(Publius?) Cornelius, berühmter röm. Geschichtschreiber, geboren um 54 n. Chr., war zuerst mit Auszeichnung
als Sachwalter und Redner in Rom thätig, wurde, wahrscheinlich 79, Quästor, dann, wahrscheinlich 81, Volkstribun oder Ädil, 88 Prätor,
brachte hierauf vier Jahre, 90-94, vielleicht als Statthalter einer Provinz, außerhalb der Hauptstadt zu und
bekleidete 97 das Konsulat. In öffentlicher Thätigkeit erscheint er uns zuletzt 100, wo er mit dem jüngern Plinius, seinem
Freund, in einem bedeutenden Prozeß als Ankläger auftrat. Er starb nach 117. Seine frühste Schrift ist der »Dialogus de oratoribus«,
welcher von den Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit seit der Kaiserzeit handelt, eine geistvolle, leider
lückenhaft auf uns gekommene Schrift, wahrscheinlich um 80 verfaßt, die man Tacitus wegen mancher sprachlicher und stilistischer
Verschiedenheiten von den spätern Schriften mit Unrecht abgesprochen hat.
Hierauf folgten 98 zwei andre kleinere Schriften. »De vita et moribus Agricolae« und die sogen. »Germania« (eigentlicher Titel:
»De origine, situ, moribus ac populis Germanorum«),
ersteres die Lebensbeschreibung seines Schwiegervaters,
letzteres die bekannte, für uns Deutsche ungemein wertvolle, mit bewunderungswürdigem Sinn für die Eigentümlichkeiten
eines Naturvolkes abgefaßte Schilderung des damaligen Deutschland. Des Tacitus beide Hauptwerke aber sind die »Historiae« und die
sogen. »Annales« (eigentlicher Titel: »Ab excessu divi Augusti«),
erstere in 14 Büchern die Geschichte
seiner Zeit von 69 bis 96 n. Chr., letztere, welche später als
die Historien verfaßt und zwischen 115 und 117 herausgegeben
sind, in 16 Büchern die Geschichte des Julisch-Claudischen Hauses von Augustus' Tode (daher der Titel) von 14 bis 69 enthaltend,
so daß beide zusammen ursprünglich die vollständige Kaisergeschichte von Tiberius bis zum Tode Domitians
umfaßten; von beiden sind nur Teile erhalten, von den Historien die vier ersten Bücher und ein Teil des fünften, nicht
volle zwei Jahre, 69-70, umfassend, von den Annalen die sechs ersten (mit einer Lücke zwischen dem fünften und sechsten Buch),
Tiberius' Zeit (14-37), und die sechs letzten (zu Anfang und zu Ende unvollständigen) Bücher, Claudius'
Regierung und Neros Geschichte 47-68. In beiden Werken herrscht die annalistische Anordnung des Stoffes durchaus vor.
Sie beruhen auf eingehenden und umfänglichen Quellenstudien und sorgfältiger Kritik, wenn sie auch hinsichtlich selbständiger
Forschung und genauer Kenntnis aller Verhältnisse, besonders des Militärischen und der Örtlichkeiten,
nicht an einen Thukydides und Polybios heranreichen. Stets bemüht, das Thatsächliche zu ermitteln und vornehmlich die innern
Gründe der Ereignisse aus den Verhältnissen und den handelnden Persönlichkeiten zu erklären, zeigt Tacitus sich
als Meister in der Charakterzeichnung und der psychologischen Analyse.
