Titel
Strafgeset
zgebung.
Den Ausgangspunkt und die Grundlage der deutschen S. bildet die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (s. Carolina). Sie ist zwei und ein halbes Jahrhundert lang die amtliche Quelle [* 2] für die deutsche Rechtsprechung in Strafsachen gewesen. Ihre letzten Spuren reichen bis zum J. 1871. Damals wurden mit der Einführung des Reichsstrafgesetzbuches die letzten Reste gemeinen deutschen Strafrechts, welche bis dahin noch in beiden Mecklenburg, [* 3] in Schaumburg-Lippe und in Bremen [* 4] bestanden, beseitigt. In Lauenburg [* 5] galt dasselbe noch bis zu der im J. 1876 vollzogenen Einverleibung in Preußen. [* 6]
Die ausschließliche Geltung der Carolina hatte bereits mit dem Ende des 18. Jahrh. ihre Endschaft erreicht. Sie wurde durch die territoriale S. verdrängt. Bis dahin durch Wissenschaft (Benedikt Carpzov, s. d.) und Praxis mühsam fortgebildet, erfuhr sie durch letztere, welche den wechselnden Anschauungen der Zeiten folgte, sehr wesentliche Umgestaltungen in dem Thatbestande der Verbrechen, dem System und den Mitteln der Strafen; Verhängung außerordentlicher Strafen, unkontrollierbare Art der Zumessung führten zu einem Zustande, der von richterlicher Willkür nicht mehr weit ab war.
Die Umwandlung zur modernen S. vollzog sich in der Territorialgesetzgebung nicht ohne den Einfluß der naturrechtlichen
Philosophie
und der Litteratur der
Aufklärung (s. d. und
Beccaria). In diesem
Sinne erging das unter
Joseph II. erlassene
Österr. Strafgeset
zbuch vom J. 1787 und das unter
Friedrich d. Gr. in
Angriff genommene
Preuß. Allg.
Landrecht, das, 1794 publiziert,
in den 1577
Paragraphen (das Deutsche
[* 7]
Reichsstrafgesetzbuch hat deren 370) des 20.
Titels des II.
Teils das
Strafrecht enthält. 1813 folgte
Bayern
[* 8] mit seinem epochemachenden Strafgeset
zbuch, wesentlich ein Werk P. I. A.
Feuerbachs (s. d.). Vom Ende der dreißiger
Jahre an bis zum Beginn der fünfziger waren die deutschen
Bundesstaaten im wesentlichen in den
Besitz von strafrechtlichen
Kodifikationen gelangt. In
Preußen kam nach 25jähriger
Arbeit und nach
Aufstellung von 10 verschiedenen
Entwürfen
das Strafgeset
zbuch vom zu stande.
Knappe und scharfe Umschreibung der allgemeinen Verbrechensbegriffe und der
einzelnen
Thatbestände unter Vermeidung weitgehender Kasuistik, logische
Gliederung der einzelnen Materien zeichnen dasselbe
aus; die Anlehnung an die einfache, klare und bestimmte
Sprache
[* 9] des franz. Gesetzbuches (s. unten) ist unverkennbar.
Bedeutung in der Geschichte
der S. hat das preuß. Strafgeset
zbuch dadurch
erlangt, daß es die Grundlage für das
Reichsstrafgesetzbuch wurde.
Die erste amtliche Anregung zu diesem Gesetz hatte der
auf
Antrag des
Abgeordneten Lasker gefaßte Beschluß des konstituierenden
Reichstags des Norddeutschen
Bundes gegeben, unter
die der Bundesgesetzgebung unterliegenden Angelegenheiten auch das
Strafrecht aufzunehmen. So kam der
Art. 4, Nr. 13, der Bundesverfassung zu stande, welche im
Entwurf das
Strafrecht der gemeinsamen Gesetzgebung noch nicht unterstellt
hatte. Im Laufe von 2 Jahren wurden 3
Entwürfe ausgearbeitet.
