Streik
(engl. strike; frz. grève, von einem Platze dieses Namens in Paris, [* 2] auf dem die beschäftigungslosen Arbeiter sich versammelten, um sich nach neuer Thätigkeit umzusehen), Arbeitseinstellung, Ausstand, die gemeinsam erfolgte freiwillige Niederlegung der Arbeit seitens der in einem bestimmten Berufe beschäftigten unselbständigen Personen zur Durchführung günstigerer Arbeitsbedingungen. Sie kommt sowohl innerhalb einer einzigen Unternehmung als auch innerhalb ganzer Industrie-, Handels- und Verkehrszweige in einer Stadt oder einem Staate vor, während S. landwirtschaftlicher Arbeiter eine Seltenheit sind. Das Gegenstück zum S. bildet die Aussperrung (s. d.). Hauptsächlich werden S. unternommen, um höhern Lohn zu erzielen. Doch haben auch Verminderung der Arbeitszeit, Disciplinargewalt der Aufseher, Strafen, Lohnabzüge, Beschäftigung von Lehrlingen oder Kindern, Beschädigung des Materials, der Werkzeuge [* 3] u. s. w. Veranlassung zum S. geboten.
Soweit bis jetzt statist. Angaben darüber vorliegen, ist die Zahl der für die
Arbeiter ungünstig verlaufenen S. größer
als die Zahl derjenigen, die eine Besserung gebracht haben. Im
Deutschen
Reiche waren von etwa 100
Arbeitseinstellungen
des J. 1891 nach Corvey nur 11 für die
Arbeiter günstig verlaufen. In
Italien
[* 4] nahmen von 206 S. in den J. 1872-76 nur 82 einen
für die
Arbeiter günstigen Ausgang. In
England verliefen von 351 S. in den J. 1870-79 nur 71 günstig, von 568 S.
im J. 1892 nur 41,4 Proz., an denen nur 20,6 Proz. der Arbeiterzahl
beteiligt war. In
Frankreich setzten 1893 von 634 S. nur 25 Proz., die 21 Proz. aller
Streik
enden umfaßten, ihre Forderungen vollständig durch; 43 Proz. erfuhren eine gänzliche
Niederlage.
In den Vereinigten Staaten [* 5] von Amerika [* 6] können von 3900 S. (1881-86) nur 46 als erfolgreich bezeichnet werden. Trotz alledem bleibt der S. ein höchst wirkungsvolles Mittel für den Arbeiterstand zur Wahrnehmung seiner Interessen. Daß ein S. die schädlichsten Rückwirkungen auf das gesamte Wirtschaftsleben ausübt, ist eine unbestrittene Thatsache. Natürlich läßt sich der indirekte Schaden, den er durch Verringerung der Konkurrenzkraft, Abgang von Aufträgen u. s. w. herbeiführt, nicht ziffernmäßig berechnen. Aber der direkte Schaden, den er den Arbeitern durch Lohnverlust (s. unten), den Unternehmern durch Entgang von Zinsen, Gewinn, durch Kapitalverlust bringt, ist schon groß genug, um den S. als ein sehr gewagtes Kampfmittel erscheinen zu lassen.
Seit der Bewilligung des Koalitionsrechts (s. d.) wird überall
der S. strafrechtlich nicht mehr verfolgt (vgl. §. 152 der Reichsgewerbeordnung). Dagegen
sind im §. 153 der Reichsgewerbeordnung
Strafen vorgesehen für diejenigen, welche durch Anwendung körperlichen Zwanges,
durch
Drohungen, durch Ehrverletzung oder Verrufserklärung andere zur Niederlegung der
Arbeit zu bestimmen suchen. In
Preußen
[* 7] hat der Ministerialerlaß vom insofern eine Verschärfung bewirkt, als die Polizeibehörden nunmehr auch schon
diejenigen streik
enden
Arbeiter zur
Strafe heranziehen dürfen, welche andere durch Überredung zu bestimmen suchen, die
Arbeit
niederzulegen.