Seinem Versprechen, ohne Parteilichkeit (sine ira et studio) zu schreiben, getreu, strebt er durchaus nach
einer objektiven Darstellung, und wenn man auch vielfach seine subjektive Ansicht durchfühlt, so darf ihm doch nie absichtliche
Färbung und Entstellung vorgeworfen werden, wie es in neuerer Zeit mehrfach, namentlich in Bezug auf die Schilderung des
Tiberius, geschehen ist (so von Sievers, »Studien zur Geschichte der römischen Kaiser«, Berl. 1870; Stahr,
»Tiberius«, 2. Aufl., das. 1873, u.
in der Übersetzung der ersten sechs Bücher der »Annalen«, das. 1871; Freytag, »Tiberius und Tacitus«, das. 1870). Voll von Bewunderung
für die ehemalige Tugend u. Größe Roms, ist er im Herzen Republikaner, aber ebenso überzeugt, daß das
gegenwärtige Rom wegen des Sittenverfalls, den er aufs schmerzlichste empfindet, die Republik nicht ertrage; daher der entsagungsvolle
und schwermütige, hier und da sogar bittere Ton, der sich, auch ohne durch Worte ausgedrückt zu werden, überall in seinen
Schriften kundgibt. Im Gegensatz zu der heitern Anmut und Fülle seiner Erstlingsschrift wird sein Stil im
Fortschreiten seiner schriftstellerischen Thätigkeit immer ernster und pathetischer und zeigt eine sich steigernde Neigung
zur rhetorischen Färbung und Annäherung an den poetischen Ausdruck; dazu kommt das Streben nach Kürze des Ausdrucks bis zur
epigrammatischen Zuspitzung, das sich am eigentümlichsten und großartigsten in den »Annalen« zeigt.
Die erste, aber noch unvollständige Ausgabe erschien Venedig 1470. Die erste, durch Hinzufügung der sechs ersten Bücher der
»Annalen« vervollständigte Gesamtausgabe ist die von Beroaldus (Rom 1515). Unter den spätern sind hervorzuheben die von Bekker
(Leipz. 1831, 2 Bde.), Ritter (Bonn 1834-1836, 2 Bde.; Cambridge 1848, 4 Bde.), Orelli (Zürich
1846-48, 2 Bde.; neubearbeitet,
Berl. 1877 ff.); Textausgaben von Haase (Lpz. 1855), Halm (4. Aufl., das. 1883) und Nipperdey (Berl. 1871-76, 4 Bde.).
Auch gibt es eine große Anzahl von guten Ausgaben einzelner Schriften des Tacitus, so der Annalen von Nipperdey und Andresen (8. u. 4. Aufl.,
Berl. 1884 u. 1880, 2 Bde.),
der Historien von Heräus (4. Aufl., Leipz. 1885, 2 Bde.)
und Wolff (Berl. 1886 ff.);
des »Dialogus« von Michaelis (Leipz. 1868),
von Andresen (das. 1872 und in
mehr
der neuen Auflage der Orellischen Gesamtausgabe, Berl. 1877 ff.)
und von Peter (Jena 1877); des »Agricola« von Walch (Berl. 1828),
Wex (Braunschw. 1852),
Kritz (3. Aufl., Berl. 1874),
Urlichs
(Würzb. 1875) und Peter (Jena 1876); der »Germania« von Haupt (3. Aufl., Berl. 1869), Kritz (3. Aufl.,
das. 1869), Schweizer-Sidler (2. Aufl., Halle 1874), Holder (Leipz. 1878), Baumstark (das. 1875-80, 2 Bde.).
Unter den deutschen Übersetzungen sind die von Gutmann (4. Aufl., Stuttg.
1869, 5 Bde.) und Roth (4. Aufl., Berl. 1888) hervorzuheben. Als Hilfsmittel für
die Einsicht in den Sprachgebrauch des Tacitus dient das »Lexicon Taciteum«
von Bötticher (Berl. 1830); ein neues, weit vollständigeres ist begonnen
von Gerber und Greef (Leipz. 1877 ff.).
Vgl. Hoffmeister, Die Weltanschauung des Tacitus (Essen 1831);
Dräger, Über Syntax und Stil
des Tacitus (3. Aufl., Leipz. 1882);
Dubois-Guchan, Tacite et son siècle (Par. 1862, 2 Bde.);
Urlichs, De Taciti vita et honoribus (Würzb. 1879).