Nicht ohne lebhafte Debatten, namentlich wegen Beibehaltung der Todesstrafe, kam das Gesetz zu stande. Es trägt das Datum des und trat zunächst am in Kraft. [* 10] Ein Jahr später, nachdem inzwischen das Deutsche Reich gegründet war, hat es als Strafgesetzbuch für dasselbe (Reichsstrafgesetzbuch) in dessen ganzem Umfange Geltung erlangt. Eine umfassende Reform kam 1876 durch die Novelle vom 26. Febr. zu stande, welche namentlich die Zahl der Antragsdelikte (s. d.) verminderte; andere folgten 1877, 1880, 1888, 1891, 1893, 1894, 1896 (hierdurch Art. 34 des Einführungsgesetzes zum Bürgerl. Gesetzbuch).
Das Reichsstrafrecht geht dem Landesstrafrecht vor. Letzteres ist nur in besondern Vorschriften in Kraft geblieben: einzelne Polizeistrafgesetze, Vereins- und Versammlungsrecht, Forstdiebstahl. Neben dem Reichsstrafgesetzbuch bestehen, sich auf die mannigfachsten Gebiete erstreckend, eine große Zahl strafrechtlicher Nebengesetze des Reiches, von denen die neuesten mit der Socialpolitik zusammenhängen. Sie enthalten im allgemeinen nicht hohe Strafbestimmungen.
Hierher gehören die Gesetze über Nachdruck und verwandte Gebiete; die Zoll- und Steuergesetze (Brau-, Salz-, Tabak-, Branntwein-, Zucker-, Stempelsteuer), die Gewerbeordnung mit ihren Novellen, das Handelsgesetzbuch, das Sprengstoffgesetz, die Gesetze, betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Kranken-, Unfall- ^[Beistrich fehlt] Alters- und Invaliditätsversicherung, das Impf-, Nahrungsmittel-, Rinderpest-, Viehseuchen-, Reblaus- und Weingesetz, die Gesetze, betreffend Verkehr mit blei- und zinkhaltigen Gegenständen, mit Butter, Käse, Schmalz und deren Ersatzmitteln und betreffend Verwendung gesundheitsschädlicher Farben, das Vogelschutzgesetz, die Patent-, Marken-, Musterschutz-, Münzgesetze, das Gesetz zur Bekämpfung des unlautern Wettbewerbs, das Börsen- und das Depotgesetz, das Gesetz betreffend die Abzahlungsgeschäfte, die Seemanns- und Strandungsordnung, die Not- und Lotsensignalordnung, die Verordnungen zur Verhütung des Schiffszusammenstoßes und über das Verhalten nach einem Zusammenstoß, das Gesetz, betreffend die Schiffsmeldungen bei den Konsulaten des Deutschen Reichs und das zum Schutz der unterseeischen Telegraphenkabel, der internationale Vertrag, betreffend die Regelung der Fischerei [* 11] in der Nordsee, das Gesetz, betreffend die Nationalität der Kauffahrteischiffe und das Gesetz, betreffend die Verpflichtung deutscher Kauffahrteischiffe zur Mitnahme hilfsbedürftiger Seeleute, das Auswanderungs- und das Sklavenraubgesetz, das Post-, Telegraphen-, Binnenschiffahrts-, Flößerei- und das Preßgesetz, das Militärstrafgesetzbuch, das Rayongesetz, das Gesetz über die Kriegsleistungen, gegen den Verrat militär. ¶
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Geheimnisse und über den Schutz der Brieftauben u. s. w. (S. auch Strafrecht.)
Auch die außerdeutsche S. hatte sich seit dem zweiten Drittel des Jahrhunderts stetig fortentwickelt. Sämtliche europ. Staaten, mit Ausnahme von England und einigen Schweizerkantonen, besitzen jetzt Kodifikationen; von den außereurop. Kulturvölkern haben die meisten S. neuern Datums, welche sich überwiegend an europ. Vorbilder anlehnen. Die außerdeutsche S. sondert sich in 3 Gruppen: I. Staaten mit vorwiegend german. Recht, II. Staaten mit vorwiegend roman. Recht, III. Staaten mit andern Rechten.