Nach einem Urteil des Reichsgerichts vom ist übrigens öffentliche Aufforderung zum S. gleichfalls strafbar. Um ferner die Arbeitgeber vor der Schädigung durch S., die mit Kontraktbruch verbunden sind, zu schützen, sind in der Gewerbeordnung durch Novelle von 1891 neue Bestimmungen aufgenommen, die freilich erheblich milder sind, als der ursprüngliche Regierungsentwurf. Über die hier besonders in Betracht kommenden §§. 119a und 124b s. Dienstmiete.
Einen großen Einfluß auf die S. haben die Gewerkvereine (s. d.) gewonnen. Die deutsche Socialdemokratie und die «Internationale» haben auf ihren Versammlungen es wiederholt ausgesprochen, daß die S. nur als ultima ratio gegen ungerechte Forderungen anzuwenden seien. Aber trotz der Versicherungen der socialistischen Abgeordneten im Deutschen Reichstage, daß sie keine Freunde der S. seien, scheinen sie mit ihrer Ausbreitung einverstanden. Hauptstätten der S. sind Sachsen, [* 8] Westfalen, [* 9] Franken, Hessen [* 10] einer-, das Unterelbgebiet mit Berlin [* 11] andererseits. Frankfurt [* 12] a. M., Offenbach, [* 13] Leipzig, [* 14] Nürnberg, [* 15] München, [* 16] Berlin und Hamburg [* 17] sind die Brennpunkte. Als das beste Mittel, den S. vorzubeugen, erscheinen die Einigungsämter (s. Gewerbegerichte).
Die Geschichte der S. reicht bis ins 14. Jahrh. zurück. Indessen beruhen die ältern bekannt gewordenen Fälle, abgesehen von den S. in der Buchdruckerei und in den Bauhütten, nicht auf dem Gegensatz von Arbeit und Kapital, sondern waren durch gewisse Mißbildungen des patriarchalischen Verhältnisses, in welchem Meister und Gesellen ¶
mehr
zueinander standen, verschuldet. Eine große Streik
bewegung gab es 1848-49; doch blieb diese namentlich auf Eisenbahnarbeiter,
Buchdrucker und Maurer beschränkt. Häufiger wurden die S. in der ersten Hälfte der sechziger Jahre und besonders seit 1869. Viel
Aufsehen erregten der Leipziger Buchdruckerstreik
von 1865, bei dem 5-600 Setzer die Arbeit einstellten, und
der Waldenburger S. vom bei welchem von 7413 Bergleuten 6409 die Arbeit niederlegten. Der erstere schloß nach neunwöchiger
Dauer mit einem Kompromiß, der letztere schlug gänzlich fehl.
Nach dem franz. Kriege steigerten sich mit der Gründungsära die S. ungemein, und bis 1878 belief sich die Zahl der S. auf Tausende. Die J. 1878-82 waren ruhig, und erst 1882 brach die Bewegung wieder aus. S. von ungeahnten Ausdehnungen zeigten sich 1889. Namentlich das Baugewerbe (in Berlin, mit einem zweimonatigen S. von 20-25000 Maurern und Zimmerleuten), das Braugewerbe und die Bergarbeiter hatten die Arbeit niedergelegt. Der S. der letztern, der umfangreichste, der in Deutschland [* 19] jemals beobachtet ist, brach in Westfalen 8. Mai aus und wies 14. Mai etwa 100000 ohne Kündigung feiernde Arbeiter auf.
Auf Grund eines in Berlin 19. Mai geschlossenen Übereinkommens nahm der größte Teil der streik
enden die Arbeit wieder auf. Der
Erfolg war nur ein geteilter. Umfassender als seit vielen Jahren war die Streik
bewegung von 1896. Namentlich
sind zu nennen der Konfektionsarbeiterstreik
in Berlin, der sich nicht nur auf Lohnerhöhung, sondern auch auf Hinderung der
Betriebsweise und gegen das Sweatingsystem (s. d.) richtete und mit einem partiellen Erfolg der Arbeiter endigte, und der große
Hafenarbeiterstreik
in Hamburg, der 11 Wochen bis dauerte und eine völlige Niederlage
der Arbeiter zur Folge hatte.
