht) der Hauptzweck dieser szenischen Einrichtung.
Einzig bei den wirklichen Abschlüssen fällt der zum Teil zurückgezogene, zum Teil aufgeraffte Hauptvorhang hernieder.
Sämtliche Veränderungen der Szene während der Akte werden entweder durch das Schließen des Mittelvorhangs bewirkt, so daß
dann die nächste kurze Szene auf der Vorderbühne spielt, oder sie geschehen bei gänzlich offener Bühne durch den bloßen
Wechsel des Prospekts im Hintergrunde. Die grundsätzlichen Gegensätze zwischen der neuen Shakespearebühne und der
Dekorationsbühne, wie sie sich jetzt bei uns entwickelt hat, sind nach den Darlegungen von J. ^[Jocza] Savits, dem Regisseur
des Münchener Hoftheaters
(im »Neuen Theater
almanach für das Jahr 1890«
, Berl. 1890
),
folgende: »Die jetzt allgemein übliche
Dekorationsbühne glaubt im künstlerischen Sinne zu handeln, wenn sie jeden einzelnen Ort, an welchem
sich eine Handlung vollzieht, historisch richtig und vollkommen naturgetreu wirklich herzustellen sucht, während die neue
Shakespearebühne sich damit begnügt, den Ort nur anzudeuten, ihn symbolisch zu bezeichnen, um durch die Macht dieses Symbols
den übrigen Theaterraum
, auf welchem sich die Darsteller bewegen, mitsamt dem architektonischen Bau jeweilig in die entsprechende,
vom Dichter gewollte Örtlichkeit geistig zu verwandeln.« Gegen diese Bühneneinrichtung, die allerdings starke Anforderungen
an die Einbildungskraft der Zuschauer stellt, wurde unter andern geltend gemacht, daß sie ein Zurückschrauben der historischen
Entwickelung der Bühne auf einen primitiven Standpunkt bedeute, und daß der Verzicht auf viele Errungenschaften, die die szenische
Kunst mit Hilfe der modernen Maschinentechnik, der Malerei und der verwandten Künste in unserm Jahrhundert
gemacht, in Wirklichkeit ein historischer Rückschritt sei und das Zusammenwirken aller Künste zur Herstellung eines nach
allen Seiten gleich vollendeten szenischen Kunstwerkes, das namentlich von Wagner und seinen Anhängern als das höchste Ziel
der Bühnenkunst bezeichnet wird, unmöglich mache.
In der That ist außerhalb Münchens die neue Bühneneinrichtung (bis März 1891) noch nirgends angenommen worden, während in München die Versuche mit Shakespeares »König Heinrich IV.«, erster u. zweiter Teil, mit »König Heinrich V.« und mit Goethes »Götz von Berlichingen« fortgesetzt wurden, wobei der Obermaschinenmeister Lautenschläger, der die Bühne nach dem Gedanken des Freiherrn v. Perfall eingerichtet hatte, noch mancherlei Verbesserungen und szenische Bereicherungen anbrachte.
Der häufige Szenenwechsel in dem Goetheschen Jugenddrama hatte auch den Direktor des königlichen Schauspielhauses in Berlin,
Otto Devrient, der in dieser Stellung vom bis wirkte, zu dem Versuche einer neuen szenischen
Einrichtung veranlaßt, der er die erste Fassung des Schauspiels unter dem Titel: »Geschichte Gottfriedens von
Berlichingen
mit der eisernen Hand.
[* 12] Dramatisiert« in eigner Bearbeitung (Leipz. 1890
) zu Grunde legte. Für den zweiten, den vierten und
einen Teil des fünften Aufzugs ordnete er eine Zweiteilung der Bühne durch eine Zwischenwand an, wobei
die eine Hälfte der Bühne immer verdeckt blieb, während auf der andern gespielt wurde.
Die Vorteile der raschen Aufeinanderfolge der Szenen wurden aber durch ebenso große Nachteile aufgewogen, da das szenische Bild durch die Zweiteilung zerrissen wurde, die tote Hälfte der Bühne die Illusion der Wirklichkeit mehr störte als förderte und überdies den Schauspielern auf der verengerten Bühne nicht der nötige Raum zur freien Bewegung übrigblieb. Die erfolgte erste Aufführung hatte denn auch einen so geringen Erfolg, daß das Drama nach einigen Wiederholungen wieder vom Spielplan verschwand.
Über die Freien Bühnen s. den besondern Artikel, dem noch nachzutragen ist, daß sich im Januar 1891 in
München eine »Gesellschaft für modernes Leben« gebildet hat, die auch dort eine Freie Bühne ins Leben rufen will. Aus der auf
die Freien und Volksbühnen bezüglichen Litteratur sind hervorzuheben: H. v. Maltzan, Die Errichtung deutscher Volksbühnen,
eine nationale That (Berl. 1889
);
Kaatz, Die Frage der Volksbühnen (Dresd. 1890);
G. Adler, [* 13] Die Sozialreform und das Theater (Berl. 1891);
»Münchener Flugschriften« (hrsg. von M. G. Conrad, Vorsitzendem der Gesellschaft für modernes Leben, München 1891).
Aus der deutschen Theaterchronik der Jahre 1889 und 1890 sind von den übrigen Vorgängen geringerer Bedeutung noch folgende hervorzuheben: Die beiden im Herbst 1888 neugegründeten Buhnen in Berlin, das Berliner [* 14] Theater und das Lessingtheater, hatten sich eines guten Gedeihens zu erfreuen, ersteres vorzugsweise durch die Pflege des klassischen Dramas im Sinne der Meininger, ohne daß Gewicht auf hervorragende Einzelleistungen gelegt wurde, letzteres durch einen abwechselungsvollen Spielplan, in dem besonders das französische Sittendrama und die deutsche realistische Richtung, die in erster Linie durch H. Sudermann vertreten wird, zur Geltung kam.
Sudermanns Schauspiel »Die Ehre« erlebte dort seine erste Aufführung und machte von da die Runde über die meisten deutschen Bühnen. Erheblich geringere Erfolge hatte das zweite Werk des Verfassers, »Sodoms Ende«. Die Nachahmer dieser Richtung, die die Einheitlichkeit des dramatischen Kunstwerkes preisgibt, weil ihre dramatischen Erzeugnisse halb Volksschauspiel, halb Salonkomödie oder -Tragödie sind, wandten sich zumeist dem Deutschen Theater zu, so E. v. Wildenbruch mit seiner »Haubenlerche«, L. Fulda [* 15] mit dem »Verlornen Paradies« und F. Philippi mit dem »Alten Lied«.
Einen nachhaltigern Erfolg als mit diesen ephemeren Erscheinungen hat das Deutsche [* 16] Theater mit einer in die Zeit eines Theaterabends zusammengedrängten Bearbeitung des zweiten Teiles von Goethes »Faust« erzielt, die, von A. L'Arronge durchgeführt, unter dem Titel: »Fausts Tod« am zum erstenmal aufgeführt wurde und bis März 1891: 100 Aufführungen erlebte. Aus der Reihe der ältern Theater Berlins scheidet mit Schluß der Wintersaison 1891 das 1859 erbaute Viktoriatheater, in dem vorzugsweise die Feerie und das Ausstattungsstück gepflegt wurde. Es wird wegen Weiterführung der Kaiser Wilhelmstraße abgebrochen. Einen Ersatz dafür bieten zwei neue Theaterunternehmen, die sich zur Zeit (März 1891) noch in den ersten Stadien der Entwickelung befinden, aber völlig ¶