I. Zur ersten Gruppe gehören:
1) Österreich [* 13] und Fürstentum Liechtenstein, [* 14] Strafgesetzbuch vom eine Revision des Strafgesetzbuches vom das wiederum eine verbesserte Ausgabe des Josephinischen Gesetzbuches vom ist, durch Einzelgesetze vielfach ergänzt und geändert, im Strafsystem gemildert (Kerkerstrafe mit Eisen [* 15] und körperlicher Züchtigung). Seit 30 Jahren ergebnislose Gesetzgebungsarbeit, neuester, wesentlich dem Deutschen Strafgesetz nachgebildeter, aber infolge Rücktritts des Ministeriums Taaffe unerledigt gebliebener Entwurf von 1889 und 1893. 2) Südosteuropäische Staatengruppe: Kroatien und Slawonien mit Österr.
Strafgesetzbuch, desgleichen Bosnien [* 16] und Herzegowina (seit 1881), Ungarn [* 17] mit dem dem Deutschen nachgebildeten Strafgesetzbuch von 1878, Serbien [* 18] mit dem dem Preuß. Strafgesetzbuch von 1851 nachgebildeten Strafgesetzbuch von 1860, Griechenland [* 19] mit dem dem Bayr. Gesetzbuch nachgebildeten Strafgesetzbuch von 1833. (Türkei [* 20] und Rumänien gehören zur zweiten Hauptgruppe.) 3) Die deutschen Schutzgebiete, in denen das Deutsche Strafgesetzbuch und die sonstigen Bestimmungen der deutschen Strafgesetze Geltung haben (Gesetz vom 4) Die Schweiz. [* 21] Sie hat kein einheitliches Bundes-Strafrecht, es gelten 22 kantonale Strafgesetzbücher, einige Kantone haben gar kein geschriebenes Strafrecht; die Vorarbeiten für eine einheitliche S. sind bis zu einem von Professor Stooß verfaßten und einer Expertenkommission beratenen Vorentwurf von 1896 gediehen, der, dem ital. Strafgesetz nachstrebend, zum Teil die Anschauungen moderner Kriminalpolitik zu verwirklichen vorschlägt.
5) Holland und Niederländisch-Indien, ersteres mit dem Strafgesetzbuch vom (bis dahin galt franz. Recht), einem Produkt des nationalen Rechtsbewußtseins, zugleich dem aufs beste ausgearbeiteten Ausdruck zeitgenössischer Wissenschaft; letzteres mit einem Strafgesetzbuch von 1866 für Europäer (neuer Entwurf von 1891) und einem Strafgesetzbuch von 1872 für Inländer.
6) Der skandinavische Norden. [* 22] Ein Strafgesetzbuch von 1812 gilt mit Abänderungen von 1866, 1874, 1889, 1890 in Norwegen, [* 23] wo übrigens der Entwurf eines neuen ausgearbeitet ist, eins von 1864 mit Abänderungen in Schweden; Dänemark [* 24] besitzt ein Strafgesetzbuch von 1866, Finland ein solches vom welches in Kraft trat.
7) Staatengruppe mit englischem Recht (England, Indien, Australien, [* 25] Malta, Canada, Nordamerika). [* 26] A. England. England mit Irland besitzt zwar noch kein allgemeines Strafgesetzbuch, nichts destoweniger beruhen die meisten Strafbestimmungen und ein großer Teil der Definitionen der Delikte heute nicht mehr auf Gewohnheitsrecht (Common Law), sondern auf vielen einzelnen Gesetzen (Statute Law), unter welchen die fünf Consolidation Acts von 1861 hervorragen, welche Diebstahl, Unterschlagung, Raub, Untreue u. s. w., Sachbeschädigung, Fälschung, Falschmünzerei, Mord, Körperverletzung, Sittlichkeitsverbrechen, Verleumdung behandeln.
