Taubstumm
heißen diejenigen
Menschen, die infolge ihrer
Taubheit (s. d.) stumm geblieben sind.
Der
Mangel des
Gehörs, die
Taubheit, kann angeboren sein oder wird in den ersten Lebensjahren erworben und zwar entweder noch
bevor die
Kinder überhaupt Versuche zum Sprechen gemacht oder nachdem sie bereits einige Zeit gesprochen haben. Man unterscheidet
hiernach eine angeborene und eine erworbene Taubstumm
heit. Die
Taubstummen sind übrigens zu unterscheiden
von denen, die wohl hören, aber nicht sprechen können, weil ihre
Sprachorgane
(Zunge,
Gaumen,
Stimmbänder u. s. w.) fehlerhaft
gebildet sind, und ebenso sind sie nicht mit jenen Unglücklichen zu verwechseln, die infolge des
Blödsinns stumm sind.
Die Taubstummen sind in den meisten Fällen bildungsfähig und besitzen mit seltenen Ausnahmen fehlerfreie, wenn auch infolge ihres unterbliebenen Gebrauchs in ihrer Ausbildung zurückgebliebene Sprachorgane. Sie vermögen demnach auf künstlichem Wege mit Hilfe der Augen und des Gefühls die Wortsprache zu erlernen. Je geringer der Einfluß ist, den der Mangel des Gehörsinns auf den übrigen Körper ausübt, indem hauptsächlich nur das gänzliche Unterlassen des artikulierten Sprechens die Respirationsorgane nicht hinreichend kräftigt oder übermäßige Anstrengung häufig Krankheiten derselben erzeugt, desto größer ist dieser Einfluß auf den Geist. Das Gehör [* 2] ist der Zeit und dem Werte nach das erste Mittel zur geistigen Bildung; denn die Vorstellungen, die Gesicht [* 3] und Gefühl geben, wirken nicht so tief auf die Seele ein, wie die durch das Gehör erzeugten. Während der Blinde durch sein Gehör jede Idee vom Übersinnlichen zu fassen vermag, die ihm von außen ¶
mehr
zugeführt wird, erhält der Taube durch das Auge [* 5] nur Vorstellungen vom Sinnlichen und ist dadurch lediglich auf Sinnliches hingewiesen.
Der ungebildete Taubstumme denkt nicht, wie der Hörende, in Worten, in Begriffen, sondern nur in Anschauungen und Bildern. Ein klares abstraktes Denken ist ihm unmöglich. Aus diesem Grunde stellte man diese Unglücklichen in frühern Zeiten in gleiche Reihe mit den Blödsinnigen und hielt sie für bildungsunfähig. Auch in sittlicher Beziehung steht der ungebildete Taubstumme auf sehr niedriger Stufe, zumal wenn er in einer Umgebung aufgewachsen ist, die sich wenig um ihn gekümmert oder wohl gar zum Bösen Anleitung gegeben hat. Um sich verständlich zu machen, bedient er sich der Gebärdensprache. (S. Gebärden.) Obgleich dieselbe (namentlich in Frankreich) sehr vervollkommnet worden, so kann sie doch nie die hörbare Sprache [* 6] ersetzen; aber sie ist wichtig als das erste Bildungsmittel des Taubstummen.
Eine höhere Ausbildung des Taubstummen wird jedoch nur durch das Wort möqlich, nur dadurch kann Geist und Herz in ähnlicher Weise wie bei den Hörenden veredelt werden. Es ist dies die schöne, aber schwere Aufgabe des Taubstummenunterrichts (s. d.), dessen Resultate besonders bei befähigten Taubstummen wahrhaft bewundernswert sind. Nicht nur, daß viele dieser gebildeten Taubstummen sich als geschickte Handwerker und Künstler auszeichnen, einzelne unter ihnen sind sogar schriftstellerisch thätig gewesen, wie der verstorbene Karl Teuscher in Leipzig [* 7] und Otto Kruse in Altona. [* 8]
Gelangen auch nur wenige auf eine solche Stufe geistiger Ausbildung, so gelingt es doch bei den meisten, daß sie wenigstens
der Hauptvorteile der Sprache teilhaftig werden. Freilich klingt das Sprechen vieler dieser Armen gewöhnlich
rauh und monoton und beleidigt das an modulierte Sprache gewöhnte Ohr.
[* 9] Die Zahl der Taubstummen läßt sich nicht genau angeben;
man rechnet im allgemeinen 1 Taubstummen auf 1400 Menschen, also 700 auf 1 Mill. Demnach müßten auf der ganzen Erde etwa 1 Mill.
Taubstumme sein, wovon auf Europa
[* 10] 220000, auf Deutschland
[* 11] etwa 30000 kämen. In gebirgigen Gegenden kommt
die Taubstummheit
häufiger als in den mehr ebenen vor. Die männlichen Taubstummen verhalten sich zu den weiblichen wie 4:3;
die bildungsfähigen zur Gesamtzahl wie 3:10. -
Vgl. Hartmann, Taubheit und Taubstumm
enbildung (Stuttg. 1880);
Schmaltz, Die Taubstummen im Königreich Sachsen [* 12] (Lpz. 1884);
Mygind, Taubstummheit
(Berl. 1894).
Für Taubstumme gelten die rechtlichen Vorschriften wie für Taube (s. Taubheit) und Stumme. Besonders vorgeschrieben ist im
Deutschen Strafgesetzbuch §. 58, daß ein angeklagter Taubstummer
, welcher die zur Erkenntnis der Strafbarkeit einer
von ihm begangenen Handlung erforderliche Einsicht nicht besaß, freizusprechen ist. Im schwurgerichtlichen Verfahren ist
deshalb eine besondere Frage zu stellen.