Sufismus
(Taßawwuf), Name des Systems der Mystiker des mohammed. Orients. Die Anhänger desselben werden Sûfi genannt, d. h. mit Wolle Bekleidete (vom arab. sûf, Wolle), weil angeblich die Mitglieder der ältesten sufischen Kongregationen Kittel aus grobem Schafwollstoff getragen haben. Der S. wurzelt in jener ascetischen Richtung, welche sich in Lehre [* 2] und Leben in vielen Kreisen des orthodoxen Islams bereits in seinem ersten Jahrhundert herausgebildet hat und als deren erster Vertreter Hasan Baßri (gest. 728) zu nennen ist.
Bald sammelten sich die Asceten auch in Klöstern zu beschaulicher Lebensweise und gemeinschaftlichen ascetischen Übungen. Um die Mitte des 8. Jahrh. wurde das erste Derwischkloster in Damaskus gegründet, und um 815 soll ein frommer Mann, Abu Said ibn Abil-cheir, den man gewöhnlich als den eigentlichen Begründer der Sufivereinigungen betrachtet, in Chorassan ein Kloster gestiftet haben. Entscheidend für die Richtung der Entwicklung des S. ist die Einwirkung der pantheïstischen und buddhist.
Lehren, [* 3] welche von Indien her auf den mohammed. Ascetismus eindrangen. Durch den Einfluß dieser Elemente, welche bereits in der zweiten Hälfte des 9. Jahrh. das Wesen des S. bestimmen, entfernt sich derselbe immer mehr von der orthodoxen, streng theïstischen Dogmatik, und zwar in dem Grade als die pantheïstisch-kontemplativen Elemente zum Übergewicht gelangen. In dieser Hinsicht sind bereits im ältern S. zwei Richtungen zu unterscheiden. Die Anhänger des S. im Sinne des Abu Jezid al-Bistami (gest. 875) bekennen unverhüllt den Pantheïsmus, während die Schule des Dschunaid (gest. 909) diese Lehre in eine solche Form zu bringen wußte, daß dabei eine völlige Lossagung vom theïstischen Dogma vermieden wurde. ¶
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Nach der Lehre des S. ist die Welt eine Emanation Gottes, der überall und in allem ist. Gott ist das allein existierende Wesen. Das Ziel des Lebens ist das Aufgehen in Gott. Zu diesem Ziele gelangt man vermittelst verschiedener aufeinander folgender Vollkommenheitsstufen, deren successive Erreichung den Inhalt des Lebens im Sinne des S. bildet. Vom Gesetz ausgehend gelangt man durch stufenweise Vervollkommnung, innerhalb deren den ekstatischen Zuständen (Hal) eine große Rolle zukommt, endlich zur Vereinigung mit Gott, welche das Ziel des S. ist.
Innerhalb der Bestrebungen des S. verliert das Gesetz des Islams sowie das konfessionelle Leben überhaupt allen Wert und alle Bedeutung. Um auf dem Boden des Islams möglich zu bleiben, hat der S. zu einer allegorischen Deutung des Gesetzes seine Zuflucht genommen. Wie hinsichtlich der Formulierung der pantheïstischen Lehre, so bieten die verschiedenen Kreise [* 5] des S. auch hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Ritualgesetz Abstufungen dar. Während die einen sich äußerlich an das Gesetz halten, verkünden andere öffentlich die Lossagung von demselben. Es giebt demgemäß zweierlei Derwischorden, welche, je nach ihrem Verhältnis zum Ritualgesetz, mit dem pers.-arab. Namen Ba-schar (mit Gesetz) und Bi-schar (ohne Gesetz) bezeichnet werden.
Wegen seiner pantheïstischen Lehren sowie auch wegen seines Verhältnisses zu dem Gesetz traten die orthodoxen Theologen dem S. feindlich gegenüber. Dies Verhältnis führte bereits sehr früh zur Verfolgung der Autoritäten der pantheïstischen Ketzerei. Unter diesen ist der berühmteste ein Wollkrempler Namens Hallâdsch, der die Inkarnation Gottes im vollkommenen Menschen lehrte und im pantheïstischen Sinne die Worte sprach: Ich bin die Wahrheit (d. i. Gott).
Seiner Lehren wegen wurde er 922 hingerichtet. Viele orthodoxe Autoritäten, unter welchen Ghazali (s. d.) der bedeutendste ist, bestrebten sich, den Formalismus der mohammed. Gesetzlehre mit sufischen Ideen zu durchdringen, und schufen ein zwischen S. und Islam vermittelndes System. Korporative Vertretung findet der S. in den zahlreichen Orden [* 6] der Derwische (s. d.), welche in ihren Regeln und Lehren die verschiedenen Richtungen des S. darstellen. In ihnen ist aber auch der Mißbrauch hervorgetreten, den arbeitsscheue Menschen und Landstreicher mit den tief angelegten Lehren des S. treiben.
Außer den systematischen Darstellungen seiner Lehren hat der S. die Poesie stark beeinflußt, namentlich die pers. Poesie. Die bedeutendsten Vertreter dieser mystischen Poesie sind Senai, Ferid ed-dîn Attar (der Verfasser des Mantik al-tair), Dschelal ed-dîn Rumi (der Verfasser des Mesnewi), Hafis, Dschami u. a. In der arab. Litteratur ist ihr bedeutendster Vertreter Omar ibn el-Fâridh.
Über die Lehren und Geschichte des S. vgl. Malcolm, History of Persia, Bd. 1 (2. Aufl., Lond. 1829);
Hammer-Purgstall, Geschichte der schönen Redekünste Persiens (Wien [* 7] 1818) und in seiner Ausgabe von Omar ibn el-Faridhs Taije (ebd. 1854);
Silvestre de Sacy in den «Notices et extraits tirés de la Bibliothèque du Roi», Bd. 12 (Paris); [* 8]
Tholuck, Ssufismus
sine teosophia Persarum patheistica (Berl. 1821);
ders., Blütensammlung aus der morgenländ.
Mystik (ebd. 1825);
Garcin de Tassy in der Ausgabe von Izz el-dins Oiseaux et les fleurs und von Ferid ed-din Attars Mantik el-tair (Par. 1863);
Edw. Palmer, Oriental mysticism (Cambr. 1867);
Kremer, Geschichte der herrschenden Ideen des Islams (Lpz. 1868).
Ein kurzes Kompendium der Lehre des S. gab Krehl (Omar ben Suleimâns Erfreuung der Geister, türkisch und deutsch, ebd. 1848) mit Anmerkungen heraus.