Freilich sind diese Einzelgesetze nicht eben glücklich abgefaßt. So vermag Stephen, der bedeutendste aller engl. Kriminalisten und der Verfasser des Entwurfs einer Strafrechtskodifikation von 1878, von dem Diebstahlsgesetz des J. 1861 zu sagen, es sei «eins der verwickeltsten, schwerfälligsten und auf den ersten Blick trostlos unverständlichsten Erzeugnisse gesetzgeberischer Thätigkeit, welchen ich je begegnet bin. Es besteht aus 123 Artikeln und ist, wie ich glaube, beinahe ebenso umfangreich wie das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich».
Und doch beruht die Definition des Diebstahls wie des Mords noch auf Gewohnheitsrecht. Daß eine ziemlich frei schaffende Rechtsprechung dritte Rechtsquelle ist (Case Law), erscheint hiernach als selbstverständlich. Der 1879 dem Parlament vorgelegte Entwurf Stephens scheiterte, weil sich keine der polit. Parteien für eine Reform interessierte, die sich nicht in leicht verständlichen Schlagworten zusammenfassen ließ. Es fehlt in England eben der Einfluß einer entsprechenden strafrechtlichen Wissenschaft. In Schottland gelten nicht einmal die Konsolidationsgesetze von 1861; hier herrschen Gewohnheitsrecht und Gerichtsgebrauch fast noch ausschließlich. B. In Indien gilt das Strafgesetzbuch von 1860, bei dessen Abfassung Stephen wesentlich beteiligt war; es bildet die Grundlage für das Strafgesetzbuch für Singapur [* 27] und die Straits Settlements (vom C. Engl. Recht liegt auch den Strafgesetzbüchern der engl. Kolonien in Australien (aus den J. 1876, 1883, 1886) zu Grunde. D. Die Vereinigten Staaten [* 28] von Amerika, [* 29] deren Strafrecht sich wesentlich an das englische anlehnt, besitzen keine erschöpfende gemeinsame S. Einzelne Staaten haben den Versuch einer Kodifikation gemacht, voran Neuyork [* 30] mit dem in Kraft getretenen, später mehrfach abgeänderten Strafgesetzbuch, dessen Systematik und Einzelbestimmungen nicht unangefochten geblieben sind.
II. Zur zweiten Gruppe gehören:
1) Frankreich mit dem Code pénal Napoleons vom J. 1810, hervorragend durch seine technische Vollendung: Bündigkeit der Sprache, Schärfe des Ausdrucks und Klarheit des Systems. Durch eine Reihe von Gesetzen sind wesentliche Änderungen herbeigeführt (s. Code Napoléon). Seit 1887 ist eine Reform der S. in Vorarbeit. Der Entwurf einer im Justizministerium gebildeten Kommission liegt fertig vor. In den franz. Kolonien ist der Code pénal seit 1877, 1878 und 1880 eingeführt. In Belgien [* 31] gilt er in der vereinfachten und verbesserten Form des Code pénal belge von 1867, welcher wiederum noch vereinfacht 1888 im Kongostaat [* 32] und, wenig modifiziert, 1879 in Luxemburg eingeführt ist. Unverändert oder fast unverändert ist das franz. Gesetz in Monaco [* 33] (1875) und in Rumänien (1874) in Kraft, während in der Türkei und in Bulgarien (ein Entwurf Stoilows nach holländ.-ungar. Muster von 1888 ist nicht Gesetz geworden) das im Geiste franz. Rechts verfaßte türk. Gesetzbuch (The Ottoman Penal Code vom 28. Zilhidžé 1274, d. i. von 1858: Übersetzung von Walpole 1888) gilt, wozu jedoch in Bulgarien ein dem gleichen russ. Gesetz ¶
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nachgebildetes Gesetz über die Strafen, welche die Friedensrichter verhängen können, also über geringere Delikte, von 1880 kommt. In Ägypten [* 35] gilt für die Eingeborenen ein Strafgesetzbuch von 1883, für die gemischten internationalen Gerichtshöfe ein solches von 1875, von dem übrigens das für die Eingeborenen nur wenig abweicht.