Eine amtliche Statistik der S. fehlt im Deutschen Reiche. Dagegen veranstaltet die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands [* 20] seit Jahren eine Statistik, die folgendes Bild liefert:
Jahre | Anzahl der Gewerbe, in denen gestreiktwurde |
Anzahl der Streiks |
Zahl der beteiligten Personen | Dauer der Streiksin Wochen |
Gesamtausgabe | |
---|---|---|---|---|---|---|
1890/91 | 27 | 226 | 38536 | 1368 | 2094922 | |
1892 | 21 | 73 | 3022 | 507 | 84638 | |
1893 | 26 | 116 | 9356 | 568 | 172001 | |
1894 | 27 | 131 | 7378 | 879 | 354297 | |
1895 | 29 | 204 | 14032 | 1030 | 424231 | |
1890/95 | 130 | 750 | 72324 | 4352 | 3130089 |
Über die Zahl der S. in Österreich [* 21] während der J. 1891-95 giebt folgende Tabelle Auskunft:
Jahre | Streiks |
Beteiligte Firmen | StreikendeArbeiter überhaupt |
StreikendeArbeiter in Proz. der Beschäftigten |
Versäumte Arbeitstage |
---|---|---|---|---|---|
1891 | 104 | 1917 | 14025 | 34,64 | 247086 |
1892 | 101 | 1519 | 14123 | 57,36 | 150992 |
1893 | 172 | 1207 | 28120 | 61,75 | 518511 |
1894 | 159 | 2468 | 44075 | 72,58 | 566463 |
1895 | 205 | 869 | 23026 | 60,88 | 297845 |
Nach den Mitteilungen des Pariser Arbeitsamtes wurden in Frankreich von den 405 S. des J. 1895 1258 Etablissements betroffen. 104 Ausstände dauerten nur einen Tag und weniger, 276 nur eine Woche und weniger. Die Zahl der Beteiligten betrug 45 801 (1894: 54 576), die der verlorenen Arbeitstage 617 469 (1894: 1 062 480).
In England wiesen die S. im J. 1895, verglichen mit 1894, sowohl was Zahl oder Dauer anlangt, eine wesentliche Abnahme auf. Es kamen 876 S. vor, an denen 263 758 Arbeiter beteiligt waren, gegenüber 1061 S. und 324 245 Arbeitern im J. 1894. Die Zahl der verlorenen Arbeitstage betrug 5 542000 gegen 9 322000 im J. 1894. Erfolgreich waren 24 Proz. der beteiligten Arbeiter (gegenüber 22 Proz. im Vorjahre), 47 Proz. erzielten teilweisen Erfolg (gegen 34,2 Proz. im Vorjahre), 28 Proz. waren erfolglos (gegen 42 Proz.).
Nach einer Statistik des Arbeiterkommissars in Washington [* 22] sind 1881-94 in den Vereinigten Staaten von Amerika 14 389 S. und Lockouts zu verzeichnen, an denen 69 167 Betriebe mit 3 714 231 Arbeitern und 6067 Betriebe mit 366 670 Personen beteiligt waren. Die Lohnverluste durch S. betrugen 190 493 382 Doll.
Vgl. Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 1 (Jena [* 23] 1890), S. 607-666 (daselbst Litteraturangabe);
Der Arbeiterfreund
, seit 1873 in allen Jahrgängen; G. Natorp, Der Ausstand der Bergarbeiter (Essen
[* 24] 1889);
Bevan, The strikes of the past ten years, 1870-1880);
Schwiedland, Die Arbeitseinstellung in Amerika (in den «Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik», Neue Folge, Bd. 19, Jena 1889);
von Heckel, Zur Statistik der Arbeitseinstellungen in Frankreich (ebd., 3. Folge, Bd. 9, 1895);
Schönlank, Sociale Kämpfe vor 300 Jahren (Lpz. 1894);
die Zeitschrift «Sociale Praxis», früher «Socialpolit. Centralblatt» (Berl. 1892 fg.).