2) Das spanische Rechtsgebiet: Spanien [* 36] und die span. Kolonien (Código penal 1848, revidiert 1871, neuer Entwurf von 1884), Portugal (Gesetz von 1852, in den Bearbeitungen von 1884 und 1886), die südamerik. Staaten.
3) Italien [* 37] mit dem seit in Kraft getretenen Strafgesetzbuch vom (Codice penale per il regno d'Italia), welches einerseits die Grundsätze der neuesten Strafrechtswissenschaft praktisch macht (Strafmittel mit erziehlicher Tendenz, Verweis mit Friedensbürgschaft, Hausarrest, Straf-, Ackerbau- und Industrieanstalten, Kriminal-Verwahrungshäuser), andererseits hohe Freiheits- und Geldstrafen, strenge Strafbestimmungen bei Amtsvergehen, Erhöhung der Strafe bei Rückfall, zweckmäßige Behandlung der Trunkenheit als Strafzumessungsgrund mit Scheidung der Gewohnheitstrinker u. s. w. einführt. San Marino besitzt ein Strafgesetzbuch von 1865.
III. Zur dritten Gruppe gehören:
1) Rußland. In Geltung ist das Strafgesetzbuch von 1845 in der Fassung von 1885 (voraus geht eine Revision von 1866), wozu ein besonderes Gesetzbuch über Strafen, die von den Friedensrichtern verhängt werden (in jetzt gültiger Fassung von 1885, früher 1865), kommt. Dazu kommen eine Reihe abändernder Gesetze und Specialgesetze neuester Zeit. In Bearbeitung ist ein Entwurf, welcher sich wesentlich an deutsche, jedenfalls westeurop. Gesetzgebung anschließt und an welchem Tüchtigkeit der wissenschaftlichen Grundlage, Kürze, Genauigkeit und Deutlichkeit der Sprache gerühmt wird.
Die Todesstrafe wird für entbehrlich gehalten, ist aber event. für schwere Staatsverbrechen in Aussicht genommen; die Deportation auf unbeschränkte Zeit ist beibehalten für solche Handlungen, «welche keine sittliche Verkommenheit bekunden, sondern ihren Grund in Verirrungen, Sichhinreißenlassen, in gesellschaftlichen Vorurteilen oder Fanatismus haben, welche Gewohnheit zum Müßiggang und lasterhaften Lebenswandel nicht verraten». (Die Verschickung polit. Verbrecher auf administrativem Wege bleibt unberührt.) 2) Montenegro.
Gesetzbuch Daniels I. vom besonders bemüht, die Blutrache (s. d.), welche sich dort bis auf die Gegenwart erhalten hat, zurückzudrängen, ist fast ganz durch Gewohnheitsrecht abgeändert oder beseitigt. Gewohnheitsrecht beherrscht die Rechtsbildung und hat die Blutrache erhalten, begreiflich bei einem äußerst konservativen Gebirgsvolke, das erst seit einem Menschenalter in europ. Kultur getreten ist. Dem montenegrin. Bluträcher erscheint die Blutrache als religiöse und heilige Pflicht; deshalb genügt ihm eine etwaige staatliche Bestrafung nicht.
3) Japan [* 38] hat seit 1881 ein wesentlich der westeuropäischen S. sich anschließendes Gesetzbuch (engl. Übersetzung 1882); bereits liegen Revisionsentwürfe vor.
4) China. Die älteste S. datiert aus dem Zeitalter Yüs, des Stifters der Hiadynastie (2207 v. Chr.). Er statuierte die 5 Strafen: Brandmarkung im Gesicht, [* 39] Abhauen der Nase, [* 40] die Palaststrafe (Kastrieren der Männer, Einsperrung der Frauen), Abschneiden der Füße, Tod. Elf Jahrhunderte später der Tscheuli, Strafgesetzbuch für die einzelnen Beamtenklassen und Ordnung der Gesetzesübereinstimmung und -Publikation. Das heutige Strafensystem findet sich bereits in der Gesetzgebung der Suidynastie (6. Jahrh. v. Chr.), und das heute maßgebende Strafgesetzbuch ist der Tatsinglüli, das Gesetzbuch der mandschurischen Tsingdynastie (seit 1644). Strafen sind: Züchtigung mit dem Bambus (groß und klein), Verbannung (zeitige und immerwährende), Tod (Enthauptung und Erdrosselung).
Spuren des Blutracherechts finden sich in der Bestimmung, daß Sohn und Enkel den Mörder des Ascendenten unmittelbar nach der That straffrei töten dürfen, und daß dem Ehemann gegenüber der ehebrecherischen Frau und dem Ehebrecher ein Tötungsrecht in flagranti zusteht. Ferner sind festgesetzt: Todesstrafe für das Kind, das Vater, Mutter oder die väterlichen Großeltern schlägt, für den Incest innerhalb gewisser Verwandtschaftsgrade, für Grabschändung durch Leichenenthüllung, für erheblichere Beamtenbestechung, Erpressung und Pflichtverletzung.
Bambusstrafe für Verletzung der Verwandtschaftspflicht durch Unterlassung der gebotenen Familientrauer (3 Monate bis 3 Jahre), für Verlassen von gebrechlichen Ascendenten und für Verletzung der Vorschriften über Beerdigung. Strafbar ist auch, und das erinnert an die neueste deutsche Socialgesetzgebung, der Beamte, welcher für einen krank gewordenen Arbeiter bei öffentlichen Werken nicht sorgt, und überhaupt muß für Witwen, Waisen und Gebrechliche Fürsorge getroffen werden, sobald sie keine Verwandte haben, welche sie unterstützen können.
Die internationale kriminalistische Vereinigung hat eine rechtsvergleichende Darstellung der S. der Gegenwart in Angriff genommen, wovon der erste Band: [* 41] «Das Strafrecht der Staaten Europas», hg. von von Liszt (Berl. 1894), bereits erschienen ist. Er zeigt, daß trotz aller lokalen, polit., religiösen, sittlichen und histor. Unterschiede in der Hauptsache alle europ. Strafrechte von denselben Grundgedanken beherrscht sind. Im kleinen sind diesem Werke ähnlich die von Stooß verfaßten «Grundzüge des (bisherigen kantonalen) schweiz. Strafrechts» (2 Bde., Basel [* 42] und Genf [* 43] 1892 u. 1895).
Vgl. von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts (8. Aufl., Berl. 1897),
und die dort citierte Litteratur; Wachenfeld, Die Begriffe von Mord und Totschlag in der Gesetzgebung (Marb. 1890): Geyer und Merkel in von Holtzendorffs «Encyklopädie der Richtswissenschaft» ^[richtig: Rechtswissenschaft] (5. Aufl., Lpz. 1890): Stephen, Über den gegenwärtigen Stand des engl. Strafrechts (in der «Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft», Bd. 1; in dieser Zeitschrift auch über andere neue ausländische Entwürfe, z. B. über den Rußlands, Bd. 3, 4, 6);
S.Mayer, Entwurf eines Strafgesetzbuchs für England, Separatabdruck aus der Gerichtshalle (Wien [* 44] 1878);
Aschrott, Strafensystem und Gefängniswesen in England (Berl. und Lpz. 1887): Wesnitsch, Die Blutrache bei den Südslawen (in der «Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft», Bd. 8 u. 9, Stuttg. 1888 u. 1889);
Kohler, Das chines. Strafrecht (Würzb. 1886);
Post, Grundriß der ethnolog.
Jurisprudenz (2 Tle., Oldenb. und Lpz. 1894 u. 1895); Stenglein, Appelius und Kleinfeller, Die strafrechtlichen Nebengesetze des Deutschen Reichs (2. Aufl., Berl. 1895); Abhandlungen in der «Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft» und im «Jahrbuch der internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre». ¶